Aktenzeichen M 10 K 16.320
Leitsatz
1 Eine nach altem Recht verfügte Ermessensausweisung wird nach der seit 1. Januar 2016 geltenden neuen Rechtslage nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt gültigen gesetzlichen Anforderungen entspricht. (redaktioneller Leitsatz)
2 Mit der Einführung des seit dem 1. Januar 2016 anwendbaren Ausweisungsrechts geht keine grundsätzliche Verschlechterung der Rechtsposition eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen einher. (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei einem assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, der bis zu seiner Ausweisung einen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis hatte, im Bundesgebiet geboren ist und sich hier mehr als fünf Jahre rechtmäßig aufgehalten hat, ist von einem schwerwiegenden Bleibeinteresse auszugehen. Denn er ist dem “faktischen Inländer” gleichzustellen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.
Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
I.
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 30. Dezember 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Beklagte hat den Kläger zu Recht unter Verhängung eines fünfjährigen Wiedereinreiseverbots aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Erlöschen seines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts festgestellt sowie seinen Antrag auf Ausstellung bzw. Erteilung eines Aufenthaltstitels abgelehnt und schließlich seine Abschiebung aus der Haft angeordnet bzw. ihn unter Androhung der Abschiebung verpflichtet, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Haftentlassung zu verlassen.
Die unter Ziffer 1 des Bescheids vom 30. Dezember 2015 ausgesprochene Ausweisung ist rechtmäßig.
1. Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers ist an den im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff. AufenthG, also in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl I S. 1386), zu messen (1. a). Die neue Rechtslage kann ohne Verstoß gegen Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (nachfolgend: ARB 1/80) angewendet werden (1. b).
a) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U. v. 15.11.2007 – 1 C 45.06 – juris Rn. 12; U. v. 13.1.2009 – 1 C 2.08 – juris Rn. 12 und U. v. 30.7.2013 – 1 C 9/12 – juris Rn. 8).
Eine während des Klageverfahrens bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung eingetretene Änderung der Sach- und Rechtslage ist daher zu berücksichtigen. Das Gericht hat dementsprechend die streitbefangene Ausweisungsverfügung mangels entgegenstehender Übergangsregelung anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl I S. 1386) zu überprüfen (BayVGH, U. v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 25).
Seit dieser Rechtsänderung differenziert das Aufenthaltsgesetz nicht mehr zwischen der zwingenden Ausweisung, der Ausweisung im Regelfall und der Ermessensausweisung, sondern verlangt für eine Ausweisung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die für ein Ermessen der Ausländerbehörde keinen Raum mehr lässt. Die Ausweisungsentscheidung ist durch das Gericht in vollem Umfang nachprüfbar (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49 ff.; BayVGH, U. v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 26; VGH Baden-Württemberg, U. v. 13.1.2016 – 11 S 889/15 – juris Rn. 49).
Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ermessensausweisung wird nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG (als Grundtatbestand; vgl. die Gesetzesbegründung a. a. O. S. 49 f.) der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach ARB 1/80 zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
Diese Sonderregelung modifiziert für die dort genannten Personengruppen den Ausweisungsmaßstab – tatbestandlich – im Sinne erhöhter Anforderungen an das Gewicht der drohenden Rechtsgutsverletzung, indem sie die Ausweisung nur aus spezialpräventiven Gründen zulässt; dabei ist aber auch in diesem Rahmen – mit dem genannten geänderten Maßstab – eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmen (Gesetzesbegründung a. a. O. S. 49 f.; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, U. v. 13.1.2016 a. a. O.; VG Düsseldorf, U. v. 11.2.2016 – 8 K 1493/15 – juris Rn. 45 f.).
Dabei gibt die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG exakt die Voraussetzungen wieder, die nach ständiger Rechtsprechung (z. B. EuGH, U. v. 8.12.2011 – Rs. C – 371/08 Ziebell – juris Rn. 80; BayVGH‚ U. v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen erfüllt sein mussten.
b) Da der Kläger als Kind eines türkischen Arbeitnehmers im Bundesgebiet geboren wurde und fortwährend bei seinen Eltern gelebt hat, hat er eine Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 und mithin ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei erworben, mit der Folge, dass ihm erhöhter Schutz im Sinne des modifizierten Ausweisungsmaßstabs nach § 53 Abs. 3 AufenthG zukommt.
Auch findet für ihn damit grundsätzlich auch das in Art. 13 ARB 1/80 enthaltenen Verschlechterungsverbots (sog. Stillhalteklausel) Anwendung. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen unterworfen wird als denjenigen, die bei Inkrafttreten der Bestimmung am 1. Dezember 1980 in dem Mitgliedstaat galten (vgl. BVerwG, U. v. 28.4.2015 – 1 C 21. 14 – InfAuslR 2015, 327).
