Verwaltungsrecht

Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen mit Niederlassungserlaubnis wegen schwerer Straftaten

Aktenzeichen  Au 6 K 17.1714

Datum:
26.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 40019
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 3, § 53 Abs. 1-3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 7, Art. 14 Abs. 1
RL 2003/109/EG Art. 2 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. b, Art. 12
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ein “Verbrauch” eines Ausweisungsgrundes kommt lediglich dann in Betracht, wenn die Ausländerbehörde in Kenntnis der wesentlichen Umstände ausdrücklich auf eine Ausweisung verzichte. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
2. Selbst bei einem sogenannten faktischen Inländer mit einem besonders geschützten Familien- und Privatleben ist eine Ausweisung nicht schlechthin unmöglich. (Rn. 77) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit der Kläger seine Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen hat, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO analog einzustellen (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.1999 – 4 B 75/98 – NVwZ-RR 1999, 407).
Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 17. Oktober 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der noch nicht vollzogenen Abschiebungsanordnung bzw. -androhung und der Befristungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 18), weil dem Kläger u.a. der Schutz des Art. 8 EMRK zu Gute kommt.
Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
1. Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Klägers beurteilt sich nach §§ 53 ff. AufenthG n.F. (Aufenthaltsgesetz vom 25.2.2008 i.d.F. vom 22.12.2015, BGBl. I S. 2557).
Hierbei hat die Ausweisung als gerichtlich voll überprüfbare Abwägungsentscheidung zu erfolgen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 31, 56). Dabei kann unterstellt werden, dass der Kläger zudem nach Art. 7, Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 geschützt ist, da die Ausweisung auch dann nicht unverhältnismäßig ist. Zudem ist für den Kläger als langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 -Daueraufenthaltsrichtlinie) zu beachten. Demgegenüber ist in der Rechtsprechung geklärt, dass die Richtlinie 2004/38/EG nicht auf türkische Assoziationsberechtigte anwendbar ist (EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – NVwZ 2012, 422; BayVGH, U.v. 13.5.2014 – 10 BV 12.2382 – juris Rn. 28). Die Richtlinie 64/221/EWG ist schon deshalb nicht anwendbar, weil sie durch die Richtlinie 2004/38/EG aufgehoben wurde (BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 46). Gegen die Anwendung der neuen Ausweisungsvorschriften nach §§ 53 ff. AufenthG bestehen auch im Hinblick auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige keine Bedenken (BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28).
Unter Anwendung dieses Maßstabes kann der Kläger nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses in der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich ist. Bei dieser Beurteilung müssen die Behörden sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens wahren (EuGH, U.v. 22.12.2010 – Bozkurt, C-303/08 -juris Rn. 57 bis 60 m.w.N.; EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – NVwZ 2012, 422 Rn. 82). Dabei sind auch nach der Ausweisungsverfügung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können (EuGH, U.v. 11.11.2004 – Cetinkaya, C-467/02 – juris Rn. 47, EuGH, U.v. 8.12.2011 – a.a.O. Rn. 84).
2. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil der Kläger schwere Straftaten begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
a) Ausweisungsanlass sind die den Strafurteilen des Amtsgerichts Neu-Ulm vom 6. August 2015 (Az: 1 Ls 332 Js 7949/15 jug), vom 26. November 2015 (Az.: 1 Ls 332 Js 14188/15 jug), vom 16. Juni 2016 (Az.: 1 Ls 332 Js 16588/15 jug), vom 31. August 2016 (Az.: 2 Ls 44 Js 21505/15 jug) und vom 1. Dezember 2016 (Az.: 1 Ls 332 Js 23040/15 jug) sowie des Landgerichts Memmingen vom 12. Januar 2018 (Az.: 5 NS 334 Js 7644/16 jug) zu Grunde liegenden Straftaten. Der Kläger wurde zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das letzte Urteil vom 12. Januar 2018 stellte erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel fest; Charaktermängel seien bereits eingeschliffen und verfestigt. Es bestehe ein Bedarf nach langer stationärer Nacherziehung. Der Kläger hat seit seinem 20. Lebensjahr eine Vielzahl an vorsätzlichen Straftaten begangen, insbesondere eine erhebliche Anzahl an Körperverletzungsdelikten sowie einen räuberischen Diebstahl, Bedrohungen, Beleidigungen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und vieles mehr.
