Verwaltungsrecht

Ausweisung eines assoziationsberechtigten Bewährungsversagers mit hoher Rückfallgeschwindigkeit

Aktenzeichen  Au 6 K 18.1199

Datum:
4.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 37225
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1, § 55
StGB § 21, § 52, § 185, § 194, § 223 Abs. 1, § 230 Abs. 1, § 303 Abs.1
BtMG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 3
EMRK Art. 8 Abs. 1
VwGO § 67 Abs. 4 S. 4, § 113 Abs. 1 S. 1
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Für die Frage, ob die von der Behörde angenommene Befürchtung neuer Verfehlungen tatsächlich besteht, ist grundsätzlich nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich, weil sich das Gericht mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung einer Wiederholungsgefahr regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind (ebenso BayVGH BeckRS 2015, 47045). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Frü einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen nach Art. 2 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. b und Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie) und Assoziationsberechtigten besteht zwar ein Schutz im Rechtsrahmen von Art. 14 ARB 1/80, doch können Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbst dann die Aufenthaltsbeendigung rechtfertigten. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch den Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 27. Juni 2018 in Gestalt des Bescheids vom 5. September 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der noch nicht vollzogenen Abschiebungsanordnung bzw. -androhung und der Befristungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18), weil dem Kläger u.a. der Schutz des Art. 8 EMRK zu Gute kommt.
I.
Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
1. Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. AufenthG.
Hierbei hat die Ausweisung als gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung zu erfolgen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 31, 56). Dabei kann unterstellt werden, dass der Kläger zudem nach Art. 7, Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 geschützt ist, da die Ausweisung auch dann nicht unverhältnismäßig ist. Zudem ist für den Kläger als langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie) zu beachten. Demgegenüber ist in der Rechtsprechung geklärt, dass die RL 2004/38/EG nicht auf türkische Assoziationsberechtigte anwendbar ist (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08 – NVwZ 2012, 422 – Ziebell; BayVGH, U.v. 13.5.2014 – 10 BV 12.2382 – juris Rn. 28). Gegen die Anwendung der neuen Ausweisungsvorschriften nach §§ 53 ff. AufenthG bestehen auch im Hinblick auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Bedenken (BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28).
Unter Anwendung dieses Maßstabes kann der Kläger nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses in der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich ist. Bei dieser Beurteilung müssen die Behörden sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens wahren (EuGH, U.v. 22.12.2010 – Bozkurt, C-303/08 – juris Rn. 57 bis 60 m.w.N.; EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C371/08 – NVwZ 2012, 422 Rn. 82). Dabei sind auch nach der Ausweisungsverfügung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können (EuGH, U.v. 11.11.2004 – Cetinkaya, C-467/02 – juris Rn. 47, EuGH, U.v. 8.12.2011 – a.a.O. Rn. 84).
2. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil der Kläger schwere Straftaten begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
a) Ausweisungsanlass ist die dem Strafurteil des Landgerichts … vom 17. April 2018 (Az: *) zu Grunde liegende schwere Straftat. Der Kläger wurde nicht nur zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Erschwerend wirkten sich die zahlreichen – einschlägigen – Vorstrafen des Klägers aus. Der Kläger stand unter einschlägiger offener Bewährung. Die Rückfallgeschwindigkeit des Klägers wurde vom Landgericht … als enorm eingestuft, denn er ist nicht einmal neun Monate nach der letzten Verhandlung wegen Körperverletzung erneut einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zu seinen Lasten wirkt auch die wiederholte Verletzung hochrangiger Rechtsgüter wie der körperlichen Unversehrtheit Anderer.
b) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist. Dies ergibt sich aus der bereits wiederholten Tatbegehung von Körperverletzungsdelikten, der Entwicklung des Klägers bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt und der mangelnden therapeutischen Aufarbeitung seiner tatmotivierenden Alkoholdelinquenz sowie seines Aggressionspotentials. Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9).
Bei der körperlichen Unversehrtheit Dritter handelt es sich um ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders geschütztes Rechtsgut von hervorgehobener Bedeutung, dessen Verletzung zu besonders folgenschweren Schäden führen kann. Die körperliche Integrität Dritter zählt mithin zu den wichtigsten Rechtsgütern.