Allerdings bestehen auch mit Blick auf diese Bestimmung keine Bedenken gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Geht man davon aus, dass Art. 13 ARB 1/80 auch im Zusammenhang mit der Änderung nationaler Ausweisungsvorschriften Gültigkeit beansprucht, obwohl diese keinen unmittelbaren Bezug zur Regelung des Arbeitsmarktzugangs aufweisen (vgl. hierzu Hailbronner, AuslR, Stand: Januar 2016, D 5.2, Art. 13 Rn. 10 f.), geht mit der Einführung des zum 1. Januar 2016 anwendbaren Ausweisungsrechts keine grundsätzliche Verschlechterung der Rechtsposition eines unter dem Schutz von Art. 14 ARB 1/80 stehenden türkischen Staatsangehörigen einher. Denn er kann auch künftig ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen und nur dann ausgewiesen werden, wenn sein Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. § 53 Abs. 3 AufenthG); außerdem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wie sich aus § 53 Abs. 3 letzter Halbsatz AufenthG und dem System von § 53 Abs. 2 i. V. m. §§ 54, 55 AufenthG ergibt. Dabei sind unter Abwägung der gegenläufigen Interessen alle Umstände und Besonderheiten des konkreten Einzelfalls einzustellen (Bauer in Bergmann/Dienelt, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 56 f.; bisher schon: BVerwG, U. v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – InfAuslR 2010, 3), so dass sich die materiellen Anforderungen, unter denen ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger ausgewiesen werden darf, nicht zu seinen Lasten geändert haben. Dass nach dem neuen Recht eine Ausweisung nach Betätigung des ausländerbehördlichen Ermessens nicht mehr in Betracht kommt, ist für einen betroffenen Ausländer nicht ungünstiger; denn es lässt sich schon nicht feststellen, dass es in der Vergangenheit tatsächlich Fälle gab, in denen die Ausländerbehörde von einer eigentlich möglichen Ausweisung aus Ermessensgründen Abstand genommen hat (BayVGH, U. v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28 m. w. N.). Im Übrigen ermöglicht das neue Ausweisungsrecht eine volle gerichtliche Kontrolle der Ausweisungsentscheidung, so dass jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist; der Verlust der Ermessensebene wird durch die nunmehr umfassende gerichtliche Kontrollpflicht in Bezug auf die Frage der Verhältnismäßigkeit aufgewogen (BayVGH, U. v. 8.3.2016 a. a. O. Rn. 28; VGH Baden-Württemberg, U. v. 13.1. 2016 – 11 S 889/15 – juris Rn. 151).
2. Die Ausweisung des Klägers ist unter Berücksichtigung des dargelegten Maßstabs rechtmäßig, weil die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig besteht (I. 2. a) und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist (I. 2. b).
a) Gemessen an den unter 1. a) dargestellten Grundsätzen ist die Kammer zu der Überzeugung (§ 108 Abs.1 VwGO) gelangt, dass nach dem Gesamtbild des Klägers, das in erster Linie durch sein Verhalten gekennzeichnet ist, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass er erneut Straftaten begehen wird und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt. Die nach § 53 Abs. 1, 3 AufenthG vorausgesetzte erhöhte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist beim Kläger zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gegeben. Seine diesbezüglichen Einwendungen greifen letztlich nicht durch. Die Ausweisungsentscheidung hat der Beklagte vor dem Hintergrund des nunmehr von § 53 Abs. 3 AufenthG geforderten persönlichen Verhaltens zu Recht nicht auf generalpräventive Gründe gestützt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z. B. BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U. v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m. w. N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr; vgl. z. B. BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BayVGH, U. v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34). Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Nach diesen Maßgaben ist beim Kläger eine Wiederholungsgefahr zu bejahen. Es ist davon auszugehen, dass er erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare Straftaten beeinträchtigen wird.
Der Kläger ist schon als strafunmündiges Kind polizeilich in Erscheinung getreten. Seit seiner Strafmündigkeit ist er fünfmal strafgerichtlich verurteilt worden. Die abgeurteilten Delikte reichen über Diebstahl, Hehlerei, Hausfriedensbruch, Fahren ohne Fahrerlaubnis, unerlaubten Führens einer Waffe, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln bis hin zur Sachbeschädigung und Körperverletzung. Dabei ist eine zunehmende Rückfallgeschwindigkeit zu verzeichnen. Auch hat sich der Kläger durch die jeweils vorangegangenen Verurteilungen nicht davon abhalten lassen, erneut straffällig zu werden. So beging er die fünf tatmehrheitlichen Diebstähle, die mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – Mühldorf am Inn vom 1. Juli 2014 mit der Verhängung einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren 6 Monaten abgeurteilt wurden und die letztlich Anlass der Ausweisungsentscheidung des Beklagten waren, innerhalb offener Bewährungszeit aus dem Urteil des Amtsgerichts Altötting vom 16. Oktober 2012 (Bewährungszeit bis 24. Oktober 2014).