Dabei sind auch die Straftaten des Klägers vom 17. Januar 2015, vom 2. Juni 2015 und vom 21. August 2015 in den Ausweisungsanlass mit einzubeziehen. Der Beklagte war nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes an der Ausweisung gehindert. Zwar kann ein Verzicht auf eine Ausweisung grundsätzlich zu einem „Verbrauch“ des Ausweisungsgrundes führen, wenn dem betroffenen Ausländer hierdurch Vertrauensschutz vermittelt wird, so dass er sich im Vertrauen darauf in besonderer Weise auf einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet einrichten konnte (BayVGH, B.v. 6.6.2016 – 10 C 15.1347 – juris Rn. 16). Im vorliegenden Fall jedoch konnte der Kläger keineswegs darauf vertrauen, dass der Beklagte ihn nicht ausweisen würde. Ein „Verbrauch“ eines Ausweisungsgrundes kommt lediglich dann in Betracht, wenn die Ausländerbehörde in Kenntnis der wesentlichen Umstände ausdrücklich auf eine Ausweisung verzichtet (Tanneberger in BeckOK, Stand 1.5.2018, § 53 Rn. 31). Im vorliegenden Verfahren sind schon keine Anhaltspunkte hierfür ersichtlich, dass der Beklagte je ausdrücklich auf eine Ausweisung verzichtet hätte. Insoweit trägt auch der Kläger nichts substantiiert vor. Im Übrigen käme Vertrauensschutz nur dann in Betracht, wenn der Kläger in der Folgezeit nicht mehr straffällig geworden wäre. Eine – wie hier – erneute Straffälligkeit des Klägers entzieht einem etwaigen Vertrauensschutz jegliche Grundlage, da der Kläger nicht darauf vertrauen kann, dass der Beklagte auch bei fortgesetzter Straffälligkeit auf eine Ausweisung verzichtet.
b) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16; BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9). Bei der körperlichen Unversehrtheit Dritter handelt es sich um ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders geschütztes Rechtsgut von hervorgehobener Bedeutung, dessen Verletzung zu besonders folgenschweren Schäden führen kann. Die körperliche Integrität Dritter zählt mithin zu den wichtigsten Rechtsgütern.
Bei der Ausweisungsentscheidung haben die Verwaltungsgerichte auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Tat und der Tatumstände, des Täters und seiner Persönlichkeitsstruktur sowie seines Nachtatverhaltens und ggf. einer therapeutischen Aufarbeitung des Geschehenen eine eigene Beurteilung und Prognoseentscheidung vorzunehmen, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 8; BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/283 f. Rn. 17). Allein ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 29.5.2018 – 10 ZB 17.1739 – Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens steht (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).)
Der Kläger hat bereits in der Vergangenheit noch auf freiem Fuß zahlreiche Straftaten begangen, in denen sich eine erhebliche Gewaltbereitschaft zeigt. So schlug er u.a. dem Geschädigten eines Fahrraddiebstahls mit der Faust ins Gesicht, versuchte, Polizisten mit Kopfstößen zu treffen und schlug nach einem Ladendetektiv. Der Kläger ist daher mehrfacher Wiederholungstäter. Die Straftaten des Klägers offenbaren zudem ein erhebliches Aggressionspotential. Der Kläger ist ausweislich seiner Straftaten nicht hinreichend fähig, sich zu kontrollieren, sondern schlägt bei verschiedenen Gelegenheiten zu oder wird ausfällig. Dies gilt insbesondere, wenn staatliche oder kontrollierende Maßnahmen drohen. Das Gericht teilt nach Aktenlage und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung die Einschätzung des Strafgerichts, dass sich der Kläger insofern als unberechenbar erwiesen hat.