Für die Frage, ob die von der Behörde angenommene Befürchtung neuer Verfehlungen tatsächlich besteht, ist grundsätzlich nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich, weil sich das Gericht mit einer entsprechenden tatsächlichen Würdigung einer Wiederholungsgefahr regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die dem Richter allgemein zugänglich sind (vgl. BayVGH, B.v. 12.6.2015 – 10 ZB 13.2111 – juris Rn. 18 m.w.N.). Eine Ausnahme kommt nur dann in Betracht, wenn die Prognose die Feststellung oder Bewertung von Umständen voraussetzt, für die eine dem Richter nicht zur Verfügung stehende Sachkunde erforderlich ist, wie etwa im Falle einer seelischen Erkrankung (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2014 – 10 ZB 13.328 – juris Rn. 13; BVerwG, B.v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 6; B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dass der Kläger an einer solchen (deliktsbezogenen) Erkrankung leidet, ergibt sich weder aus dem streitgegenständlichen Strafurteil noch ist dies ersichtlich oder vorgetragen; seine Alkoholdelinquenz bedeutet hier keine Alkoholsucht und führte auch strafgerichtlich nicht zur Anwendung von § 20 oder § 21 StGB. Daher braucht auch nicht das Ergebnis eines angesprochenen Gefahrgutachtens abgewartet zu werden, das für eine Bewährungsaussetzung des Strafrests, nicht aber für die hier erforderliche längerfristige Prognose über das Ende der Strafhaft hinaus Bedeutung hätte.
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 [283 f. Rn. 17]). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens steht (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).
Der Kläger hat bereits in der Vergangenheit noch auf freiem Fuß zahlreiche Straftaten begangen, in denen sich eine erhebliche Gewaltbereitschaft zeigt. So schlug er u.a. bei seiner dem Urteil vom 17. März 2010 (Behördenakte, Bl. 85 ff.) zugrundeliegenden Tat einer anderen Person mindestens einmal mit der Faust ins Gesicht. Anschließend nahm der Kläger die andere Person in den Schwitzkasten und schlug mindestens einmal mit dem Knie in dessen Gesicht. Bei seiner dem Urteil vom 7. Dezember 2011 (Behördenakte, Bl. 104 ff.) zugrundeliegenden Tat schlug der Kläger ohne rechtfertigenden Grund einem Dritten mit voller Wucht mit der flachen Hand ins Gesicht, so dass dieser Nasenbluten sowie einen starken Bluterguss unter dem linken Auge erlitt. Eine weitere Person schubste er mit beiden Händen im Brustbereich nach hinten weg, wobei diese zu Boden kam und der Kläger zumindest billigend in Kauf nahm, dass diese Person durch den Schubser Schmerzen im Rückenbereich erlitt. Bei seiner dem Strafbefehl vom 10. April 2015 (Behördenakte, Bl. 166 ff.) zugrundeliegenden Tat hat der Kläger im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Dritten eine Kellertüre in einer Gaststätte beschädigt. Bei seiner dem Urteil vom 28. Januar 2017 (Behördenakte, Bl. 194 ff.) zugrundeliegenden Tat hat der Kläger einem Dritten einen Faustschlag ins Gesicht verpasst, woraufhin dieser zu Boden fiel und benommen war und eine Platzwunde unter dem linken Auge erlitt. Bei seiner dem Urteil vom 17. April 2018 zugrundeliegenden Tat hat der Kläger zwei Personen ohne Vorwarnung, u.a. mit einem Holzstuhl, angegriffen, wobei eine der Personen massive Prellungen des rechten Unterarms und des rechten Unterschenkels sowie die andere Person ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades, Platzwunden am Kinn und an der Oberlippe, sowie eine Nasenbeintrümmerfraktur erlitten. Der Kläger ist daher mehrfacher Wiederholungstäter.
Die Straftaten des Klägers offenbaren zudem ein erhebliches, sich steigerndes Aggressionspotential. Bei seiner letzten Tat hat er die beiden Geschädigten ohne Vorwarnung angegriffen.
Der Kläger ist ausweislich seiner Straftaten nicht hinreichend fähig, sich zu kontrollieren, sondern schlägt bei verschiedenen Gelegenheiten zu. Sogar schon abgebüßte Freiheitsstrafen hielten ihn nicht davon ab, weitere einschlägige Straftaten zu begehen. Dies gilt insbesondere, wenn der Kläger unter Alkoholeinfluss stand. Das Gericht teilt nach Aktenlage und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung die Einschätzung des Strafgerichts, dass die Rückfallgeschwindigkeit des Klägers enorm ist.
