Verwaltungsrecht

Ausweisung aufgrund Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung

Aktenzeichen  M 12 K 16.2418

Datum:
8.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3, Art. 8
GG GG Art. 6 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 11 Abs. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55, § 81 Abs. 4
AsylG AsylG § 13 Abs. 1, § 14
ARB 1/80 ARB 1/80 Art. 7 S. 1, Art. 14 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen besonders schwerer Straftaten, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße beeinträchtigen, rechtfertigt die Annahme, von dem Ausländer gehe eine hinreichend schwere gegenwärtige Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft aus. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG ersetzt nicht den tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG; sie hat lediglich besitzstandswahrende, nicht aber rechtsbegründende Wirkung. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 8. Dezember 2016 entschieden werden, obwohl der Kläger nicht persönlich erschienen ist. Denn der Kläger ist form- und fristgerecht geladen worden und war von einem Prozessbevollmächtigten vertreten. Das persönliche Erscheinen des Klägers war nicht angeordnet.
Ein Vorführersuchen zur mündlichen Verhandlung am 8. Dezember 2016 war nicht veranlasst. Grundsätzlich ist es Sache der Beteiligten, sich um die Vorführung durch die zuständige Justizvollzugsanstalt zu kümmern. Zwar unterstützt die Kammer in der Regel die Teilnahme in Haft befindlicher Beteiligter durch ein Vorführersuchen, da regelmäßig davon auszugehen ist, dass diese an der Hauptverhandlung teilnehmen wollen. So geschehen auch im vorliegenden Fall hinsichtlich der Verhandlung am 20. Oktober 2016. Nachdem der Klägerbevollmächtigte jedoch zur Verhandlung am 8. Dezember 2016 einen Einzeltransport mit der Begründung beantragt hat, dass der normale Schub mit großen Strapazen für den Kläger verbunden sei, gerichtliche Gründe für einen Einzeltransport aber nicht bestanden, war unklar, ob der Kläger unter diesen Umständen angesichts der Strapazen an der Verhandlung teilnehmen möchte bzw. möglicherweise von einer Teilnahmepflicht ausgeht. Er wurde daher mit Schreiben vom 8. November 2016 darauf hingewiesen, dass gerichtliche Gründe für einen Einzeltransport nicht bestehen, sein Erscheinen bei der mündlichen Verhandlung aber auch nicht zwingend erforderlich ist. Für den Fall, dass er dennoch teilnehmen möchte, wurde ihm die Unterstützung durch ein Vorführersuchen angeboten und um entsprechende zeitnahe Mitteilung gebeten. Eine derartige zeitnahe Mitteilung ist nicht erfolgt, obwohl das Schreiben vom 8. November 2016 dem Klägerbevollmächtigten zugegangen ist und er es – wie er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – auch dem Kläger weitergeleitet hat.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Die in Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 15. April 2016 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
Rechtsgrundlage der Ausweisungsverfügung sind §§ 53 Abs. 1 bis 3, 54 f. AufenthG. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Zu Gunsten des Klägers geht die Kammer mit der Beklagten davon aus, dass er ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) erworben hat. Gem. § 53 Abs. 3 AufenthG darf der Kläger daher nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Damit gibt die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG die Voraussetzungen wieder, die nach ständiger Rechtsprechung (z.B. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08 Ziebell – juris Rn. 80; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten (vgl. auch BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 13).
In der Rechtsprechung ist auch geklärt, dass gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auch mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 (sog. Stillhalteklausel) keine Bedenken bestehen, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28; B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 14; B.v. 11.7.2016 – 10 ZB 15.837 – Rn. 11 jeweils m.w.N.).
Die Ausweisung des Klägers ist unter Berücksichtigung des dargelegten Maßstabs rechtmäßig, weil die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig besteht (a) und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist (b). Da der Ausweisungsschutz aus Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen nicht weiter reicht als der aus ARB 1/80, ergibt sich aus dieser Norm kein anderer Maßstab für die rechtliche Überprüfung der Ausweisung des Klägers (vgl. BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 15).
a) Zutreffend ist die Beklagte davon ausgegangen, dass der Aufenthalt des Klägers auch in Zukunft die öffentliche Sicherheit und Ordnung der BRD schwerwiegend beeinträchtigen wird. Vom Kläger geht eine hinreichend schwere gegenwärtige Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft aus. Es besteht eine erhebliche Wiederholungsgefahr.