Der Kläger ist bisher auch mit keinem Mittel des Straf- oder Ausländerrechts erreichbar. Er ist vielmehr mehrfacher Bewährungsversager mit einer erschreckend hohen Rückfallgeschwindigkeit. Der Kläger wurde mit Urteil vom 6. August 2016 zu einer Jugendstrafe von neun Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung (Bewährungszeit zwei Jahre, Auflagen: 80 Sozialstunden, soziales Kompetenztraining, Bestellung eines Bewährungshelfer) verurteilt. Schon am 21. August 2015 und damit nur 15 Tage nach der Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe beging er die nächste Tat, wobei er sich im Hinblick auf die Schwere der Tat im Vergleich zur abgeurteilten Tat noch steigerte (räuberischer Diebstahl in Tateinheit mit Körperverletzung). Die Bewährungsauflagen hielt er nicht ein. Am 26. November 2015 wurde er wegen weiterer Straftaten zu einer Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, wobei die Strafe erneut zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auch diese – zweite -Bewährung nutzte der Kläger nicht, sondern beging am 12. Dezember 2015 und damit nur 16 Tage nach der Verurteilung zu einer zweiten Bewährungsstrafe die nächste Tat. Der Kläger ist daher zweifacher Bewährungsversager mit einer extrem hohen Rückfallgeschwindigkeit.
Auch in der Strafhaft führt der Kläger sein aggressives Verhalten fort. Ein Hafteindruck ist ausweislich seiner zahlreichen disziplinarischen Verstöße nicht hinreichend erkennbar; der Kläger zeigt sich nicht haftempfindlich. Am 17. November 2016 fiel der Kläger mit einer beleidigenden und ungebührlichen Äußerung auf. Am 16. Januar 2017 teilte die Ausländerbehörde dem Kläger mit, dass ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden sei und hörte den Kläger an. Selbst der erhebliche Druck einer konkret drohenden Ausweisung führte indes nicht zu einer Verhaltensbesserung des Klägers. Am 2. Februar 2017 kam es vielmehr zu einem tätlichen Angriff auf einen Mitgefangenen. Am 9. März 2017 zerstörte der Kläger vorsätzlich ein Waschbecken. Am 3. August 2017 zeigte sich erneut das hohe Aggressionspotential des Klägers, als er einen Mitgefangenen packte, dessen Kopf gegen die Wand stieß und ihn mit zwei Fauststößen sowie einem Kopfstoß gegen das Gesicht misshandelte. Insbesondere die Tatsache, dass der Kläger wiederholt seine Opfer mit den Fäusten oder Hilfsgegenständen wie Wänden am Gesicht oder Kopf verletzt oder zu verletzen versucht, beinhaltet ein erhebliches Eskalationspotential und die Gefahr massiver Verletzungen. Nach Erlass des Ausweisungsbescheids und während des gerichtlichen Verfahrens fiel der Kläger erneut am 5. April 2018 mit einer beleidigenden und ungebührlichen Äußerung auf. Selbst die Ausweisung und ein anhängiges Klageverfahren haben ihn demnach nicht von beleidigendem Verhalten abgehalten. Sein aggressives Verhalten, wie es sich schon in den Straftaten des Klägers gezeigt hat, ist damit -wie schon von den Strafgerichten zutreffend festgestellt – absolut wesensimmanent und lässt weitere Straftaten des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten.
3. Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 3 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG überwiegt.
a) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1, Abs. 3 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer, weil der Kläger wegen der von ihm begangenen Delikte zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist und der Kläger unter Gewaltanwendung Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte begangen hat.
Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch weniger oder mehr Gewicht entfalten und kann die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat in atypischen Fällen insgesamt weniger schwer erscheinen (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 57), doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren Delikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Auch nach strafgerichtlicher Bewertung rechtfertigten die Tatumstände und die Täterpersönlichkeit keine abweichende Gewichtung. Insbesondere eine Minderung der Schuldfähigkeit des Klägers wurde nicht festgestellt.
b) Das Bleibeinteresse wiegt nach § 53 Abs. 3 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ebenfalls besonders schwer, da der Kläger seit dem 1. September 2011 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist. Zudem wiegt das Bleibeinteresse auch deswegen besonders schwer, weil der Kläger als „faktischer Inländer“ – ein Ausländer, der seine wesentliche Prägung im Bundesgebiet erfahren hat (vgl. BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 21) – einzustufen ist. Allerdings verhindert auch diese Einstufung nicht von vornherein seine Ausweisung, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
c) In der nach § 53 Abs. 1 bis Abs. 3 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner überwiegt vorliegend das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
(1) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt ununterbrochen an und fällt daher als intensive Bindung erheblich ins Gewicht.
Der Kläger ist ausschließlich in Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen. Seine wesentlichen persönlichen Bindungen liegen im Bundesgebiet, wo seine Eltern und seine Schwester leben. Vor seiner Inhaftierung lebte er meist bei seinen Eltern. Das Gewicht seiner familiären Bindungen zu seinen Eltern und Geschwistern wird indes dadurch gemindert, dass der Kläger als erwachsener Mann grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Familie angewiesen ist, sondern ein eigenständiges Leben führen kann. Anhaltspunkte für eine geistige oder körperliche Schwäche als Ansatz eines ausnahmsweisen Angewiesenseins auf Unterstützung auch im Erwachsenenalter haben sich auch aus den strafgerichtlichen Feststellungen zu seiner Persönlichkeit nicht ergeben. Eine nach Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK besonders geschützte Ehe liegt nicht vor; auch ist der Kläger kinderlos.
Der Kläger hat berufliche und wirtschaftliche Bindungen ebenfalls (nur) im Bundesgebiet, wo er 2011 die Mittelschule ohne Abschluss verlassen hat, inzwischen aber den externen Mittelschulabschluss erworben und während der Haft eine Ausbildung zum Bäcker begonnen hat. Indes hat er bereits dreimal eine Ausbildungsmaßnahme abgebrochen. So brach er sein Berufsvorbereitungsjahr im Jahr 2012 in der letzten Woche ab, 2013 brach er die Abendrealschule ab und im Dezember 2015 eine Berufsausbildungseinstiegsmaßnahme. Der Kläger war bisher noch nicht einmal ein Jahr durchgehend beschäftigt. Der letzte Führungsbericht vom 5. Juli 2018 führt aus, seit seiner Rückverlegung am 28. April 2018 setze der Kläger seine Ausbildung zum Bäcker fort, welche ihm schwer falle, aber ihm auch wichtig sei. Im Hinblick auf die vorausgegangen drei Abbrüche von Bildungsmaßnahmen – einmal sogar nur eine Woche vor deren Abschluss – und seine teils schlechte Arbeitsleistung in den Justizvollzugsanstalten ist derzeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, sondern völlig offen, ob der Kläger seine Ausbildung erfolgreich abschließen wird. Die beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen des Klägers sind daher von geringem Gewicht.
Sonstige wesentliche Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(2) In der Türkei als seinem Herkunftsstaat hat der Kläger lediglich einige kürzere (Urlaubs-)Aufenthalte verbracht und gewisse verwandtschaftliche Bindungen ohne derzeitigen Kontakt.
Persönliche Bindungen hat der Kläger in die Türkei nicht, denn der Schwerpunkt seines Lebens liegt in Deutschland, wo er aufgewachsen ist. Allerdings leben nach dem Vortrag seiner Mutter seine Großeltern mütterlicherseits noch in der Türkei. Auch wenn diese krank sind und derzeit nach seinem Vortrag kein Kontakt besteht, hat der Kläger gleichwohl damit familiäre Anknüpfungspunkte, die ihm die Integration in der Türkei erleichtern.
Des Weiteren ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger über ausreichende türkische Sprachkenntnisse verfügt. Sein diesbezüglicher Vortrag, er könne noch nicht einmal in einem Laden etwas einkaufen oder ein Straßenverkehrsschild lesen, ist im Hinblick auf seine weiteren Einlassungen, den Vortrag seiner Eltern und die schriftlichen Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalten widerlegt. Zwar gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung zunächst an, er spreche so schlecht Türkisch, dass er sich nicht unterhalten könne, selbst Verkehrsschilder könne er nicht lesen und auch nicht selbstständig im Laden etwas einkaufen. Demgegenüber bestätigte sein Vater, dass die Mutter des Klägers erst 1994 – und damit ein Jahr vor der Geburt des Klägers – in die Bundesrepublik eingereist sei und noch immer nicht gut Deutsch spreche, da sie sich nie bemüht habe. Der Kläger gab auf Nachfrage auch zu, dass seine Mutter mit ihm als