Auch in der mündlichen Verhandlung konnte der Kläger nicht den Eindruck vermitteln, dass er einen Sinneswandel durchgemacht habe. Zum einen hat das Gericht nicht den Eindruck gewinnen können, dass dem Kläger sein bisheriges strafrechtlich relevantes Leben leid tue. Auch geht aus dem Urteil vom 17. April 2018 nicht hervor, dass eine etwaige Reue des Klägers vorgelegen habe oder eine Entschuldigung bei den Tatopfern erfolgt wäre. Zum anderen hat der Kläger – was zur Annahme des Wegfalls der Wiederholungsgefahr erforderlich ist – weder eine Alkohol- noch eine Antiaggressionstherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig alkohol-, aggressions- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende nicht glaubhaft gemacht. Zwar beteuert der Kläger, dass er ein Anti-Aggressions-Training anstrebe, was jedoch in der derzeitigen Justizvollzugsanstalt nicht möglich sei (Protokoll vom 4. September 2019, S. 2). Er habe auch Kontakt zur Suchtberatung aufgenommen. Zwar sieht das Gericht darin Ansätze, dass der Kläger seine Alkoholsowie Aggressionsproblematik angehen möchte. Jedoch hat der Kläger selbst unter einem in naher Aussicht terminierten Beginn eines Antigewalttrainings Ende Oktober 2017 noch Anfang Oktober 2017 die Straftat begangen, die letztendlich den Ausweisungsanlass begründet hat.
Der Kläger ist bisher auch mit keinem Mittel des Straf- oder Ausländerrechts erreichbar. Er ist vielmehr Bewährungsversager mit einer enormen Rückfallgeschwindigkeit. So hat er die letzten Körperverletzungsdelikte unter einschlägiger Vorbestrafung begangen und stand teilweise unter offener Bewährungsfrist bei seinen Taten. Dass er ausweislich der Führungsberichte der Justizvollzugsanstalt … eine angepasste Führung zeige und bemüht sei, sein Leben in den Griff zu bekommen, lässt vorliegend nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (siehe oben).
3. Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 bis 3 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG überwiegt.
a) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1, Abs. 3 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 38 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen der von ihm begangenen Delikte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt worden ist und der Kläger unter Gewaltanwendung Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit begangen hat.
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten und kann die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat in atypischen Fällen insgesamt weniger schwer erscheinen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 57), doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren Delikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Insbesondere wurde eine Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers nicht festgestellt.
b) Das Bleibeinteresse wiegt nach § 53 Abs. 3 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht besonders schwer, da der Kläger nicht mehr im Besitz eines Aufenthaltstitels ist. Jedoch wiegt das Bleibeinteresse deswegen besonders schwer, weil der Kläger als „faktischer Inländer“ – ein Ausländer, der seine wesentliche Prägung im Bundesgebiet erfahren hat (vgl. BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21) – einzustufen ist. Allerdings verhindert auch diese Einstufung nicht von vornherein seine Ausweisung, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
c) In der gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner überwiegt vorliegend das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich:
(1) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt ununterbrochen an und fällt daher als intensive Bindung erheblich ins Gewicht.
Der Kläger ist ausschließlich in Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen. Seine wesentlichen persönlichen Bindungen liegen im Bundesgebiet, wo seine Eltern und seine Geschwister leben. Vor seiner Inhaftierung lebte er meist bei seinen Eltern. Das Gewicht seiner familiären Bindung zu seinen Eltern und Geschwistern wird indes dadurch gemindert, dass der Kläger als erwachsener Mann grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Familie angewiesen ist, sondern ein eigenständiges Leben führen kann. Anhaltspunkte für eine geistige oder körperliche Schwäche als Ansatz eines ausnahmsweisen Angewiesenseins auf Unterstützung auch im Erwachsenenalter haben sich auch aus den strafgerichtlichen Feststellungen zu seiner Persönlichkeit nicht ergeben. Eine nach Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK besonders geschützte Ehe liegt nicht vor – eine Verlobung fällt ohne konkret geplante Eheschließung nicht in diesen Schutzbereich; der Kläger wolle seine langjährige Freundin heiraten, jedoch stehe ein konkreter Hochzeitstermin noch nicht fest (Protokoll vom 4. September 2019, S. 2). Auch ist der Kläger kinderlos.
