Verwaltungsrecht

Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  10 ZB 16.823

Datum:
27.9.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 128038
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Eine nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 15.3600 2015-11-12 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 17. Juli 2015 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht sowie die Wirkungen der Ausweisung auf zehn Jahre befristet wurden. Anlass für die Ausweisung war die Verurteilung des Klägers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes an seiner geschiedenen Ehefrau. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. November 2015 abgewiesen.
Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 1.) noch wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO; 2.) oder wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; 3.) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
a) Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis zum 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a.F.) für rechtmäßig erachtet.
Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei § 53 Nr. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (a.F.). Da der Kläger den Status nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erworben habe, könne er gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, wobei eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit eine Ausweisung rechtfertigen könne, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Dabei sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren, der eine Einzelfallwürdigung insbesondere auch der durch Art. 8 EMRK geschützten Rechtspositionen verlange. Der Kläger genieße auch den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (a.F.).
Die Beklagte sei daher zutreffend von einer Ermessensentscheidung ausgegangen. Diese sei nicht zu beanstanden. Die Straftat, wegen der der Kläger verurteilt worden sei – Mord –, stelle eine besonders schwerwiegende, das Grundinteresse der Gesellschaft berührende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar. Auch habe die Beklagte zutreffend bejaht, dass die ernsthafte Gefahr einer vergleichbaren Straftat durch den Kläger nach der Haftentlassung bestehe. Bereits im Januar 2010 habe der Kläger eine schwere Gewalttat gegen seine Ehefrau und seine damals 16jährige Tochter verübt und sei deswegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Zudem sei der Kläger vorher bereits dreimal wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden. Schließlich habe er am 12. Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf brutale Weise ermordet. Das Verhalten des Klägers zeige, dass er in der Lage sei, gegenüber ihm nahestehenden Personen über Jahre hinweg seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen; es zeige eine ausgesprochene Verachtung gegenüber der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der mit ihm in Familiengemeinschaft lebenden, aber auch fremden Menschen. Der psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren habe ausgeführt, dass beim Kläger eine Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen vorliege; hinzu kämen Selbstunsicherheit, Eifersucht, Anspruchsdenken, reizbares, aggressives und streitsüchtiges Verhalten. Dass der Kläger in der Haft an einem „Projekt für Langstrafige zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen habe, könne die Wiederholungsgefahr nicht beseitigen.
Die Ausweisung sei auch mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Die Beklagte habe zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger durch seine Gewalttat seinen Kindern die Mutter genommen habe und diese die gewaltsamen Vorkommnisse in der Ehe und der Zeit danach bewusst miterlebt hätten. Zu seiner Tochter habe der Kläger schon immer ein sehr angespanntes Verhältnis gehabt, er habe sie auch geschlagen; sie sei volljährig und auf seinen Beistand nicht mehr angewiesen. Die Beziehung zu seinem 14jährigen Sohn sei intakt und schutzwürdig, allerdings beschränkten sich die Kontakte auf telefonische und briefliche Kontakte sowie Besuche in der Vollzugsanstalt. Bei einer möglichen Entlassung nach 15 Jahren werde der Sohn längst volljährig sein. Auch unter den anderen einschlägigen Gesichtspunkten sei die Ausweisung verhältnismäßig.
b) Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant (Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 57; vgl. auch BVerwG, B.v. 15.12.2003 – 7 AV 2.03 – NVwZ 2004, 744).