Insbesondere die der Verurteilung durch das Jugendschöffengericht Mühldorf am Inn vom 1. Juli 2015 zugrunde liegenden Diebstähle lassen eine erhebliche kriminelle Energie des Klägers erkennen, da es sich hierbei um eine gleichsam bandenmäßig organisierte Einbruchsserie in Kindergärten, Schulen und andere Gebäude im Landkreis … handelte, die zu erheblichen Sach- und Beuteschäden führte. Der Kläger hat sich aber nicht nur die Bewährung nicht als Warnung gereichen lassen, selbst während der Verbüßung der Haftstrafe aufgrund des Urteils des Jugendschöffengerichts Mühldorf vom 1. Juli 2014 zunächst in der Justizvollzugsanstalt … ist er erneut straffällig geworden durch den Erwerb von Betäubungsmitteln in Mittäterschaft; infolge dessen verhängte das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Laufen im Urteil vom 19. Januar 2016 eine Einheitsjugendstrafe von nunmehr 2 Jahren und 8 Monaten. Insbesondere hieraus zeigt sich eine andauernde Missachtung der deutschen Rechtsordnung; die Jugendgerichte haben dem Kläger auch schädliche Neigungen attestiert.
Ein grundlegendes Umdenken im Sinne einer Nachreife des Klägers hat auch nach dem Führungsbericht vom 13. April 2016 des Anstaltsleiters der Justizvollzugsanstalt …, in die der Kläger aufgrund des Betäubungsmittelvergehens verlegt worden ist, nicht stattgefunden. Ebenso wie zuvor in der JVA … ist der Kläger in … mehrfach disziplinarisch auffällig geworden. Der bisherige Haftverlauf wird als ambivalent bezeichnet, weil sich der Kläger zwar überwiegend, aber eben nur teilweise als haftempfindlich erwiesen hat; die Sozialprognose wird nur bedingt als günstig erachtet, namentlich wenn der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich durchlaufe, seine Ausbildung abschließe und sich konsequent von der Gruppe „gleichaltriger delinquenter Heranwachsender“ fernhalte.
Das Gericht ist der Überzeugung, dass diese Bedingungen jedenfalls derzeit nicht erfüllt sind.
Der Kläger hat nach wie vor keinen Schulabschluss; ob er seine Schlosserausbildung abschließen wird, ist derzeit offen. Zunächst hat er im Strafvollzug zwar motiviert und sorgfältig gearbeitet, was aber laut dem Führungsbericht zuletzt nachgelassen hat.
Bei der Firma … Produktionsservice GmbH hatte der Kläger vor seiner Haftung insgesamt nur knapp vier Monate lang als Hochdruckreiniger-Helfer gearbeitet. Zwar hat die … GmbH mit Schreiben vom 19. April 2016 angekündigt, dass sie den Kläger nach seiner Haftentlassung wieder beschäftigen würde. Eine Ausbildungsperspektive folgt aus diesem Schreiben aber nicht. Im Übrigen kommt ihm ohnehin keinerlei rechtliche Verbindlichkeit zu, so dass nach der Haftentlassung des Klägers weder eine Sicherung seiner eigenständigen wirtschaftlichen Existenz besteht, noch gewährleistet ist, dass er nicht weiterhin den ganzen Tag mit seinen Freunden „abhängt“.
Hinzu kommt das ungeklärte Drogenproblem des Klägers, dessen Fortbestehen sich insbesondere in dem Marihuana-Konsum in der JVA … zeigt.
Zwar nimmt der Kläger derzeit in … an einer Therapievorbereitungsgruppe zur Vorbereitung einer stationären Drogentherapie teil. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger jedoch angegeben, dass diese Therapie für ihn nur präventiven Charakter habe. In dieser Aussage kommt zum Ausdruck, dass eine Auseinandersetzung des Klägers mit seiner vermutlichen Drogensucht als Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie noch nicht stattgefunden hat.
Mit dem Beklagten geht das Gericht auch davon aus, dass die Familie des Klägers nach seiner Haftentlassung nicht einen solchen positiven Einfluss auf ihn wird ausüben können, dass er sich zukünftig straffrei verhält. Die Bemühungen insbesondere des Vaters haben schon bei dem Kläger als Kind keinen Erfolg gehabt; dass er seinen nunmehr erwachsenen Sohn „in den Griff“ bekommt, hält das Gericht für sehr unwahrscheinlich.