Der Kläger hat berufliche und wirtschaftliche Bindungen ebenfalls (nur) im Bundesgebiet, wo er die meiste Zeit im Bereich der Lagerlogistik, u.a. auch als Schicht- und Abteilungsleiter tätig war. Vor seiner Inhaftierung habe er einmal drei Monate auf Mallorca gearbeitet, er habe einen Termin gehabt, um danach wieder eine Arbeit in Deutschland zu beginnen, dies habe sich aber wegen des bekannten Vorfalls zerschlagen. Er habe insofern keine vorhandene Arbeitsstelle in Deutschland verloren (Protokoll vom 4. September 2019, S. 3). Indes hat er bereits eine Ausbildungsmaßnahme zum Metallbauer abgebrochen. Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, sondern völlig offen, ob der bisher unqualifizierte 33-jährige Kläger eine angedachte Ausbildung überhaupt aufnehmen kann oder gar erfolgreich abschließen wird. Die beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers sind daher von geringerem Gewicht.
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(2) In der Türkei als seinem Herkunftsstaat hat der Kläger lediglich einige kürzere (Urlaubs-)Aufenthalte verbracht und wohl seit dem Tod des Großvaters auch keine verwandtschaftlichen Bindungen mehr. Alle anderen Verwandten lebten hier in Deutschland, auch Onkel und Tanten (Protokoll vom 4. September 2019, S. 3). Persönliche Bindungen hat der Kläger damit in die Türkei nicht, denn der Schwerpunkt seines Lebens liegt in Deutschland, wo er aufgewachsen ist.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger aber über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügt. Gemäß der Information seiner Eltern beherrsche der Kläger die türkische Sprache in Wort und Schrift. Jedoch gab der Kläger selbst an, dass er zwar Türkisch nicht so gut wie Deutsch spreche, er zuhause aber auch Türkisch spreche und er sich halbwegs verständigen könne (Protokoll vom 4. September 2019, S. 3). Nach Überzeugung des Gerichts ist der Kläger im Stande, sich in der Türkei sprachlich zurechtzufinden, selbst wenn er inzwischen Deutsch als (zweite) Sprache akzentfrei spricht und sein Türkisch teilweise erst wieder auffrischen müsste.
Wirtschaftliche Bindungen hat der Kläger in der Türkei nicht, so dass er sich eine Arbeit suchen und bis zur Erwerbstätigkeit notfalls soziale Unterstützung seines Herkunftsstaats in Anspruch nehmen müsste. Immerhin hat er im Bundesgebiet die Schule besucht und einen Mittelschulabschluss erworben, so dass er eine schulische Qualifikation vorzuweisen hat. Zwar ist er wohl auch nach den Erwartungen des türkischen Arbeitsmarktes mangels Berufsausbildung bei einem Alter von 33 Jahren beruflich niedrig qualifiziert. Gleichwohl dürfte ihm zuzumuten sein, auch niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen, um wirtschaftlich Fuß zu fassen und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Dass der Kläger hierzu nicht in der Lage sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass der Kläger in der Türkei sich nicht nur sprachlich und sozial, sondern auch wirtschaftlich integrieren kann.
(3) Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner fallen für den alleinstehenden Kläger nicht wesentlich ins Gewicht, da er – wie dargelegt – keine von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK besonders geschützte Ehe oder Familie hat, selbst keine Fürsorge oder Unterstützung für von ihm abhängige Angehörige leistet und als erwachsener Mann umgekehrt grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Eltern und seiner Geschwister angewiesen ist. Die persönlichen Kontakte zu seinen in Deutschland lebenden Angehörigen würden durch eine ausweisungsbedingte räumliche Trennung zwar belastet, aber angesichts der in der Türkei verfügbaren modernen Kommunikationsmittel (z.B. Videotelefonie, Instant-Messaging-Dienste, Telefon) sowie durch Besuche der Familienangehörigen in der Türkei, in die diese einreiseberechtigt sind, aufrechterhalten und nicht zerstört. Zwar ist zu berücksichtigen, dass der Kläger eine langjährige Freundin hat, mit der er verlobt ist. Jedoch fällt die Verlobte nicht in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK. Zudem wäre auch zu ihr der Kontakt wie oben zu erhalten.