Anlass für die Ausweisung des Klägers ist seine Verurteilung durch das Landgericht M … vom … Mai 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen in Tatmehrheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen in Tatmehrheit mit Anstiftung zum vorsätzlichen unerlaubten Erwerb der tatsächlichen Gewalt über eine Kriegswaffe von einem anderen in Tateinheit mit Anstiftung zum vorsätzlichen unerlaubten Munitionsbesitz. Daneben ist der Kläger immer wieder auch mit Gewaltstraftaten wie Vergewaltigung und Körperverletzungsdelikten in Erscheinung getreten. Bei den vom Kläger begangenen Straftaten handelt es sich um besonders schwere Straftaten, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung in erheblichem Maße beeinträchtigen. Gerade der illegale Handel mit Betäubungsmitteln ist regelmäßig mit hoher krimineller Energie verbunden und birgt schwerwiegende Gefahren für Leben und Gesundheit anderer Menschen in sich und berührt damit ein Grundinteresse der Gesellschaft. Der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmitteln stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, da der Handel mit Drogen eine Abhängigkeit von Drogenkonsumenten hervorruft oder aufrechterhält. Er stellt ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit dar (EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 47; BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – juris Rn. 19). Auch Gewaltdelikte, die sich gegen die körperliche Integrität und die sexuelle Selbstbestimmung richten, berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Die festgestellte schwerwiegende Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beruht auf dem persönlichen Verhalten des Klägers.
Vom Kläger geht gegenwärtig eine erhebliche Wiederholungsgefahr betreffend Betäubungsmittel- und Körperverletzungsdelikte aus. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts kann nicht außer Acht gelassen werden, denn dieser bestimmt die mögliche Schadenshöhe. Das bedeutet aber nicht, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit einer Wiederholungsgefahr genügt.
Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für erneute schwere Straftaten durch den Kläger im Bereich der Betäubungsmittel- und Körperverletzungsdelikte vorliegt. Es besteht damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und damit die Ausweisung unerlässlich macht.
Der Kläger hat vorliegend Straftaten im Bereich der Betäubungsmitteldelikte aus Gewinnstreben und ohne Rücksicht auf die Folgen für Drogenkonsumenten und Sozialversicherungssysteme begangen. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger weder über einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung verfügt noch in der Vergangenheit in der Lage war, seinen Lebensunterhalt über einen längeren Zeitraum durch eine dauerhafte Beschäftigung eigenständig zu verdienen, besteht eine erhebliche gegenwärtige Gefahr, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung erneut versuchen wird, sich durch den Handel mit Betäubungsmitteln eine (lukrative) Einnahmequelle zu verschaffen. Hinzu kommt, dass der Kläger mit erheblichen Drogenmengen, sogar im Kilogrammbereich, grenzüberschreitend gehandelt hat, was zeigt, dass der Kläger tief in kriminelle Strukturen, in denen sogar Kriegswaffen verfügbar waren, eingebunden war und damit über Kontakte im Drogenmilieu verfügt, die einen „Wiedereinstieg“ ohne Weiteres ermöglichen. Die vorgelegten Stellenangebote der Firma … …, der … Gebäudereinigung und M. … e.K vermögen die Wiederholungsgefahr nicht zu beseitigen, nachdem der mittlerweile 27 Jahre alte Kläger in der Vergangenheit zu keinem Zeitpunkt in der Lage, seinen Lebensunterhalt längerfristig über eine regelmäßige Erwerbstätigkeit zu sichern. Auch in der JVA ist der Kläger erst seit Ende August 2016 in der Bäckerei beschäftigt.
Darüber hinaus besteht auch eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger nach Haftentlassung weitere Delikte unter Anwendung körperlicher Gewalt begehen wird. Der Kläger ist in der Vergangenheit wiederholt wegen Körperverletzungsdelikten und auch wegen Vergewaltigung strafrechtlich in Erscheinung getreten. Aus dem Führungsbericht der JVA … … … vom 19. Oktober 2016 geht hervor, dass laut psychologischem Dienst im Hinblick auf die vielen Vorstrafen, die auf eine erhöhte Gewaltbereitschaft schließen lassen, die Teilnahme des Klägers an einer Gewalt-Präventionsgruppe angezeigt ist. Angesichts unzureichender Behandlungs- und Veränderungsmotivation habe er nicht in die hausinterne Gewalt-Präventionsgruppe aufgenommen werden können. Unabhängig von der Frage, ob die Behandlungs- und Veränderungsmotivation des Klägers tatsächlich unzureichend war, steht fest, dass der Kläger bislang keine Gewalttherapie abgeschlossen hat. Solange die Gewaltproblematik beim Kläger nicht ausreichend behandelt ist und er sich eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt hat, besteht die Gefahr, dass er auch in Zukunft Gewaltstraftaten, insbesondere Körperverletzungsdelikte, begehen wird.