Kleinkind Türkisch gesprochen habe; als er zur Schule gegangen sei, habe er mehr Deutsch gesprochen, aber manchmal mit seiner Mutter auch beide Sprachen gemischt. Untereinander würden seine Eltern noch immer Türkisch reden; auch mit seiner seit 2006 bei der klägerischen Familie wohnenden Großmutter habe er Türkisch gesprochen, wobei meist aber sein Vater übersetzt habe. Sein Vater gab im Rahmen seiner informatorischen Anhörung an, natürlich könnten seine Kinder Türkisch. Die Mutter des Klägers trug in der mündlichen Verhandlung auf Türkisch vor. Im Führungsbericht vom 10. Februar 2017 wurde ausgeführt, türkische Sprachkenntnisse seien beim Kläger vorhanden. Nach dem Führungsbericht vom 5. Juli 2018 habe der Kläger mitgeteilt, dass es ihm schwer falle, Türkisch zu sprechen; der Kläger tausche aber gelegentlich mit Mitgefangenen ein paar türkische Wörter aus. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass seine Mutter mit dem Kläger als Kleinkind Türkisch sprach, seine Mutter bis heute kein gutes Deutsch spricht, die Eltern des Klägers untereinander Türkisch sprechen, auch mit der seit 2006 im Haushalt der Eltern des Klägers lebenden und im Jahr 2017 verstorbenen Großmutter Türkisch gesprochen wurde und angesichts des Vortrags des Vaters, seine Kinder könnten Türkisch, ist das Gericht davon überzeugt, dass es sich beim Vortrag des Klägers, er könne kaum mehr Türkisch, lediglich um eine Schutzbehauptung handelt. Nach Überzeugung des Gerichts ist der Kläger vielmehr im Stande, sich in der Türkei sprachlich zurechtzufinden, selbst wenn er inzwischen Deutsch als (zweite) Sprache akzentfrei spricht und sein Türkisch teilweise erst wieder auffrischen müsste.
Wirtschaftliche Bindungen hat der Kläger in der Türkei nicht, so dass er sich eine Arbeit suchen und bis zur Erwerbstätigkeit notfalls soziale Unterstützung seines Herkunftsstaats in Anspruch nehmen müsste. Immerhin hat er im Bundesgebiet die Schule besucht und einen Mittelschulabschluss erworben, so dass er eine Qualifikation vorzuweisen hat. Zwar ist er wohl auch nach den Erwartungen des türkischen Arbeitsmarktes mangels Berufserfahrung bei einem Alter von 23 Jahren niedrig qualifiziert. Gleichwohl dürfte ihm zuzumuten sein, auch niedrig entlohnte Arbeit anzunehmen, um wirtschaftlich Fuß zu fassen und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Dass der Kläger hierzu nicht in der Lage sein sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass der Kläger in der Türkei sich nicht nur sprachlich und sozial, sondern auch wirtschaftlich integrieren kann.
(3) Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner fallen für den alleinstehenden Kläger nicht wesentlich ins Gewicht, da er – wie dargelegt -keine von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK besonders geschützte Ehe oder Familie hat, selbst keine Fürsorge oder Unterstützung für von ihm abhängige Angehörige leistet und als erwachsener Mann umgekehrt grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Eltern und seiner Schwester angewiesen ist. Die persönlichen Kontakte zu seinen in Deutschland lebenden Angehörigen würden durch eine ausweisungsbedingte räumliche Trennung zwar belastet, aber angesichts der in der Türkei verfügbaren modernen Kommunikationsmittel (z.B. Videotelefonie, Instant-Messaging-Dienste, Telefon) sowie durch Besuche der Familienangehörigen in der Türkei, in die diese einreiseberechtigt sind, aufrechterhalten und nicht zerstört. Umgekehrt können sich seine Kontakte zu den in der Türkei lebenden Angehörigen wie seinen Großeltern verbessern.
(4) Weitere über die in § 53 Abs. 2 AufenthG nicht abschließende Aufzählung hinaus noch zu berücksichtigenden Belange und Interessen sind weder aus den vorliegenden Behörden- und Strafakten ersichtlich, noch vom Kläger geltend gemacht.
(5) In der gebotenen Gesamtabwägung überwiegt das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
Zwar sind die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet als „faktischer Inländer“ von erheblichem Gewicht und wiegen besonders schwer, doch andererseits wiegen die von ihm wiederholt begangenen Straftaten ebenfalls besonders schwer und überwiegen gegenüber den Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, weil in seiner Person eine konkrete und erhebliche Rückfallgefahr besteht. Diese berührt ein Grundinteresse der Gesellschaft, denn die vom Kläger begangenen Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit machen seine Ausweisung unerlässlich. Die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nehmen in der Werteordnung der Grundrechte einen sehr hohen Rang ein (Art. 2 Abs. 2 GG). Daher obliegt dem Staat eine besondere Schutzpflicht für diese Rechtsgüter (BayVGH, U.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Für den Kläger ist seine Entfernung aus dem Bundesgebiet mit einschneidenden Veränderungen seiner Lebenssituation gegenüber jener vor der Haft verbunden. Er verliert die Rückzugsmöglichkeit bei seinen Eltern und die Nähe seiner hier lebenden Schwester; ist auf den Kontakt per Kommunikationsmittel und Besuche angewiesen. Der Kläger kennt seinen Herkunftsstaat und den dortigen Alltag zwar nur aus Besuchsaufenthalten, aber er ist auch in der türkischen Sprache sozialisiert (vgl. oben). Er stammt aus einem Haushalt, in dem sowohl die Eltern untereinander als auch die Großmutter ausschließlich Türkisch sprachen. Der Druck zu einem persönlichen und wirtschaftlichen Neuanfang trifft grundsätzlich jeden Ausländer, der aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wird. Dass er das bisher im Bundesgebiet trotz Unterstützung seiner Familie nicht geschafft hat, heißt nicht, dass er das nicht könnte, sondern dass er es nicht musste, solange er bei seinen Eltern und bei Freunden leben konnte. Doch da er keine von ihm persönlich oder wirtschaftlich abhängigen Angehörigen im Bundesgebiet hat, deren Lebenssituation sich durch seinen Weggang wesentlich verschlechtern würde, umgekehrt aber er als arbeitsfähiger Mann auch ein eigenes Leben führen können muss, fallen die Auswirkungen seiner Ausweisung auf seine Bindungen hier nicht entscheidend ins Gewicht.
4. Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist (s.o.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – juris Rn. 27). Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 – Mutlag/Deutschland, Nr. 40601/05 – InfAuslR 2010, 325; EGMR, U.v. 13.10.2011 – Trabelsi/Deutschland, Nr. 41548/06 – juris Rn. 55). Beim assoziationsberechtigten Kläger ist zudem auch der besondere Ausweisungsschutz des § 53 Abs. 3 AufenthG zu berücksichtigen.
Selbst bei einem sog. faktischen Inländer mit einem besonders geschützten Familien- und Privatleben (BVerwG, U.v. 23.10.2007 – 1 C 10/07 – BVerwGE 129, 367) ist eine Ausweisung nicht schlechthin unmöglich. Der Schutz des Privat- und Familienlebens fordert in diesen Fällen lediglich, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf und dabei die besondere Situation eines Ausländers, der sich seit seiner Geburt oder seit frühem Kindesalter im Bundesgebiet aufhält, Berücksichtigung finden muss (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.).
Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Sie ist geeignet, die vom Kläger ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu mindern, da sie den weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland und eine damit bestehende Gefahr einer erneuten Tatbegehung ausschließt. Sie ist erforderlich, da ausländerrechtlich nur eine Aufenthaltsbeendigung die genannte Gefahrenlage wirksam beendet. Sie ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn, denn dem Kläger ist unter Würdigung seiner Bindungen im Inland und im Herkunftsland letztlich eine Rückkehr in die Türkei zumutbar. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die obige Abwägung verwiesen (vgl. oben zur Gesamtabwägung). Der ledige und kinderlose Kläger verfügt nur über schwache wirtschaftliche Bindungen in der Bundesrepublik und ist als volljähriger, junger Mann nicht auf die Hilfe seiner Eltern und seiner Schwester angewiesen. Er ist angesichts seiner Sprachkenntnisse, seiner Urlaubsaufenthalte und der Existenz von Verwandten in der Türkei in seinem Herkunftsstaat nicht vollständig entwurzelt. Die nach wie vor vom Kläger ausgehende Gefahr für bedeutende Schutzgüter, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren, macht vielmehr auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen und seiner wirtschaftlichen Interessen eine Ausweisung unerlässlich. Angesichts der greifbaren Gefahr weiterer erheblicher Straftaten durch den persönlichkeitsproblematischen, mehrfach einschlägig straffälligen und rückfälligen Kläger ist deshalb der Umstand, dass er in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist und hier sein bisheriges Leben verbracht hat, nicht so gewichtig, dass dies unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der angefochtenen Ausweisungsentscheidung entgegenstehen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2013 – 10 ZB 12.2311 – juris Rn. 6).
5. Selbst als Inhaber einer Niederlassungserlaubnis ist der Kläger als langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach Art. 2 Buchst. b), Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) und Art. 12 RL 2003/109/EG (Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie) zwar im Rechtsrahmen von Art. 14 ARB 1/80 geschützt, doch rechtfertigten die o.g. Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung selbst dann die Aufenthaltsbeendigung (zur Ausfüllung des Bezugsrahmens des Art. 14 ARB 1/80 durch Art. 12 RL 2003/109/EG vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – Rn. 52 unter Verweis auf EuGH, U.v. 8.12.2001 – C-371/08 – Juris Rn. 79). Ebenso widerspricht die Ausweisung nicht Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA), wonach Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur ausgewiesen werden dürfen, wenn diese Gründe besonders schwerwiegend sind. Dies ist hier der Fall (vgl. oben).
6. Der Ausweisung des Klägers steht auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger jedenfalls nach Art. 7 ARB 1/80 eine Assoziationsberechtigung erlangt hat. Zum Stand der (letzten) mündlichen Verhandlung überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung sein privates Bleibeinteresse erheblich (vgl. oben zu Art. 8 EMRK), zumal die vom Kläger ausgehende erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden In- und Ausländer ein hochrangiges Rechtsgut ist und ihre wiederholte massive Verletzung durch den Kläger daher ein auch unionsrechtlich anerkanntes Grundinteresse am Schutz der Bevölkerung berührt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19).
7. Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids ist nach § 58 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG wegen seiner Inhaftierung gerechtfertigt. Die hilfsweise Abschiebungsandrohung ist ebenso nicht zu beanstanden. Abschiebungshindernisse, die nach § 59 Abs. 3 AufenthG zwar nicht ihrer Androhung, aber ihrer Vollstreckung durch Abschiebung entgegenstünden und zu einer Duldung führen könnten, sind weder ersichtlich noch substantiiert vorgetragen worden.
8. Die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids verfügte Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf sieben Jahre, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. der nachgewiesenen Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 -Rn. 65 f. mit Verweis auf BR-Drs. 642/14 S. 39), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 -BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von max. zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten soll. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 -1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 -Rn. 66). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG n.F. genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten festgesetzte Frist nicht zu lang und daher rechtmäßig. Der Beklagte konnte seine Ermessensentscheidung aufrechterhalten; durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht.
Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf die zahlreichen Straftaten und die konkrete Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers. Unter Verweis auf die Feststellungen der Strafgerichte führt der Beklagte aus, dass der Kläger bis heute ein Gewaltproblem habe und völlig unberechenbar sei. Sein Weltbild wirke realitätsfremd und es fehle ihm an einer differenzierten Grundhaltung zum Thema Konfliktlösung. Zu Gunsten des Klägers sei zu berücksichtigen, dass der Kläger in Deutschland geboren sei und hier seine wesentliche Prägung und Entwicklung erfahren habe. Hiergegen ist unter Würdigung des Akteninhalts und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung nichts zu erinnern. Anhaltspunkte dafür, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr in kürzerer Frist entfallen oder ihr Gewicht entscheidungserheblich gemindert würde, haben sich nicht ergeben.
9. Für den Bescheid wurden keine Gebühren erhoben, die allgemeine Kostentragungspflicht folgt aus § 69 AufenthG.
II.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Eine Kostentragungspflicht eines Beteiligten für die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren kommt nicht in Betracht, da unter dem Begriff des „Vorverfahrens“ i.S.d. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO lediglich das Widerspruchsverfahren nach §§ 68 ff. VwGO sowie vergleichbar konzipierte Verfahren der behördlichen Selbstkontrolle zu verstehen sind (Kunze in: BeckOK VwGO, 44. Ed., § 162 Rn. 54; BayVGH, B.v. 5.2.2013 – 10 C 12.2381 – juris 4 f.). Im ausländerrechtlichen Verfahren gibt es im Freistaat Bayern weder ein Widerspruchsverfahren noch ein vergleichbar konzipiertes Verfahren (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. Art. 15 Abs. 2 AGVwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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