(4) Weitere über die in § 53 Abs. 2 AufenthG nicht abschließende Aufzählung hinaus noch zu berücksichtigenden Belange und Interessen sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(5) In der gebotenen Gesamtabwägung überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
Zwar sind die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet als „faktischer Inländer“ von erheblichem Gewicht und wiegen besonders schwer, doch andererseits wiegen die von ihm wiederholt begangenen Straftaten ebenfalls besonders schwer und überwiegen die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, weil in seiner Person eine konkrete und erhebliche Rückfallgefahr besteht. Diese berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, denn die vom Kläger begangenen Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit machen seine Ausweisung unerlässlich. Die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nehmen in der Werteordnung der Grundrechte einen sehr hohen Rang ein (Art. 2 Abs. 2 GG). Daher obliegt dem Staat eine besondere Schutzpflicht für diese Rechtsgüter (BayVGH, U.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Für den Kläger ist seine Entfernung aus dem Bundesgebiet mit einschneidenden Veränderungen seiner Lebenssituation gegenüber jener vor der Haft verbunden. Er verliert die Rückzugsmöglichkeit bei seinen Eltern und die Nähe zu seinen hier lebenden Geschwistern und zu seiner Verlobten; er ist auf den Kontakt per Kommunikationsmittel und Besuche angewiesen. Der Kläger kennt seinen Herkunftsstaat und den dortigen Alltag zwar nur aus Besuchsaufenthalten, aber er ist auch in der türkischen Sprache sozialisiert (vgl. oben). Er stammt aus einem Haushalt, in dem auch Türkisch gesprochen wurde. Der Druck zu einem persönlichen und wirtschaftlichen Neuanfang trifft grundsätzlich jeden Ausländer, der aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wird. Dass er das bisher im Bundesgebiet trotz Unterstützung seiner Familie nicht geschafft hat, heißt nicht, dass er das nicht könnte, sondern dass er es nicht musste, solange er bei seinen Eltern und bei Freunden leben konnte. Doch da er keine von ihm persönlich oder wirtschaftlich abhängigen Angehörigen im Bundesgebiet hat, deren Lebenssituation sich durch seinen Weggang wesentlich verschlechtern würde, umgekehrt aber er als arbeitsfähiger Mann auch ein eigenes Leben führen können muss, fallen die Auswirkungen seiner Ausweisung auf seine Bindungen hier nicht entscheidend ins Gewicht.
4. Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist (s.o.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 27). Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 – Mutlag/Deutschland, Nr. 40601/05 – InfAuslR 2010, 325; EGMR, U.v. 13.10.2011 – Trabelsi/Deutschland, Nr. 41548/06 – juris Rn. 55). Beim assoziationsberechtigten Kläger ist zudem auch der besondere Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG zu berücksichtigen. Selbst bei einem sogenannten faktischen Inländer mit einem besonders geschützten Familien- und Privatleben (BVerwG, U.v. 23.10.2007 – 1 C 10/07 – BVerwGE 129, 367) ist eine Ausweisung aber nicht schlechthin unmöglich. Der Schutz des Privat- und Familienlebens fordert in diesen Fällen lediglich, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf und dabei die besondere Situation eines Ausländers, der sich seit seiner Geburt oder seit frühem Kindesalter im Bundesgebiet aufhält, Berücksichtigung finden muss (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Sie ist geeignet, die vom Kläger ausgehende gegenwärtige und schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu mindern, da sie den weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland und eine damit bestehende Gefahr einer erneuten Tatbegehung ausschließt. Sie ist erforderlich, da ausländerrechtlich nur eine Aufenthaltsbeendigung die genannte Gefahrenlage wirksam beendet, da alle strafrechtlichen Sanktionen Rückfälle des Klägers nicht auszuschließen vermochten und therapeutische Maßnahmen bisher weder begonnen noch gar erfolgreich abgeschlossen sind. Der Kläger ist heute noch ebenso gefährlich wie im Zeitpunkt seiner letzten Tat. Die Ausweisung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn, denn dem Kläger ist unter Würdigung seiner Bindungen im Inland und im Herkunftsland letztlich eine Rückkehr in die Türkei zumutbar. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die obige Abwägung verwiesen (siehe oben). Der ledige und kinderlose Kläger verfügt nur über schwache wirtschaftliche Bindungen in der Bundesrepublik und ist als volljähriger, junger Mann nicht auf die Hilfe seiner Eltern und seiner Geschwister angewiesen. Er ist angesichts seiner Sprachkenntnisse und seiner Urlaubsaufenthalte in seinem Herkunftsstaat nicht vollständig entwurzelt. Die nach wie vor vom Kläger ausgehende Gefahr für bedeutende Schutzgüter, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren, macht vielmehr auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen und seiner wirtschaftlichen Interessen eine Ausweisung unerlässlich. Angesichts der greifbaren Gefahr weiterer erheblicher Straftaten durch den mehrfach einschlägig straffälligen und rückfälligen Kläger ist deshalb der Umstand, dass er in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist und hier sein bisheriges Leben verbracht hat, nicht so gewichtig, dass dies unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der angefochtenen Ausweisungsentscheidung entgegenstehen könnte.
Als langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach Art. 2 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. b und Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie) und als Assoziationsberechtigter ist der Kläger zwar im Rechtsrahmen von Art. 14 ARB 1/80 geschützt (dazu sogleich), doch rechtfertigten die o.g. Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbst dann die Aufenthaltsbeendigung (zur Ausfüllung des Bezugsrahmens des Art. 14 ARB 1/80 durch Art. 12 RL 2003/109/EG vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – Rn. 52 unter Verweis auf EuGH, U.v. 8.12.2001 – C-371/08 – juris Rn. 79). Ebenso widerspricht die Ausweisung nicht Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA), wonach Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur ausgewiesen werden dürfen, wenn diese Gründe besonders schwerwiegend sind. Dies ist hier der Fall (siehe oben).
6. Der Ausweisung des Klägers steht auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger jedenfalls nach Art. 7 ARB 1/80 eine Assoziationsberechtigung erlangt hat. Zum Stand der mündlichen Verhandlung überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung sein privates Bleibeinteresse erheblich (vgl. oben zu Art. 8 EMRK), zumal die vom Kläger ausgehende erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden In- und Ausländer ein hochrangiges Rechtsgut ist und ihre wiederholte massive Verletzung durch den Kläger daher ein auch unionsrechtlich anerkanntes Grundinteresse am Schutz der Bevölkerung berührt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19).
7. Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids ist nach § 58 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wegen seiner Inhaftierung gerechtfertigt. Die hilfsweise Abschiebungsandrohung ist ebenso nicht zu beanstanden. Abschiebungshindernisse, die nach § 59 Abs. 3 AufenthG zwar nicht ihrer Androhung, aber ihrer Vollstreckung durch Abschiebung entgegenstünden und zu einer Duldung führen könnten, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden.
8. Der in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids – in Gestalt der Zusicherung des Be klagten, die im angefochtenen Bescheid vom 27. Juni 2018 in Ziffer 2 enthaltene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von fünf auf drei Jahre zu reduzieren (Protokoll vom 4. September 2019, S. 4, Ziffer 1 des Bescheids vom 5. September 2019) – verfügte Erlass und die verfügte Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf drei Jahre, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. der nachgewiesenen Ausreise, sind ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f. mit Verweis auf BR-Drs. 642/14 S. 39), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.). Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nur in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre überschreiten. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 66). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten in der Fassung des Änderungsbescheids festgesetzte Frist von drei Jahren nicht zu lang und daher rechtmäßig. Der Beklagte konnte seine Ermessensentscheidung als Erlass und Befristung aufrechterhalten. Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und die konkrete Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers. Der Zeitraum sei erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential ausgehend von der Person des Klägers Rechnung zu tragen. Besonders schützenswerte familiäre und persönliche Bindungen, die einer Ausweisung entgegenstehen würden, habe der Kläger nicht. Hiergegen ist unter Würdigung des Akteninhalts und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung nichts zu erinnern. Anhaltspunkte dafür, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr in kürzerer Frist entfallen oder ihr Gewicht entscheidungserheblich gemindert würde, haben sich nicht ergeben. Durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht.
9. Für den Bescheid wurden keine Gebühren erhoben, die allgemeine Kostentragungspflicht folgt aus § 69 AufenthG.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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