Strafrechtliche Ermittlungsverfahren und Verurteilungen und Verwarnungen durch die Ausländerbehörde haben den Kläger unbeeindruckt gelassen. Dass die derzeitige Vollzugsstrafe den Kläger nachhaltig beeindrucken wird, ist kaum zu erwarten, zumal der Kläger in der JVA bereits dreimal disziplinarisch in Erscheinung getreten ist, weil er das geordnete Zusammenleben gestört hat und hierbei u.a. mit einem Bediensteten in Konflikt geraten ist. Weder seine Familie, die sich in Deutschland befindet, noch seine Aktivitäten in Fußballvereinen haben den Kläger von der Begehung der Straftaten abgehalten.
b) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist.
(1) Es besteht im Fall des Klägers ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger durch die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren der Fall.
(2) Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht kein vertyptes besonderes Bleibeinteresse gem. § 55 AufenthG gegenüber, insbesondere sind die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht gegeben. Zwar ist der Kläger als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und hält sich seit mehr als fünf Jahren hier rechtmäßig auf. Jedoch war er zum Zeitpunkt der Ausweisung nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Seine Aufenthaltserlaubnis war zuletzt bis 31. Dezember 2011 befristet.
Zwar ist durch die Antragstellung auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom … Oktober 2011, bei der Ausländerbehörde am 5. Dezember 2011 eingegangen, die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG eingetreten, doch ersetzt dies den tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht. Dagegen sprechen der Sinn und Zweck der Regelung sowie die Gesamtsystematik des Aufenthaltsgesetzes. Sinn und Zweck der neugestalteten Fiktionswirkung in § 81 Abs. 4 AufenthG war es, der Neuordnung des Arbeitsgenehmigungsrechts durch das Zuwanderungsgesetz gerecht zu werden. Da nunmehr nach § 4 Abs. 3 S. 1 AufenthG Ausländer eine Erwerbstätigkeit nur ausüben dürfen, wenn der Aufenthaltstitel sie dazu berechtigt, war es zwingend erforderlich, die bisher über das gesonderte Arbeitsgenehmigungsrecht mögliche Fortsetzung der Erwerbstätigkeit während eines noch ungeklärten Anspruchs auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch eine fiktive Aufrechterhaltung des Aufenthaltstitels sicherzustellen. Dass darüber hinaus durch § 81 Abs. 4 AufenthG auch die aufenthaltsrechtlichen Verfestigungsmöglichkeiten im Vergleich zum bisher geltenden Recht – unabhängig von der materiellen Rechtslage – grundlegend umgestaltet und verbessert werden sollten, ist dagegen nicht ersichtlich. Vielmehr spricht alles dafür, dass die Fortbestandsfiktion nur vorläufigen Charakter bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde hat und sich auf die Beurteilung des materiellen Anspruchs auf Verlängerung oder Neuerteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht auswirken sollte. Denn ein Antragsteller soll durch die verspätete Entscheidung über seinen Antrag nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden, als wenn die Behörde alsbald entschieden hätte. Daher hat auch die Fiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG besitzstandswahrende, nicht aber rechtsbegründende Wirkung. Die Neuregelung der Fiktionswirkung vermittelt nur eine verfahrensrechtliche, nicht aber eine materiell-rechtliche Position (vgl. BayVGH, U.v. 4.7.2011 – 19 B 10.1631 – juris; BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 6/09 – juris). Für das Bestehen eines besonderen Bleibeinteresses nach § 55 AufenthG kommt es demnach allein auf den tatsächlichen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis an. Dem steht die Fiktionswirkung des Verlängerungsantrages nach § 81 Abs. 4 AufenthG nicht gleich (vgl. zur Vorgängerregelung des § 56 AufenthG: BayVGH, U.v. 4.7.2011 – 19 B 10.1631 – juris; Bauer in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 56 AufenthG Rn. 15).