Das größte Problem im Hinblick auf eine günstige Sozialprognose ist nach Auffassung der Kammer das Erfordernis einer dauerhaften Distanzierung des Klägers von der Gruppe „gleichaltriger delinquenter Heranwachsender“, wie der Führungsbericht der JVA … den Freundeskreis des Klägers bezeichnet. Mit diesen Freunden hat der Kläger nach eigener Einlassung in der mündlichen Verhandlung bereits mit 16/17 Jahren angefangen, Drogen zu konsumieren; mit ihnen hat er auch die abgeurteilten Straftaten, insbesondere die Einbruchsserie, begangen. Auch der Marihuana-Konsum in der JVA erfolgte in entsprechender Mittäterschaft.
Dass sich der Kläger nach einer Haftentlassung dauerhaft von diesem nach wie vor gegebenen Umfeld distanzieren könnte, ist nach Auffassung des Gerichts nicht anzunehmen. So hat sich der Kläger nach eigenem Vortrag von seinem Freund R.D. auch in der Haft verleiten lassen, Marihuana zu konsumieren, das R.D verabredungsgemäß von einem Freigang mitgebracht hatte.
Auch die vom Klägervertreter insoweit geltend gemachte positive Entwicklung des Klägers während der Haft, die sich insbesondere darin zeige, dass er den halbjährigen Grundlehrgang Konstruktionsmechanik mit durchaus guten Noten abgeschlossen habe und nunmehr eine Ausbildung zum Schlosser mache, sowie der Umstand, dass an einer Suchtberatung und bei Gesprächen im Rahmen einer Drogengruppe teilnehme, lassen die angenommene Wiederholungsgefahr nicht entfallen.
Das Gericht verkennt nicht, dass sich im Hinblick auf die persönliche Entwicklung des Klägers im Strafvollzug durchaus auch positive Ansätze gezeigt haben wie insbesondere die am Anfang seiner Ausbildung zu Tage getretene Motivation und Sorgfalt bei der Arbeit. Eine umfassende Nachreife des Klägers dergestalt, dass er den Vollzug dazu genutzt hat, sich mit seinem bisherigen Verhalten auseinanderzusetzen, und er sich nunmehr nachhaltig davon distanzieren will, kann das Gericht insbesondere auch unter Berücksichtigung des bereits zitierten Berichts der Justizvollzugsanstalt … vom 13. April 2016 nicht erkennen. Vielmehr muss nach dem Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, für die hoch zu bewertenden Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und insbesondere des Eigentums anderer, ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt nach der Überzeugung des Gerichts, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und die Ausweisung auch für die Wahrung des – oben unter I. 2. b – dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist; eine Unverhältnismäßigkeit dieser Entscheidung ergibt sich hier weder unter Berücksichtigung der in §§ 54, 55 AufenthG vertypten gegenläufigen Interessen und der in § 53 Abs. 2 AufenthG – nicht abschließend – aufgeführten Umstände (2. b aa) noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK (2. b bb).
aa) Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresses ergibt sich im Fall des Klägers aus § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da er zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – Laufen vom 19. Januar 2016 (Az. 4 Ls 120 Js 27939/15 jug.) unter Einbeziehung des Urteils vom 1. Juli 2014 wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Mittäterschaft zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren 8 Monaten verurteilt worden ist.
Zu seinen Gunsten besteht nach Auffassung des Gerichts gleichzeitig ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse.
Dem Kläger steht nach dem Wortlaut des § 55 AufenthG zunächst kein “typisiertes“ besonders schweres Bleibeinteresse zur Seite. Zwar ist er im Bundesgebiet geboren und hat sich mehr als fünf Jahre rechtmäßig hier aufgehalten (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), er war aber im Zeitpunkt der Ausweisung nicht (mehr) im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, da diese bereits am 24. Oktober 2014 abgelaufen war. Die bloße Beantragung – hier durch den Kläger unter dem 18. Dezember 2014 bzw. durch seinen Bevollmächtigten unter dem 12. Mai 2015 – steht dem Besitz der Aufenthaltserlaubnis auch unter Berücksichtigung des § 81 Absatz 4 AufenthG grundsätzlich nicht gleich (vgl. Bauer in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016 § 55 Rdn. 4, 6; VGH München, U. v. 4.7.2011 – 19 B 10.1631 – juris Rn. 41 zu § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG 2004).
Jedoch sind die Bleibeinteressen in § 55 AufenthG zwar vertypt und zugleich gewichtet, aber nicht abschließend aufgeführt (Bauer a. a. O.).
