Aktenzeichen M 12 K 20.2194
EMRK Art. 8
AufenthG § 11, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 9
ARB 1/80 Art. 7 S. 1, Art. 13
Leitsatz
1. Eine Gefahr iSd § 53 Abs. 3 AufenthG liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an den geschützten Rechtsgütern eintreten wird, namentlich mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen ist. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es spricht viel dafür, § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen analog anzuwenden. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Stellung als „faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung jedoch nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall. (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg.
I. Der Bescheid des Beklagten vom 20. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO.
1. Die Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland ist rechtmäßig.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
a) Rechtsgrundlage für die Ausweisung des Klägers ist § 53 Abs. 1 bis 3 Aufenthaltsgesetz – AufenthG.
aa) Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
Dem Kläger kommt jedenfalls ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, da sein Vater seit dem Jahr 1991 durchgehend als Arbeitnehmer bei der F-GmbH beschäftigt ist und der Kläger mehr als drei Jahre mit seinem Vater in häuslicher Gemeinschaft lebte. Das einmal erworbene assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist auch weder durch die erreichte Volljährigkeit des Klägers noch durch die Inhaftierung entfallen (vgl. EuGH, U.v. 7.7.2005 – C-373/03 – NVwZ 2005, 1292).
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auch mit Blick auf Art. 13 ARB 1/80 (sog. Stillhalteklausel) keine Bedenken bestehen, weil sich die materiellen Anforderungen, unter denen diese Personen ausgewiesen werden dürfen, nicht zu ihren Lasten geändert haben und jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28; B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 14; B.v. 11.7.2016 – 10 ZB 15.837 – Rn. 11 jeweils m.w.N.).
bb) Es liegt eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, vor.
Eine Gefahr liegt vor, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an den geschützten Rechtsgütern eintreten wird, namentlich mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen ist (Bauer/Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 53 AufenthG Rn. 26). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit ist nicht gleichbedeutend mit einer „gegenwärtigen Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts. Der Eintritt eines Schadens muss nicht sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten sein. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung beeinträchtigen wird (Fleuß in: BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG, Rn. 116). Das Bestehen einer derartigen Wiederholungsgefahr kann nicht gleichsam automatisch bereits aus der Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung geschlossen werden. Die Beurteilung, ob Art und Schwere des persönlichen Verhaltens des Drittstaatsangehörigen die Annahme einer Gefahr neuerlicher erheblicher Verfehlungen begründen, bedingt vielmehr stets eine unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Bewertung des persönlichen Verhaltens des Unionsbürgers und eine daran anknüpfende aktuelle Gefährdungsprognose. Dabei sind insbesondere die einschlägigen strafrichterlichen Entscheidungen heranzuziehen, soweit sie für die Prüfung der Wiederholungsgefahr bedeutsam sind. Zu prüfen ist u.a., ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdenden Straftaten mehr begangen werden, und was ggf. aus einer Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB) folgt (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 26).
Aufgrund der Formulierung in § 53 Abs. 3 AufenthG, dass das persönliche Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr darstellen muss, ist nur eine spezialpräventiv begründete Ausweisung zulässig. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der insoweit anzustellenden Gefahrenprognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Dabei gilt für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16 m.w.N.). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O. Rn. 18).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus.
Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers wegen gefährlicher Körperverletzung am … Juni 2019. Der abgeurteilten Tat ging zwar voraus, dass der Geschädigte sich einer Jugendlichen der Wohnsiedlung des Klägers aufdrängte und im Verdacht stand, an den jüngeren Bruder des Klägers Drogen abgegeben zu haben. Dies vermag jedoch die vom Kläger verübte Selbstjustiz nicht ansatzweise zu rechtfertigen. Anstatt die Polizei zu informieren, schlug der Kläger den Geschädigten mehrmals und hielt ihm ein mitgeführtes Messer an den Hals, wodurch der Geschädigte infolge einer Eigenbewegung eine erhebliche Schnittverletzung am Hals erlitt. Der Kläger nahm dabei auch einen tödlichen Ausgang billigend in Kauf. Anstatt vom Geschädigten sofort abzulassen, trat und schubste der Kläger diesen noch mehrmals und fuchtelte weiter mit dem Messer herum. Zwar nahm der Kläger davon Abstand, dem Geschädigten weitere tödliche Verletzungen zuzufügen. Auch wenn man die alkoholbedingte Enthemmung des Klägers berücksichtigt, ist die Brutalität der Tatausführung jedoch mehr als beachtlich. Auch ist zu sehen, dass der Kläger bereits mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten sowie Nötigung in Erscheinung getreten ist. Auch bei diesen Taten zeigte er jeweils ein erhebliches Aggressionspotential und ließ diesem auch gegenüber der Mutter seines Sohnes freien Lauf. Der Kläger wies in der Vergangenheit eine erhebliche Rückfallgeschwindigkeit auf, seit dem Jahr 2011 verging nahezu kein Jahr, ohne dass strafrechtliche Verfahren – wenn auch teilweise aus Opportunitätsgründen eingestellt – gegen den Kläger anhängig waren. Insgesamt wurde der Kläger sechsmal verurteilt. Weder die Strafverfahren noch die vorangegangenen Verurteilungen haben den Kläger nachhaltig beeindruckt und von der Begehung der Anlasstat abgehalten. Hinzu kommt, dass der Kläger nach Haftentlassung in das gleiche Umfeld zurückgekehrt ist, in dem er zuvor erheblich straffällig geworden ist. Die Anbindung an seine Familie konnte ihn auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abhalten. Auch die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung durch Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … beim Amtsgericht … vom … Juli 2020 stellt die Annahme einer sicherheitsrechtlichen Gefahr nicht durchgreifend in Frage. Diese stellte insbesondere auf den geläuterten Eindruck ab, den der Kläger machte. Dieser Einschätzung vermag sich die Kammer aufgrund der im Anhörungsverfahren erfolgten Relativierung der Tat, dass er angegriffen worden sei, und nach dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck nicht anzuschließen. Das abgeschlossene Anti-Gewalt-Training geht zur Überzeugung der Kammer nicht auf eine intrinsische Motivation zurück. Denn der Kläger hat sich erst nach der erfolgten Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung angemeldet. Darüber hinaus hat er bisher nicht bewiesen, dass er auch außerhalb des geschützten Haftraums Konflikte ohne Gewalt lösen kann. Angesichts der bedrohten hochrangigen Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit sind auch geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Schadenseintritts zu stellen. In der Gesamtschau ist weiterhin von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen.
Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist jedenfalls berührt bei der Gefahr von erheblichen oder schweren Straftaten, wie etwa von Gewalt- oder Sexualdelikten oder Eigentums- oder Vermögensdelikten von nicht nur unerheblichem Ausmaß (Katzer in: BeckOK MigR, 5. Ed. 1.7.2020, § 53 AufenthG Rn. 72). Dies ist beim Kläger, der wegen einer erheblichen Gewaltstraftat verurteilt wurde, der Fall. Hinzu kommt, dass der Kläger nicht einmal davor zurückschreckt, den tödlichen Ausgang seiner Körperverletzungshandlungen billigend in Kauf zu nehmen, so dass auch schwerwiegendere Folgen nicht auszuschließen sind.
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
aa) Es besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a Buchst. b) AufenthG, da der Kläger wegen einer gegen die körperliche Unversehrtheit gerichteten Straftat zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Zudem liegt angesichts der Vielzahl strafrechtlicher Verurteilungen auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor.
bb) Demgegenüber besteht zwar nach dem Wortlaut kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, weil sich der Kläger seit November 2018 nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis befunden hat. Allerdings ist der Kläger als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nach Art. 7 ARB 1/80 kraft Unionsrecht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt; der nach § 4 Abs. 2 AufenthG auf Antrag auszustellende Aufenthaltstitel hat daher nur deklaratorische Wirkung. Es spricht daher viel dafür, § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf diese Fälle analog anzuwenden (vgl. VG Sigmaringen, U.v. 12.12.2017 – 4 K 877/17 – BeckRS 2017, 145796 Rn. 37). Jedenfalls ist die Tatsache, dass es sich beim Kläger um einen sog. „faktischen Inländer“ handelt, mit dem entsprechenden Gewicht in die Abwägung einzustellen (s.u.). Daneben besteht ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG, weil die Belange eines Kindes zu berücksichtigen sind. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kommt dagegen nicht in Betracht. Der einmalige Kontakt mit dem Sohn am Tag vor der mündlichen Verhandlung nach mehrjähriger Abwesenheit ist nicht ausreichend, um die Ausübung des Personensorge- oder Umgangsrechts anzunehmen.
cc) Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2
AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegen die Ausweisungsinteressen die Interessen des Klägers an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
(1) Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14).
(2) Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff wie durch die §§ 53 ff. AufenthG gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, Vor §§ 53-56 Rn. 98 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
(3) Der Kläger ist dabei als „faktischer Inländer“ zu behandeln. Als solcher wird ein Ausländer bezeichnet, der sich lange im Bundesgebiet aufgehalten und seine wesentliche Prägung und Entwicklung hier erfahren hat (BayVGH, B.v. 1.2.2017 – 10 ZB 16.1991 – BeckRS 2017, 102469 Rn. 7). Dies ist beim Kläger, der im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, der Fall. Die Stellung als „faktischer Inländer“ verhindert die Ausweisung jedoch nicht von vornherein, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. EGMR, U.v. 13.10.2011 – Nr. 41548/06, Trabelsi – juris Rn. 53; BayVGH, a.a.O.).