(3) In der Abwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet. Seine Ausreise ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt ein Überwiegen des Interesses an der Ausreise, das unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles im Rahmen einer umfassenden Verhältnismäßigkeitsprüfung festzustellen ist, wobei in die hierbei vorzunehmende Abwägung des Interesses an der Ausreise mit dem Bleibeinteresse die in § 53 Abs. 2 AufenthG niedergelegten Umstände in wertender Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind. Dies sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner. Dabei sind die in Absatz 2 aufgezählten Umstände weder abschließend zu verstehen, noch müssen sie nur zugunsten des Ausländers ausfallen. Zudem sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie und die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen. Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkreten Gewicht, zuwiderlaufen würde, verbietet sich ebenso (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris) wie eine „mathematische“ Abwägung im Sinne eines bloßen Abzählens von Umständen, die das Ausweisungsinteresse einerseits und das Bleibeinteresse andererseits begründen (VGH B-W, U.v. 13.1.2016, – 11 S 889/15 – juris; OVG NRW, U.v. 10.5.2016 – 18 A 610/14 – juris).
Insbesondere sollen in die Abwägung die Kriterien mit einbezogen werden, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insoweit zu Art. 8 EMRK entwickelt worden sind: Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im Gastland, seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und Verhalten des Ausländers in dieser Zeit, Staatsangehörigkeit der Betroffenen, familiäre Situation und Dauer einer etwaigen Ehe, etwaige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat bei Aufnahme der Beziehung, etwaige aus der Ehe hervorgegangene Kinder, ihr Alter und das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte und/oder die Kinder im Abschiebezielland begegnen können, sowie die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Abschiebezielland (BT-Drs 18/4097, S. 49; EGMR, U.v. 12.1.2010 – 47486/06, , in Fortschreibung der Boultif/Üner Kriterien; OVG NRW, U.v. 22.3.2012, – 18 A 951/09 – juris).
Zunächst ist festzustellen, dass ausgehend von den im Fall des Klägers festgestellten und in den §§ 54, 55 AufenthG vom Gesetzgeber vertypten Bleibe- und Ausweisungsinteressen ein erhebliches Überwiegen des Ausweisungsinteresses anzunehmen ist, da zwar ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse besteht, aber kein vertyptes Bleibeinteresse gem. § 55 AufenthG. Gründe, aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles von der vertypten gesetzlichen Wertung des Ausweisungsinteresses abzuweichen, bestehen nicht.
Die unter Einstellung sämtlicher berührter Belange vorzunehmende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt. Dabei waren die von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Der 27-jährige Kläger hält sich seit mittlerweile mehr als 14 Jahren, d.h. etwa die Hälfte seines bisherigen Lebens, im Bundesgebiet auf und hat schützenswerte familiäre Bindungen, da seine Eltern und seine beiden Schwestern im Bundesgebiet leben.
Dennoch überwiegt angesichts der Schwere und der Art der begangenen Straftaten sowie der bestehenden hohen Wiederholungsgefahr das öffentliche Ausreiseinteresse. Der Schutz der Bevölkerung vor Gewalttaten sowie vor Betäubungsmittelkriminalität stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, zu dessen Wahrung die Ausreise des Klägers erforderlich ist. Die vom Kläger begangenen Delikte sind besonders schwerwiegende Straftaten und dürfen daher in die Abwägung mit dem entsprechenden Gewicht eingestellt werden. Die Schwelle, nach der gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, ist beim Kläger um das 2,5-fache überschritten. Was das Nachtatverhalten betrifft, ist festzustellen, dass der Kläger in der JVA bereits dreimal disziplinarisch in Erscheinung getreten.