Der Kläger war aber bis zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Verfügung des Beklagten vom 30. Dezember 2015 Berechtigter im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Dieses aus Art. 7 ARB 1/80 folgende Aufenthaltsrecht, das den Charakter eines Daueraufenthaltsrechts hat, besteht kraft Gesetzes, so dass eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis nur deklaratorischen Charakter und die Funktion eines Nachweismittels hat. Das wird auch in § 4 Abs. 5 AufenthG anerkannt, der für den Nachweis des Bestehens einer Rechtsposition nach Art. 6 oder Art 7 ARB 1/80 das „Ausstellen“ einer Aufenthaltserlaubnis und nicht deren “Erteilung” vorsieht (vgl. Sußmann in: Bergmann/Dienelt a. a. O. § 4 Rn. 99 m. w. N.). Diese Rechtsposition kann (abschließend) nur durch Ausreise oder – wie hier – gemäß Art. 14 ARB 1/80 mit der Ausweisung (unionsrechtlich: “Verlustfeststellung“) erlöschen (BVerwG, U. v. 25.3.2015 – 1 C 19/14 – BVerwGE 151, 377 = juris Rn. 14 m. w. N., vgl. auch Allgemeine Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei und zu Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen – AAH – ARB 1/80 – Fassung vom 26.11.2013 m. w. N.).
Da der Kläger also bis zum Ausspruch der Ausweisung einen Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis hatte und er – im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – im Bundesgebiet geboren und sich mehr als fünf Jahre rechtmäßig hier aufgehalten hat, ist nach Ansicht des Gerichts bei ihm von einem schwerwiegenden Bleibeinteresse auszugehen, auch wenn der Gesetzgeber diesen Fall nicht ausdrücklich geregelt hat. Denn er ist dem “faktischen Inländer”, wie er mit § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG insbesondere erfasst werden sollte (vgl. die Gesetzesbegründung a. a. O. S. 53), gleichzustellen.
Liegen nach der durch die §§ 54, 55 AufenthG vorgegebenen typisierenden Betrachtung besonders schwerwiegende Gründe vor, die sowohl für die Ausreise des Klägers aus dem Bundesgebiet als auch für seinen weiteren Verbleib sprechen, fällt die in jedem Fall auch im Rahmen des § 53 AufenthG vorzunehmende umfassende Abwägung der gegenläufigen Interessen (§ 53 Abs. 1, 2 AufenthG) hier zu seinen Ungunsten aus.
Bei der unter dieser Prämisse vorzunehmenden Abwägungsentscheidung sind sämtliche nach den Umständen des Einzelfalls maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, nach § 53 Abs. 2 AufenthG insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Klägers in der Bundesrepublik, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen hier und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige sowie seine Straffälligkeit.
Der Kläger ist sog. “faktischer Inländer”. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und hat hier seine wesentliche Prägung und Entwicklung erfahren. Hier leben auch seine nächsten Familienangehörigen, seine Eltern und Brüder sowie weitere Verwandte und Freunde. Die enge Bindung des Klägers zu seinen Eltern kommt insbesondere auch in deren regelmäßigen Besuchen in der JVA zum Ausdruck. Eine eigene Kernfamilie (Ehefrau, Kinder) hat der Kläger noch nicht.
Dem gegenüber zu stellen ist jedoch zulasten des Klägers seine intensive Straffälligkeit (vgl. Strafurteile vom 30.11.2010, 20.2.2012, 16.10.2012, 1.7.2014 und 11.1.2016) sowie sein letztlich ungeklärtes Drogenproblem.
Wenn sich auch gerade die ersten Straftaten des Klägers – seinem Alter entsprechend – als typische Jugendkriminalität darstellen mögen, hat sich die Intensität sowie die Rückfallgeschwindigkeit beständig gesteigert, wobei die verletzten Rechtsgüter breit gefächert sind und insgesamt nicht von bloßen Bagatelldelikten gesprochen werden kann. So ist er u. a. wegen Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit sowie wegen vorsätzlichen unerlaubten Führens einer verbotenen Waffe verurteilt worden. Insbesondere auch die vom Kläger mit seinen Freunden zusammen begangene Einbruchsserie in Gebäude mit sozialen Zwecken über mehrere Monate hinweg zeugt von einiger krimineller Energie.
Zulasten des Klägers ist hier insbesondere hervorzuheben, dass seine Beteiligung an den Diebstählen in offener Bewährung erfolgte und er sogar während des folgenden Strafvollzugs, den das Jugendschöffengericht Mühldorf in seinem Urteil vom 1. Juli 2014 hier als “ultima ratio” ansah, erneut straffällig wurde. Dies beweist, dass ihn weder eine Bewährungsstrafe und nicht einmal die erstmalige Inhaftierung derart beeindruckt haben, dass er künftig ein straffreies Leben führen wird, wie dies in der Klagebegründung behauptet wird. Die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe ist zwar grundsätzlich geeignet, die persönliche Reifung eines Straftäters zu fördern (vgl. BayVGH, U. v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 44); im vorliegenden Fall wurde dieses Ziel jedoch ersichtlich nicht erreicht.
Hinzu kommt das letztlich ungeklärte Drogenproblem des Klägers. Dass er dieses trotz Teilnahme an Gesprächen im Rahmen einer Drogengruppe bislang nicht bewältigt hat, zeigt sich insbesondere auch darin, dass er zusammen mit seinem Freund und Mithäftling R. D. in … beschloss, dessen Freigang dazu zu nutzen, Marihuana zu erwerben, um es anschließend teilweise selbst zu konsumieren und teilweise an bestimmte Mithäftlinge weiter zu geben.
Erschwerend ist zu berücksichtigen, dass der Drogenkonsum enthemmend wirkt; nach eigener Einlassung des Klägers in der mündlichen Verhandlung wurde insbesondere der Konsum von Marihuana und Alkohol von ihm und seinen Freunden auch gezielt zu diesem Zweck eingesetzt, namentlich um sich für die geplanten Einbruchsdiebstähle „Mut zu machen“. In derart enthemmten und damit unberechenbaren Zustand ist die vom Kläger ausgehende prognostizierte Gefahr für die geschützten Rechtsgüter anderer – sei es deren körperliche Unversehrtheit, sei es das Eigentum – als besonders hoch einzuschätzen.
Die insgesamt im Verhalten des Klägers zum Ausdruck kommende Gleichgültigkeit gegenüber Rechten anderer und dauerhafte Missachtung der deutschen Rechtsordnung sprechen – trotz des langen Aufenthalts des Klägers in Deutschland – gegen seine gelungene Integration.
Gleiches gilt im Hinblick darauf, dass er hier zwar von Anfang an die Schule besucht, sie jedoch ohne Abschluss verlassen hat – zum Berufsschulunterricht ist er einfach nicht mehr erschienen – und auch keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen kann. Insgesamt war er lediglich knapp vier Monate als Hilfsarbeiter tätig. Auch aus der mit Schreiben vom 19. April 2016 wohlwollend, aber unverbindlich erklärten Bereitschaft der Firma … Produktionsservice GmbH, den Kläger nach Haftentlassung wieder zu beschäftigen, kann nicht der Nachweis seiner dauerhaften beruflichen bzw. eigenständigen wirtschaftlichen Existenz oder auch nur die Perspektive einer solchen gefolgert werden.
Andererseits bestehen noch familiäre und soziale Bindungen des Klägers in die Türkei. Dort leben seine Großeltern sowie weitere Tanten und Onkel, die der Kläger in den Sommerferien auch wiederholt besucht hat. Auch ist er der türkischen Sprache mächtig, mit seiner Mutter spricht er zu Hause türkisch. Ebenso ist davon auszugehen, dass er die türkische Schriftsprache jedenfalls in Grundzügen beherrscht, auch wenn ihm türkisch lesen und schreiben nach eigenen Angaben schwer fallen. Dies zeigt, dass er den Bezug zum Land seiner Staatsangehörigkeit nicht gänzlich verloren hat, sondern noch entsprechende Bindungen bestehen. Diese Bindungen als Basis nutzend ist auch davon auszugehen, dass er als gesunder arbeitsfähiger Mann ggf. auch mit wirtschaftlicher Unterstützung durch die Familie sein Auskommen in der Türkei wird finden können. Dabei verkennt das Gericht auch nicht das mit knapp 20 Jahren noch junge Alter des Klägers. Als Volljähriger ist der Kläger aber nicht mehr auf die ständige persönliche Fürsorge seiner Eltern angewiesen.
bb) Auch im Lichte der Grund- und Menschenrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) kommt das Gericht insgesamt zu dem Ergebnis, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt; seine Aufenthaltsbeendigung stellt sich nicht als unverhältnismäßig im Sinne der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dar. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick darauf, dass der Kläger ein noch junger Erwachsener und Ausländer der zweiten Generation ist.
Betreffend die bis 1. Januar 2016 geltenden dreistufigen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes zum Ausweisungsrecht ist das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, dass sie grundsätzlich der Europäischen Menschenrechtskonvention in ausreichender Weise Rechnung tragen; gleichzeitig hat es aber darauf hingewiesen, dass dies die befassten Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung entbinde, die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im konkreten Fall insbesondere an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK nochmals explizit zu messen (BVerfG, B. v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – InfAuslR 2007, 275). Die nunmehr als Ergebnis einer gerichtlich voll überprüfbaren Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ausgestaltete Neukonzeption der Ausweisung in den §§ 53 ff. AufenthG n. F. sollte nach der Intention des Gesetzgebers gerade diesem Umstand Rechnung tragen, indem die vom EGMR aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK abgeleiteten Anforderungen an eine Ausweisung in die zu treffende Abwägung zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit nunmehr einfließen (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49).
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; dies umfasst sämtliche persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen für die Entfaltung der Persönlichkeit bei fortdauerndem Aufenthalt wachsende Bedeutung zukommt (EGMR, U. v. 9.10.2003 – 48321/99 – EuGRZ 2006, 560). Ein Eingriff in dieses Recht ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und eine in einer demokratischen Gesellschaft notwendige, also nicht nur zweckmäßige Maßnahme darstellt, die durch ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis – insbesondere die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht (EGMR, Entscheidung v. 24.3.2015 – 37074/13 – EuGRZ 2015, 464; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 8 Rn. 109 f.). Dieser Maßstab gilt entsprechend auch für die Beurteilung, ob ein derartiger Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG ist (vgl. dazu BVerfG, B. v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – InfAuslR 2008, 347 = juris Rn. 11).
Wie die Verfahrensbevollmächtigten des Klägers zutreffend vortragen, kann eine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK etwa bei der Ausweisung von Ausländern in Betracht kommen, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug mehr haben, nicht zugemutet werden kann (BVerwG, U. v. 29.9.1998 – 1 C 8.96 – InfAuslR 1999, 54); zu diesem Personenkreis zählen nach der Rechtsprechung insbesondere im Bundesgebiet geborene Ausländer der zweiten Generation (BayVGH, B. v. 11.7.2007 – 24 ZB 07.743 – juris Rn. 11); für ihre Ausweisung müssen sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden, erst recht im Falle der Begehung der maßgeblichen Straftaten als Jugendlicher (EGMR, U. v. 22.3.2007 – 1638/03/Maslov I – InfAuslR 2007‚ 221; U. v. 23.6.2008 – 1638/03/Maslov II – InfAuslR 2008‚ 333).
Dennoch und gleichwohl kann ein Ausländer allein aus dem Umstand seiner Geburt im Bundesgebiet kein Recht aus Art. 8 EMRK ableiten, nicht aufgrund einer Vorstrafe ausgewiesen zu werden (EGMR, U. v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007,1279).
In diesen Fällen verlangt die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung wegen der Vielschichtigkeit der zu berücksichtigenden tatsächlichen Umstände eine umfassende Prüfung unter Einbeziehung der aktuellen Entwicklung des Ausländers (EGMR, U. v. 31.10.2002 – 37295/97 – InfAuslR 2003, 126; BVerfG, B. v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – InfAuslR 2007, 275; BVerfG, B. v. 1.3.2004 – 2 BvR 1570/03 – NVwZ 2004, 852 = juris Rn. 13); dies macht eine Gewichtung der maßgeblichen Straftaten und sämtlicher ihnen zugrundeliegender Tatumstände sowie der sich aus den Taten ergebenden künftigen Gefahren für Dritte erforderlich. Die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung, ob die Ausweisung eines im Bundesgebiet lebenden Zuwanderers einen zulässigen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EGMR darstellt (vgl. hierzu: EGMR, U. v. 23.6.2008 – 1638/03 Maslov II – InfAuslR 2008, 333) und damit in einer demokratischen Gesellschaft „notwendig“ (unerlässlich) ist, sind insbesondere die Art und Schwere der begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet, die seit der maßgeblichen Tat verstrichene Zeit und sein Verhalten in diesem Zeitraum, die familiäre Situation des Ausländers und die Intensität und Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen an das Bundesgebiet sowie zum Staat der Staatsangehörigkeit (EGMR, Entscheidung v. 24.3.2015 – 37074/13 – EuGRZ 2015, 464 Rn. 28; U. v. 9.10.2003 – 48321/99 – EuGRZ 2006, 560).
Diese zu berücksichtigenden Umstände hat der Gesetzgeber in § 53 Abs. 2 AufenthG bewusst aufgegriffen (s.o. u. vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49), so dass im Hinblick auf die Interessensabwägung zunächst auf die Ausführungen unter I. 2. b aa) verwiesen werden kann.
Darüber hinaus stellt sich zur Überzeugung des Gerichts die Ausweisung des Klägers nach Abwägung aller Umstände auch explizit mit Blick auf die strengen Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK und der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung als verhältnismäßig dar. Dies gilt namentlich unter Berücksichtigung seiner Geburt und seines Aufwachsens im Bundesgebiet sowie der Tatsache, dass er ein noch junger Erwachsener ist und seine strafrechtlichen Verurteilungen jeweils noch nach Jugendstrafrecht erfolgten.
Denn auch nach Eintritt seiner Volljährigkeit ist der Kläger erneut straffällig geworden, und das sogar während der Haft. Von jugendtypischen Augenblicksversagen kann in Anbetracht der ansehnlichen Reihe von Verurteilungen nicht gesprochen werden. Den Kläger hat auch die Verbüßung der Strafhaft nicht nachhaltig beeindruckt. Zudem unterliegt der Kläger einem unbewältigten Drogen- und Alkoholproblem, das jedenfalls mitursächlich für seine zahlreichen Straftaten gewesen ist. Damit kommt aber auch der erklärten Absicht des Klägers, dass er eine stationäre Drogentherapie durchführen und sich künftig von schädlichen Einflüssen seines Freundeskreises distanzieren möchte, nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Auch wenn er damit zwar durchaus positive Bereitschaft zeigt, sind diese Ansätze jedoch nach den bisherigen Erfahrungen mit ihm keinerlei Indiz dafür, dass tatsächlich seine Suchtprobleme – einhergehend mit der Gefahr der Enthemmung – und die Gefahr, sich wieder zu Straftaten „verführen“ zu lassen, in Zukunft erfolgreich überwunden werden können.
Ferner erweist sich der Einwand der Verfahrensbevollmächtigten des Klägers, seine Ausweisung sei unverhältnismäßig, weil er außer seiner Staatsangehörigkeit keine Bindungen mehr zu seinem Herkunftsland seiner Eltern besitzt, als nicht durchgreifend. So steht unwidersprochen fest, dass der Kläger die türkische Sprache beherrscht und sie auch mit der Mutter fortdauernd praktiziert. Außerdem hat er sich nach eigenen Angaben in den Sommerferien zum Zwecke des Besuchs von Verwandten in der Türkei aufgehalten. Seine Großeltern sowie weitere Tanten und Onkel leben weiterhin im Ort …, so dass er dort eine familiäre Anlaufstelle besitzt. Den Kontakt zum Bundesgebiet und seinen hier lebenden Angehörigen kann der Kläger von der Türkei aus aufrechterhalten (Korrespondenz, Telefon, Skype), auch wenn dies mit erhöhten Schwierigkeiten verbunden ist.
Im Ergebnis der Gesamtabwägung stellt sich die Ausweisung für das Gericht als verhältnismäßige Maßnahme dar, die zur Abwehr schwerwiegender Gefahren für die verfassungsrechtlichen Schutzgüter von Leben und körperlicher Unversehrtheit unerlässlich ist.
II.
Vor diesem Hintergrund sind auch die Regelungen des Beklagten in den Ziffern 2 und 3 seines Bescheids vom 30. Dezember 2015 rechtmäßig.
Die Rechtsposition des Klägers als Berechtigter im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist gemäß Art. 14 ARB 1/80 durch die Ausweisung bzw. die “Verlustfeststellung“ erloschen (BVerwG, U. v. 25.3.2015 – 1 C 19/14 – BVerwGE 151, 377 = juris Rn. 14 m. w. N.). Ein Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG besteht folglich nicht.
Auch sonst ist keine Rechtsgrundlage ersichtlich, aus welcher der Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis herleiten könnte. Im Übrigen stünde die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen.
III.
Vor diesem Hintergrund ist die Anordnung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus (Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids) rechtlich nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG; die Bestimmung einer Ausreisefrist ist in diesem Fall entbehrlich.
IV.
Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziffer 5 und 6 des angefochtenen Bescheids), für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht mehr besitzt; seine ARB-Berechtigung ist infolge der Ausweisung erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG), s.o.
V.
Die in Ziffer 7 des angegriffenen Bescheides verfügte Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 2 Satz 1 und 3, Abs. 3 AufenthG.
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden; sie darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht; die Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Diese behördliche Ermessensentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt daraufhin überprüfbar, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen in seiner Reichweite erkannt, ihre Erwägungen am Zweck der Ermessensermächtigung ausgerichtet und die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten hat (§ 114 Satz 1 VwGO).
Dies zugrunde gelegt begegnet die Entscheidung des Beklagten keinen rechtlichen Bedenken. Die festgesetzte Frist von fünf Jahren erscheint jedenfalls angemessen, um dem von dem Kläger ausgehenden hohen Gefahrenpotential Rechnung zu tragen und ihm insbesondere die Möglichkeit zu geben, sich auf Dauer von schädlichen Einflüssen aus seinem Umfeld in Deutschland zu distanzieren.
Zudem weist der Beklagte darauf hin, dass Härtefälle ggf. durch kurzfristige Betretenserlaubnisse nach § 11 Abs. 8 Satz 1 AufenthG aufgefangen werden können.
VI.
Nach alledem war die Klage insgesamt mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
VII.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
VIII.
Die Berufung war zuzulassen, weil die Rechtssache nach Inkrafttreten des neuen Ausweisungsrechts zum 1. Januar 2016 grundsätzliche Bedeutung hat (§ 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124 und 124a Abs. 1 VwGO kann die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
eingelegt werden. Die Berufung muss das angefochtene Urteil bezeichnen. Sie ist spätestens innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen. Die Berufungsbegründung muss einen bestimmten Antrag enthalten, sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe).
Über die Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 10.000,- festgesetzt
(§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.