Der Senat hat daher das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 12. November 2015 unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens – mangels entgegenstehender Übergangsregelung – anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung zu überprüfen. Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ausweisung ist nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
c) Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei rechtmäßig, gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung, im Ergebnis nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger nur unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ausgewiesen werden darf. Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, auf den sich der Kläger beruft, ist hier nicht einschlägig, da diese Rechtsstellung die Erteilung eines entsprechenden nationalen Aufenthaltstitels voraussetzt, der nur auf Antrag erteilt wird (Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1, Abs. 3, Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG). Eine solche Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU nach § 9a AufenthG hat der Kläger nicht besessen. Im Ergebnis genießt er aber den gleichen „Ausweisungsschutz“, denn auch als Aufenthaltsberechtigter nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei darf er – ebenso wie ein Besitzer der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU – gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
Aufgrund der Verurteilung des Klägers wegen des Mordes an seiner früheren Ehefrau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (und wegen der vorangegangenen Verurteilung wegen Körperverletzungsdelikten u.a. zum Nachteil seiner früheren Ehefrau und seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung) wiegt das Ausweisungsinteresse im Fall des Klägers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer.
Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch in diesem Fall stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 26).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Der Kläger hat mit seinem Vortrag in der Zulassungsbegründung die diesen Anforderungen entsprechende Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass von ihm auch weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (UA S. 30-34), nicht durchgreifend in Frage gestellt.
(1) Der Kläger bringt zunächst vor, er habe gemäß dem von der Justizvollzugsanstalt abgegebenen Persönlichkeitsbild bereits eine positive Entwicklung erkennen lassen. Während seines über vierjährigen Aufenthalts dort habe er sich bereits gut integriert und ein enges Verhältnis zum Wachpersonal aufgebaut. Trotz seines nicht unerheblichen Delikts habe er sich anstaltsintern hochgearbeitet und trotz seiner geringen fachlichen Qualifikation bis zu seinem Arbeitsunfall eine Vorarbeiterstellung innegehabt. Bereits die ersten Jahre seiner Inhaftierung hätten enorm zu seiner Resozialisierung beigetragen; diese Entwicklung werde sich auch im Verlauf der weiteren Haftzeit fortsetzen. In der Haft habe er auch an einer „Therapie mit Langstrafigen zu Beginn der Haftzeit“ teilgenommen; auch sei eine Therapie im Rahmen therapeutischer Einzelgespräche sowie einer Gruppensitzung erfolgt. Er sei in der Haft nie disziplinarisch aufgefallen, im Gegenteil habe er sich aufgrund des einschneidenden Erlebnisses der Verurteilung sowie der langen Haftstrafe in seinem Verhalten erheblich geändert.
Damit kann der Kläger aber die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht entkräften. Der Kläger ist seit 1989 wiederholt wegen Gewalt-, aber auch Betäubungsmitteldelikten polizeilich auffällig geworden und mehrfach auch verurteilt worden und hat schließlich im Februar 2011 seine geschiedene Ehefrau auf außerordentlich brutale Weise getötet. Das im Strafurteil des Landgerichts vom 30. November 2012 ausführlich wiedergegebene psychiatrische Sachverständigengutachten (Bl. 682 ff. der Behördenakten), auf das sich auch das Verwaltungsgericht gestützt hat (UA S. 33), stellt beim Kläger eine sog. Persönlichkeitsakzentuierung mit überwiegend selbstsunsicheren, dependenten, narzisstischen und von emotionaler Instabilität geprägten Charakterzügen fest, welche beim Auftreten von Konflikten oder narzisstischen Kränkungen wiederholt in Form eines streitsüchtigen, reizbaren oder auch aggressiven Verhaltens zu Tage getreten seien und sich vornehmlich auf nahe Bezugspersonen und hier insbesondere auf die (frühere) Ehefrau konzentriert hätten. Die vom Kläger aufgrund dieser Charakterzüge ausgehende Gefahr kann nicht mit dem Verweis auf das – ohnehin zu erwartende – Wohlverhalten im Justizvollzug relativiert werden. Eine erfolgreiche therapeutische Behandlung der beschriebenen Defizite ist trotz der von den Betreuungspersonen in der Justizvollzugsanstalt positiv gewürdigten Fortschritte des Klägers (vgl. Bericht der JVA vom 30.10.2015, Bl. 141 ff. der VG-Akte) nicht feststellbar.
(2) Weiter trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Gefahrenprognose außer Acht gelassen, dass er frühestens nach 15 Jahren aus der Haft entlassen werden könne; auch eine solche Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung setze voraus, dass das Strafvollstreckungsgericht eine positive Prognose hinsichtlich einer Wiederholungsgefahr getroffen habe. Es ergebe sich ein Wertungswiderspruch, wenn das Verwaltungsgericht dem Kläger bescheinige, dass von ihm nach Haftentlassung weiter die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgehe, während eine Haftentlassung nur dann erfolgen könne, wenn das Strafvollstreckungsgericht zu der – nach frühestens 15 Jahren Haftzeit möglichen – Prognose komme, dass der Kläger keine weiteren Straftaten mehr begehe.
Maßgeblich für die vorzunehmende Gefahrenprognose ist jedoch, wie oben (1.b) ausgeführt, der Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung; es kommt darauf an, ob von dem Kläger „gegenwärtig“ eine schwerwiegende, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das ist, wie dargelegt, zu bejahen. Es ist nicht erforderlich, mit der aufenthaltsrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt einer möglichen Entlassung nach Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abzuwarten. Dass sich der Kläger ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, schließt nicht aus, dass sein Verhalten eine tatsächliche und gegenwärtige, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr darstellen kann, da dieser Umstand keinen Bezug zu seinem persönlichen Verhalten hat (EuGH, U.v. 13.7.2017 – C-193/16 – juris).
d) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.).
Im Fall des Klägers liegt aufgrund seiner Verurteilungen ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG vor; sein Bleibeinteresse wiegt nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG ebenfalls besonders schwer. Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei ermessensfehlerfrei und verhältnismäßig, begegnet auch unter dem Blickwinkel der Abwägung im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG keinen ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit. Das Verwaltungsgericht hat bei der vom Kläger angegriffenen Entscheidung sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte im Rahmen der Nachprüfung der Ermessensentscheidung berücksichtigt, die nach neuer Rechtslage auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie in nicht zu beanstandender Weise auch im Hinblick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK gewichtet.
Der Kläger hat in der Begründung des Zulassungsantrags insoweit keine Einwendungen vorgebracht.
2. Auch der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt nicht vor.
Eine Rechtssache weist besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn die Angriffe des Rechtsmittelführers begründeten Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung geben, die sich nicht ohne Weiteres im Zulassungsverfahren klären lassen, sondern die Durchführung eines Berufungsverfahrens erfordern (Seibert in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 124 Rn. 106).
Dies ist hier schon nicht nachvollziehbar dargelegt. Der Kläger verweist lediglich auf einige Aspekte, die im vorliegenden Fall – und ebenso in einer Vielzahl anderer Ausweisungsfälle – zu berücksichtigen sind, nämlich den Ausweisungsschutz aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei, die Eigenschaft als faktischer Inländer, seine familiären Bindungen und schließlich auf den Prognosemaßstab hinsichtlich seiner fortdauernden Gefährlichkeit. Zu einigen dieser Punkte, wie seinen langjährigen Aufenthalt („faktischer Inländer“) und seinen familiären Bindungen, hat der Kläger im Zulassungsverfahren nichts Detailliertes vorgetragen, was besondere Schwierigkeiten aufwerfen könnte; soweit auf die sich aus der Rechtsstellung aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei sich ergebenden Maßstäbe für die Gefahrenprognose hingewiesen wird, lässt sich diese Frage – wie oben gezeigt – ohne weiteres in Anwendung des § 53 Abs. 3 AufenthG im Zulassungsverfahren beantworten.
3. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.
Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.
Diesen Anforderungen genügt weder der pauschale, völlig unbestimmte Hinweis auf „oben genannte“ Ausführungen noch die Bezugnahme auf die „Prognosekollision“ bei zu einer lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten; wie oben gezeigt (1. c) existiert eine solche „Prognosekollision“ nicht.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren und Beiordnung des Bevollmächtigten ist abzulehnen, weil das Rechtsmittel aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 121 ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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