Zwar ist die Ausweisung ein gravierender Eingriff in die familiären Beziehungen des Klägers zu seinen Eltern und Schwestern. Der Kläger ist jedoch volljährig und daher nicht mehr auf die Unterstützung und Hilfe seiner Eltern angewiesen. Es ist ihm daher zumutbar, den Kontakt über Besuche seiner Verwandten in der Türkei oder über Fernkommunikationsmittel aufrechtzuerhalten. Der Status als faktischer Inländer kann dem Kläger, der erst im Alter von 13 Jahren in das Bundesgebiet eingereist ist, nicht zuerkannt werden. Zwar bestehen in Deutschland seine wesentlichen sozialen, wirtschaftlichen und familiären Bindungen. Dennoch ist er nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung verfügt. Er hat bislang seinen Lebensunterhalt nie über einen längeren Zeitraum durch eine Beschäftigung selbst verdienen können. Er ist bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr in der Türkei aufgewachsen, so dass ihm Kultur und Sprache seines Heimatlandes bekannt sind. Er hat für vier Jahre eine zweisprachige Klasse besucht und jahrelang bei seinen türkischen Eltern gelebt. Seine Großmutter, zu der er auch aus der Haft heraus telefonischen Kontakt unterhalten hat, als auch sein Bruder leben in der Türkei.
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände erweist sich die Ausweisung des Klägers damit zur Bekämpfung der von ihm ausgehenden hohen Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittel- und Gewaltdelikte, nicht nur als geeignet und erforderlich, sondern auch im engeren Sinne als verhältnismäßig und damit unerlässlich.
2. Die in der Klage gegen die Ausweisungsverfügung regelmäßig als „Minus“ enthaltene Verpflichtungsklage auf Verkürzung der Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 AufenthG bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids in der Fassung vom 8. Dezember 2016 enthaltene Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf sieben bzw. neun Jahre ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine kürzere Befristung (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Die Ausweisung hat nach § 11 Abs. 1 AufenthG zur Folge, dass der Kläger nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem AufenthG kein Aufenthaltstitel erteilt. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gem. § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Sie darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Die Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf sieben Jahre bei nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit sowie Alkoholabstinenz, anderenfalls auf neun Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde und außerdem von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (s.o). Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von sieben Jahren unter o.g. Bedingungen, anderenfalls neun Jahren, nicht zu beanstanden.
3. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Dies ergibt sich bereits aus § 11 Abs. 1 AufenthG. Danach darf einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Der Kläger ist vorliegend rechtmäßig ausgewiesen worden (s.o. Nr. 1). Darüber hinaus liegt auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, so dass es an der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlt.
4. Die Abschiebung aus der Haft heraus (Nr. 4 des Bescheids) beruht auf § 58 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. Die auf § 59 AufenthG beruhende Abschiebungsandrohung (Nr. 4 des Bescheids) ist nicht zu beanstanden. Insbesondere ist eine Frist zur freiwilligen Ausreise von vier Wochen angemessen, vgl. § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
Die Benennung der Türkei als Zielstaat ist nicht zu beanstanden, insbesondere war die Türkei in der Abschiebungsandrohung nicht gem. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als Staat zu bezeichnen, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. Die Beklagte hat zwar grundsätzlich vor Erlass der Abschiebungsandrohung unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt; § 72 Abs. 2 AufenthG) zu prüfen, ob zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG vorliegen. Nach Stellung eines Asylantrags obliegt jedoch gem. § 24 Abs. 2 AsylG auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, allein dem Bundesamt.
Der Kläger hat vorliegend geltend gemacht, dass ihm als Kurden, der zudem ein Freiheitssymbol Kurdistans auf dem Oberkörper tätowiert habe, bei Rückkehr in die Türkei mit großer Wahrscheinlichkeit gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben bzw. eine grausame und unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK drohe. Er macht damit eine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit geltend.