(4) Selbst unter den insoweit strengeren Maßstäben stellt sich die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig dar.
Der Kläger lebt zwar seit seiner Geburt im Bundesgebiet, hat hier die Schule besucht und abgeschlossen und befand sich vor seiner Inhaftierung – wenn auch noch nicht lange – in einer festen Anstellung. Er hat jedoch keine Berufsausbildung und war als Produktionsmitarbeiter im geringqualifizierten Bereich beschäftigt. Zwar leben der Vater und die Brüder des Klägers im Bundesgebiet. Der Kläger ist als erwachsener Mann jedoch nicht mehr auf den Beistand und die Unterstützung durch seinen Vater und die Brüder angewiesen, umgekehrt ist auch nicht ersichtlich, dass diese zwingend auf den Kläger angewiesen wären. Diesen Bindungen kommt daher kein durchgreifendes Gewicht zu (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – BeckRS 2020, 1236 Rn. 7 m.w.N.). Zudem kann der Kläger zu diesen auch mittels moderner Kommunikationsmittel von der Türkei aus Kontakt halten. Zum deutschen Sohn hat der Kläger seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr, für das Kind stellt sich die Abwesenheit des Klägers vielmehr als der Normalfall dar. Dass der Kläger seinen Sohn einen Tag vor der mündlichen Verhandlung besucht haben will, genügt für die Annahme einer schützenswerten Vater-Kind-Beziehung nicht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Vergangenheit nicht einmal seinen Unterhaltspflichten nachgekommen ist und nach Auskunft der Stadt … insoweit auch nicht kooperationsbereit war. Zudem ist zu sehen, dass der Kläger, trotz der Geburt des Kindes, erheblich straffällig geworden ist und auch die Kindsmutter massiv bedrängt hat. Dass sich durch die Schwangerschaft eine grundlegende Änderung seines Lebenswandels eingestellt hatte, ist vor diesem Hintergrund wenig überzeugend. Auch ist es nicht glaubhaft, dass der Kläger die türkische Sprache nicht beherrscht und keinerlei Beziehungen zur Türkei hat. Zum einen ist der Kläger bei seinen in der Türkei geboren Eltern aufgewachsen, die ihm sicherlich auch die türkische Sprache und die türkischen Sitten und Gebräuche vermittelt haben. Nach den Feststellungen des Oberlandesgericht München im Beschluss vom … April 2019 hat sich der Kläger während der Krankheit der Mutter zudem mehrere Monate in der Türkei aufgehalten. Auch ist er mehrere Jahre auf ein Internat des Islamischen Zentrums in … gegangen. Daher stehen dem Aufbau einer Existenz in der Türkei keine unüberbrückbaren sprachlichen Barrieren entgegen. Auch kulturelle Hürden kann der Kläger mit einiger zumutbarer Anstrengung überwinden und sich in der Türkei integrieren, zumal sich die Lebensumstände in den größeren Städten der Türkei nicht derart erheblich von denen in Europa unterscheiden. Es ist dem Kläger auch zuzumuten, dass er seine Kenntnisse des Türkischen aufbessert. Der Kläger ist jung, gesund und arbeitsfähig, so dass es ihm auch gelingen wird, sich in den türkischen Arbeitsmarkt zu integrieren, insbesondere angesichts seiner guten Deutschkenntnisse in den Tourismusgebieten. Die Ausweisung ist das Ergebnis einer sich stetig steigernden Delinquenz des Klägers, der sich die strafrechtlichen Verurteilungen in der Vergangenheit nicht zur Warnung hat dienen lassen. An der Verhinderung von Gewaltstraftaten besteht ein erhebliches öffentliches Interesse.
Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Vielzahl und Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden, zumal der Kläger in der Vergangenheit durch zahlreiche Geldstrafen und weitere Strafverfahren bereits mehrfach die Chance hatte, zu einem rechtstreuen Verhalten zurückzukehren. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
2. Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von vier Jahren ist nicht zu beanstanden.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen, das mit der Ausweisungsverfügung angeordnet werden soll, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Nach diesen Grundsätzen ist die Befristung auf vier Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von vier Jahren nicht zu beanstanden. Die Frist hält sich im unteren Bereich des eröffneten Rahmens. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Die Abschiebungsandrohung unter Gewährung einer zweiwöchigen Ausreisefrist ab Bestandskraft der Ausweisungsverfügung entspricht §§ 58, 59 AufenthG und ist daher nicht zu beanstanden. Die Androhung der Abschiebung aus der Haft hat sich mit Haftentlassung ohnehin erledigt.
II. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.