Zwar hat der Kläger keinen förmlichen Asylantrag gem. § 14 AsylG gestellt. Eine Pflicht zur Stellung eines förmlichen Asylantrags besteht auch nicht. Maßgeblich ist hier jedoch der weite Antragsbegriff des § 13 Abs. 1 AsylG (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AufenthG, Stand: März 2016, § 60a AufenthG Rn. 127). Ein Ausländer, der behauptet, ihm drohten aus politischen Gründen Menschenrechtsverletzungen, aber trotz dieses formlosen Nachsuchens um Asyl (§ 13 Abs. 1 AsylG) keinen förmlichen Asylantrag gem. § 14 AsylG stellt, begibt sich damit gleichwohl in die Prüfungszuständigkeit des Bundesamts und kann nicht geltend machen, er begehre lediglich isoliert einen in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde fallenden Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG (Treiber in Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Stand: Oktober 2016, § 13 AsylG Rn. 56). Stellt er keinen förmlichen Asylantrag, bleiben die Verfolgungsgründe ungeprüft, und zwar auch insoweit als zugleich möglicherweise Abschiebungsverbote i.S.d. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erfüllt sein könnten (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AufenthG, a.a.O. § 60a AufenthG Rn. 248). Aus der eindeutigen Kompetenzzuordnung an das Bundesamt für die Prüfung auch nur potentiell asylrelevanter Verfolgungsgründe und in diesem Zusammenhang auch von Abschiebungsverboten sowie der Bindungswirkung des § 6 AsylG folgt eindeutig, dass für die Entscheidung, ob Ausländern Abschiebungsschutz wegen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Maßnahmen bei Rückkehr zu gewähren ist, allein das Bundesamt sachlich zuständig ist, auch wenn diese Maßnahmen zugleich die Qualität eines Eingriffs i.S.d. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG haben. Der Ausländer hat es nicht in der Hand, bei Vortrag eines Lebenssachverhalts, der politische Verfolgung oder eine Maßnahme i.S.d. § 4 AsylG darstellen kann, durch das Unterlassung bzw. die Weigerung, einen förmlichen Asylantrag zu stellen, über die Zuständigkeit des Bundesamts zu disponieren (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Stand: Oktober 2016, § 6 AsylG Rn. 14.1). Es besteht insofern kein „Wahlrecht“ des Ausländers zwischen asylrechtlichem oder ausländerrechtlichem Schutz vor Verfolgung im Heimatland. § 13 Abs. 1 AsylG ist vielmehr zur Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens sowie auch zum Ausschluss von Verfahrensverzögerungen durch nachgeschaltete Asylanträge geschaffen worden. Danach ist derjenige Schutzsuchende, der sich materiell auf Asylgründe beruft, zwingend auf das – alle Schutzersuchen und Schutzformen erfassende (vgl. BVerwG, U.v. 18.1.1994 – 9 C 48.92 – juris) – Asylverfahren zu verweisen und hiermit ausschließlich das besonders sachkundige Bundesamt zu befassen. Die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes kann sich mithin nicht nur aus der Stellung eines formellen Antrages ergeben, sondern auch aus der Geltendmachung eines materiellen Asylbegehrens. Maßgeblich für die Abgrenzung der Zuständigkeiten bei der Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist somit, ob der Ausländer – wie hier – die Feststellung aufgrund behaupteter Verfolgungsgefahren (Zuständigkeit des Bundesamtes) oder aus verfolgungsunabhängigen, rein humanitären Gründen (Zuständigkeit der Ausländerbehörde) begehrt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 29.3.2011 – 8 LB 121/08 – juris; BVerwG, U.v. 9.6.2009 – 1 C 11.08 – juris; BVerwG, B.v. 3.3.2006 – 1 B 126.05 – juris; OVG Saarland, B.v. 20.3.2008 – 2 A 33/08 – juris).
Die vom Kläger vorgebrachten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote waren daher durch die Beklagte nicht zu prüfen. Es obliegt dem Kläger, diese ggf. in einem Asylverfahren geltend zu machen.
5. Der Hilfsantrag ist ebenfalls unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Bewährungsduldung für die Dauer von fünf Jahren mit der Maßgabe, dass diese erlischt, sollte der Kläger erneut wegen einer Straftat, gleich welcher Höhe, verurteilt werden (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Eine dahingehende Verpflichtung der Beklagten kann das Gericht schon aus dem Grund nicht aussprechen, weil das Rechtsinstitut einer sog. „Bewährungsduldung“ im Aufenthaltsgesetz nicht vorgesehen ist. Eine sog. „Bewährungsduldung“ kann vielmehr nur im Rahmen einer gütlichen Einigung mit Zustimmung der Beklagten vereinbart werden. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte einer gütlichen Einigung nicht zugestimmt.
6. Soweit der Hilfsantrag dahingehend ausgelegt werden kann, dass der Kläger die Erteilung einer Duldung begehrt, ist der Antrag unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung. Nach § 60a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Soweit der Kläger zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geltend macht, ist für deren Prüfung allein das Bundesamt zuständig (s.o.). Dieses hat bislang keine derartigen Abschiebungsverbote festgestellt. Tatsächliche Abschiebungshindernisse sind ebenso wenig ersichtlich wie inlandsbezogene rechtliche Abschiebungshindernisse. Letztere ergeben sich insbesondere nicht aus den gesundheitlichen Problemen der Mutter des Klägers, die ggf. unter Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zu bewältigen sind.
7. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
8. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen