Verwaltungsrecht

Ausweisung wegen BTM-Delikten

Aktenzeichen  M 25 K 16.2177

Datum:
9.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 25707
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
GG Art. 6
EMRK Art. 8
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Bei einem „Erstverbüßer“ kann die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr neuen Straffälligwerdens mindern. Hiervon ist jedoch nicht auszugehen, wenn bereits Freiheitsstrafen verhängt wurden und dies den Ausländer nicht nachhaltig beeindruckt hat und es nicht zu einem Einstellungswandel gekommen ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers verbunden mit einem für den Fall des Nachweises der Strafund Drogenfreiheit angeordneten siebenjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die Abschiebungsandrohung in den Irak sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet ist rechtmäßig.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 * … – juris Rn. 18; U.v. 27.7.2017 – 1 * … – juris Rn. 40).
Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, so dass die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
a) Dem Kläger wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom … März 2000 die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings nach § 51 Abs. 1 AuslG in der damals geltenden Fassung (entspricht heute § 3 AsylG) zuerkannt. Er kann daher gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, unabhängig davon, ob ihm dieser Status im Hinblick auf § 60 Abs. 8 AufenthG rechtmäßig zuerkannt wurde. Die Beklagte hat ihre Ausweisung ausweislich der Bescheidsgründe auf spezialpräventive Gründe gestützt.
Der mit Bescheid vom … August 2016 ausgesprochene Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 73 AsylG sowie die Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, führt nicht dazu, dass die Ausweisung des Klägers an den niedrigeren Anforderungen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu messen wäre. Der Widerrufsbescheid ist bisher nicht bestandskräftig, da der Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage gegen diesen erhoben hat. Über die Klage ist bisher noch nicht entschieden. Der Klage kommt nach § 75 Abs. 1, § 73 AsylG aufschiebende Wirkung zu.
b) Eine Ausweisung ist auch grundsätzlich zulässig, obwohl der Kläger aufgrund der bisher noch nicht bestandskräftig widerrufenen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft derzeit (noch) nicht abgeschoben werden darf (vgl. BVerwG, U. v. 30.7.2013 – 1 * … – juris Rn. 24; BVerwG, U. v. 31.8.2004 – 1 * … – juris Rn. 20). Eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Zweck sowohl unter spezialpräventiven als auch unter generalpräventiven Gesichtspunkten auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern nur zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt.
c) Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 * … – juris Rn. 23). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung sowie Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, B.v. 16.2.2018 – 10 ZB 17.2063 – juris Rn. 9). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr.; vgl. z. B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 * … – Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34 und B. v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris). Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts München I vom … Januar 2015 (Bl. … BA) zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, dieses in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Trotz der Verhaftung seines Bruders hat der Kläger die Rauschgiftgeschäfte unvermindert fortgeführt und mit einer erheblichen Menge an Betäubungsmitteln – mindestens 1,7 kg – gehandelt.
Das Strafgericht hat festgestellt, dass aufgrund der jahrelangen psychischen Abhängigkeit des Klägers von Cannabis und dem zusätzlichem Konsum von Kokain davon auszugehen ist, dass dieser das Handeltreiben von Betäubungsmitteln zumindest auch zur Finanzierung seiner Sucht betrieb. Die vom Strafgericht für den Fall der Therapie in Aussicht gestellte Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 BtMG ist bisher nicht erfolgt, da der Kläger gerade keine regelmäßige Therapie begonnen hat. Das Gericht hat auch Zweifel, ob der Kläger hierzu überhaupt gewillt ist, da er seit seiner Inhaftierung im Jahr 2014 ausreichend Zeit gehabt hätte, um eine solche zu beginnen. Der Kläger hat bisher lediglich an Beratungsgesprächen der externen Suchtberatung teilgenommen (Bl. … f. der Strafakte).
Die Taten stellen auch schwerwiegende Verstöße dar. Betäubungsmittelkonsum führt in der Regel – abhängig von der Art des Rauschgifts – relativ schnell zu einer psychischen Abhängigkeit verbunden mit regelmäßig schnell eintretenden körperlichen Beschwerden bzw. Verfall.
Der Kläger konsumiert seit frühem Jugendalter Rauschgift. Seine Drogenabhängigkeit hat sich mit der Zeit zusehends verfestigt. Nach dem Gutachten des Forensischtoxikologischen Centrums Münchens vom … Mai 2014 und … Juli 2014 im Strafverfahren vor dem Landgericht München I (Bl. … ff. und … f. der Strafakte) wurde in der Haarprobe nachgewiesen, dass der Kläger regelmäßig, unter Umständen täglich Cannabinoide sowie in niedriger Konzentration Kokain konsumiert. Der Kläger wurde aufgrund seiner Drogenabhängigkeit schon im Jugendalter straffällig. Erstmals wurde im April 2003 – zu diesem Zeitpunkt war der Kläger erst 17 Jahre alt – ein Strafverfahren wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln eingeleitet. Der Kläger selbst gab im Strafverfahren an, dass er im Alter von 14 Jahren mit dem Konsum von Cannabis begann. Die oben bereits aufgeführten Verurteilungen zeigen, dass der Kläger immer weiter ins Drogenmilieu abglitt. Seit 2005 wurde der Kläger sechsmal u.a. wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt. Eine Drogentherapie hat der Kläger bisher nicht begonnen. Der Kläger hat im Strafverfahren vor dem Landgericht München im Jahr 2015 lediglich eine Absichtserklärung abgegeben. Nach dem Bericht der JVA … vom … Mai 2018 hat der Kläger Kontakt zur Suchtberatung und es wird eine ambulante Suchttherapie vorbereitet. Ein Rückfallpräventionstrainung hat er abgeschlossen. Auch hat der Umstand, dass die Vollstreckung von zwei Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt wurde (Urteile des Amtsgerichts München vom …9.2010 und vom …4.2013), den Kläger gerade nicht zu einem Umdenken in seinem Verhalten bewogen, sondern er hat unvermindert sein strafbares Verhalten fortgesetzt. Insbesondere lagen zwischen der letzten Verurteilung mit Strafaussetzung zur Bewährung im April 2013 und der nächsten schwerwiegenden Tat im September 2013 nicht einmal fünf Monate.
Der Kläger hat bereits als Jugendlicher Straftaten begangen. Die überwiegende Zahl an Taten und Verurteilungen erfolgte zu Zeiten, als der Kläger schon erwachsen war. Zwar ist der Kläger ein „Erstverbüßer“, da er sich vor seiner jetzigen Inhaftierung noch nicht in Haft befunden hat. Nach der Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr neuen Straffälligwerdens mindern kann (BayVGH, B.v. 12.3.2016 – 10 ZB 15.1968 – juris Rn. 10 m.w.N.). Das ist beim Kläger nach oben Gesagten nicht anzunehmen. Trotz einer Vielzahl an Vorahndungen und der Verurteilungen vom … September 2010 und vom … April 2013 zu Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt war, beging der Kläger unter zweifach offener und einmal einschlägiger Bewährung erhebliche Drogendelikte. Es ist nicht erkennbar, dass den Kläger die Verhängung zweier Freiheitsstrafen nachhaltig beeindruckt hat und es zu einem Einstellungswandel gekommen ist.
Der Kläger schafft es seit Jahren nicht, sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Seit 2013 ist der Kläger arbeitslos. Auch aus dem Führungsbericht der JVA … vom … Mai 2018 geht hervor, dass er nicht gewillt ist, einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachzugehen. Der Kläger verlor seine Beschäftigung in der JVA wegen Unzuverlässigkeit bzw. teils mangelndem Arbeitswillen und schlechter Arbeitsleistung. Auch wurde der Kläger dreimal disziplinarrechtlich geahndet. Er ist in diesem Zusammenhang durch seine Unbeherrschtheit und aufbrausende Art aufgefallen. Aus dem Führungsbericht geht auch hervor, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 StPO mangels günstiger Kriminalprognose nicht befürwortet wird.
Diese Einschätzung wird auch durch den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindruck bestätigt. Die Kammer kann nicht erkennen, dass der Kläger gewillt ist, seiner Drogensucht durch Therapie zu begegnen. Bisher hat er eine solche nicht begonnen. Ohne die Behandlung der erheblichen Suchtproblematik beim Kläger ist somit von einer weiterhin bestehenden hohen Gefahr der Begehung weiterer Straftaten auszugehen.
d) Die Ausweisung des Klägers ist auch unter Abwägung des Bleibeinteresses des Klägers und dem öffentlichen Interesse an seiner Ausreise unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unerlässlich und auch nicht unverhältnismäßig, § 53 Abs. 3 AufenthG.
Da der Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom … Januar 2015 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, und die Strafaussetzung zur Bewährung der Verurteilungen vom … September 2010 und … April 2013 aufgrund dessen widerrufen wurde, liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor.
Dem steht auf Seiten des Klägers ein schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Der Kläger lebt, seit er 14 Jahre alt ist, im Bundesgebiet. Er ist seit 2009 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und hat sich mindestens fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger vor seiner Haft bzw. nach Haftentlassung mit seiner Verlobten, einer türkischen Staatsangehörigen, in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt hat bzw. leben will, ist die Regelung des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht einschlägig, da die Verlobte keine deutsche Staatsangehörige ist. Im Übrigen hat das Gericht Zweifel, ob die Beziehung zu dieser weiterhin besteht, da sie den Kläger ausweislich der Besucherlisten seit Juli 2017 nicht mehr in Haft besucht hat. Der Kläger ist weder verheiratet noch hat er Kinder.
Auch unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Positionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Entscheidung wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Zwar berührt die Ausweisung des Klägers die familiären Beziehungen zu seinen Eltern sowie seinen beiden Geschwistern, Art. 6 Abs. 1 GG. Zwar hat der Kläger bis zu seiner letzten Inhaftierung mit den Eltern in deren Wohnung im Bundesgebiet gelebt, doch ist ihm als mittlerweile 32 Jahre altem Erwachsenen zuzumuten, sich auch ohne Verwandte in seinem Heimatland aufzuhalten. Der Kontakt zu seiner Familie kann auch über neue elektronische Medien aus dem Irak aufrechterhalten werden. Diese ist auf Unterstützung durch ihn nicht angewiesen. Im Übrigen ist auch gegenüber den Eltern und seinen beiden Geschwistern die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft widerrufen und sein jüngster Bruder wegen Drogendelikten bestandskräftig aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden.
Auch unter Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens i.S. des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die Ausweisungsentscheidung nicht unverhältnismäßig.
Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens ist als Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehung zu verstehen, die für das Leben eines Menschen in der Gesellschaft konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthaltes wachsende Bedeutung zukommt (BVerwG, U.v. 22.5.2012 – 1 * … – juris).
Zwar ist der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK aufgrund des langen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet eröffnet, der durch die Ausweisung erfolgende Eingriff ist aber verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Danach darf eine Behörde in die Ausübung des in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechts eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten notwendig ist.
Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Boultif-Üner-Kriterien (EGMR, U.v. 2.8.2001 – …, Boultif; U.v. 5.7.2005 – …; U. Große Kammer v. 18.10.2006 – …, Üner) erweist sich die Ausweisung des Klägers als verhältnismäßig. Der Kläger kam im Alter von 14 Jahren gemeinsam mit seinen Eltern und beiden Geschwistern ins Bundesgebiet und hält sich seit dem durchgehend hier auf. Er spricht zwar gut Deutsch, eine soziale und berufliche Integration des Klägers liegt jedoch nicht vor. Bereits kurz nach der Einreise ins Bundesgebiet begann der Kläger Drogen zu konsumieren. Die Schule hat er nicht abgeschlossen, ebenso hat der Kläger keinen Hauptschulabschluss. Auch eine Berufsausbildung hat er nicht absolviert und lediglich in Aushilfsjobs gearbeitet. Er hat auch nie länger gearbeitet. Seit 2013 war er arbeitslos. Auch während der Haft hat er bisher einen Schulabschluss nicht nachgeholt. Der in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Ausbildungsvertrag mit Beginn zum 1. September 2018 als Frisör nach Haftentlassung rechtfertigt keine andere Bewertung. Mithin wird der Kläger nach derzeitigem Stand erst Mitte 2019 aus der Haft entlassen. Nennenswerte soziale Kontakte hat der Kläger mit Ausnahme der Beziehung zu seiner Familie nicht vorgebracht. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger wenige der Vielzahl an Straftaten als Jugendlicher beging, ist die Ausweisung nicht unverhältnismäßig (vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 23. 6 2008 – … – Maslov II), da alle Versuche einer Resozialisierung scheiterten.
Der Kläger verfügt durchaus noch über Beziehungen zu seinem Herkunftsstaat. In der Familie des Klägers wird Turkmenisch gesprochen. Zudem wurde in der Schule, die der Kläger nach eigenen Angaben zwei Jahre besucht hat, auf Arabisch unterrichtet. Die Stadt … … (Region Kirkuk) liegt in einer ethnisch gemischt besiedelten Region des Irak. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger dort mit seinen arabischen Sprachkenntnissen Fuß fassen kann, da er eine der Landesssprachen beherrscht. Soweit er in seine Heimatregion zurückkehren kann, kann er sich auf Turkmenisch verständigen, insbesondere hat der Kläger bis zu seinem 14. Lebensjahr dort gelebt und seine Prägung im Heimatland erhalten. Auch wenn der Kläger bis zu seiner Ausreise in einem Krisengebiet gelebt hat, ist es dem Kläger als erwachsenen, jungen und gesunden Mann zumutbar, ggf. nicht in seinen letzten Wohnort, sondern an einen anderen sicheren Ort in seinem Heimatland zurückzukehren.
Der Kläger hat auch durchaus Beziehungen in den Irak. Nach eigenen Angaben hat er zumindest noch eine Tante im Irak. Auch wenn die Situation sich für den Kläger bei einer Rückkehr in den Irak als schwierig gestalten sollte, ist dort die Integration möglich. Zudem ist eine Rückkehr mit der Familie nicht ausgeschlossen, insbesondere soweit der gegenüber dem Kläger, seinen Eltern und beiden Geschwistern ergangene Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestandskräftig werden sollte. Zudem ist ein Bruder des Klägers bereits wegen Drogendelikten und der Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe mit bestandskräftigem Bescheid der Beklagten vom … Oktober 2015 ausgewiesen worden. Bei einer gemeinsamen Rückkehr könnten sich der Kläger und sein Bruder gegenseitig unterstützen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dass grundsätzlich eine Ausweisung auch dann zulässig ist, wenn der Ausreise des Betroffenen (bislang) die Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus entgegensteht, wurde bereits oben dargestellt.
Auch angesichts der Drogenproblematik des Klägers ist eine Rückkehr für diesen in den Irak zumutbar. Zwar kann die Grundversorgung der Bürger durch den Staat nicht kontinuierlich und flächendeckend gewährleistet werden und trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Situation für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Allerdings gibt es weiterhin Lebensmittelscheine für Bedürftige (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom …2.2018, S. 22). Auch wenn sich die medizinische Versorgungssituation schwierig darstellt, ist es für den Kläger zumutbar in sein Heimatland zurückzukehren. Da er bisher auch im Bundesgebiet keine regelmäßige Therapie begonnen hat, kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei einer Rückkehr nicht „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert wäre.
Der Status eines faktischen Inländers kann dem Kläger nicht zugebilligt werden. Dieser Status kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund des Einwachsens in die hiesigen Verhältnisse (Verwurzelung) bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem „Heimatland“ so eng mit der Bundesrepublik verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzusetzen sind, während sie mit ihrem „Heimatland“ im Wesentlichen nur noch das Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2017 – 10 B 17.818 – juris). Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei zumindest ein mehrjähriger durchgehender Aufenthalt in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa durch einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, einen festen Wohnsitz, ausreichende Mittel, um den Lebensunterhalt einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten zu können, und fehlende Straffälligkeit zum Ausdruck kommt.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Auch wenn der Kläger schon mehr als die Hälfte seiner Lebenszeit im Bundesgebiet verbracht hat, ist er aufgrund der erheblichen Straffälligkeit, eines fehlenden Arbeitsplatzes, sowie fehlender Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts kein faktischer Inländer. Im Übrigen hat der Kläger ausgeführt, durchaus noch Beziehungen zu seinem Herkunftsland zu haben, so dass eine völlige Entwurzelung nicht vorliegt. Aber selbst bei Annahme der Stellung eines faktischen Inländers würde dies nicht zur Unzulässigkeit der Ausweisung führen. Denn auch unter besonderer Berücksichtigung dieser Rechtsposition ist die Ausweisung, angesichts der abgeurteilten Straftaten und der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, nicht unangemessen.
Unter Berücksichtigung sämtlicher beim Kläger zu beachtenden Belange, ist die verfügte Ausweisung im Hinblick auf die vom Kläger weiterhin ausgehende Gefahr der Begehung weiterer Straftaten nicht unverhältnismäßig.
Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris; vgl. auch BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 * … – juris Rn. 19) ist die Ausweisung des Klägers aufgrund seiner Verurteilung wegen Handel mit Betäubungsmitteln zwingend geboten. Danach steht es den Mitgliedstaaten frei, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet sind, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen, und die damit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen und eine Ausweisungsverfügung rechtfertigten können, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist. Illegaler Drogenhandel gehört zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten Straftaten im Bereich der besonders schweren Kriminalität. Auch ist die Ausweisung des Klägers unter den Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) EU-Qualifikations-Richtlinie 2011/95/EU zwingend geboten, da das Verhalten des Klägers aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen illegalen Drogenhandels eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.
2. Auch die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Befristung der Wirkung der Ausweisung auf sieben Jahre ab Ausreise im Falle des Nachweises der Straf- und Drogenfreiheit, andernfalls von neun Jahren ab Ausreise ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Über die festzusetzende Frist hat die Beklagte § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen zu entscheiden. Sie hat dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu tun und darf hierbei fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht; sie soll aber auch in diesen Fällen zehn Jahre nicht überschreiten. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes sowie der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Hierbei bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungzwecks orientierende Sperrfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U. v. 10.7.2012 – 1 * … – juris Rn. 42).
Gemessen an diesen Vorgaben erweist sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben bzw. neun Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausreise als ermessensfehlerfrei. Die Beklagte war bei der Festsetzung der Frist nicht an die Fünfjahresgrenze des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gebunden, weil der Kläger strafrechtlich verurteilt worden ist und seine Ausweisung darauf beruhte. Die mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten abgeurteilte Tat war gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerichtet, also gegen ein besonders hochrangiges Rechtsgut. Der Handel mit Betäubungsmitteln ist in erheblichem Umfang sozialschädlich. Es besteht gegenwärtig weiterhin eine konkrete Wiederholungsgefahr. Zum Schutz der Gesundheit anderer Personen ist derzeit nach wie vor eine lange Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre erforderlich. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Interessen des volljährigen und unverheirateten Klägers, der derzeit noch keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz innehat, war die von der Beklagten festgesetzte Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre erforderlich, angemessen und verhältnismäßig.
Die von der Beklagten verfügte Bedingung, bei deren Nichteintritt eine längere Wiedereinreise- und Titelerteilungssperre gelten soll, dient der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und hält sich im Rahmen der Ermächtigung des § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG.
Im Übrigen kann der Kläger jederzeit einen Antrag auf Verkürzung der von der Beklagten festgesetzten Frist nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG stellen, wenn sich die für die Festsetzung maßgeblichen Kriterien nachträglich ändern sollten.
3. Keinen Bedenken begegnet die auf §§ 59, 58 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung für den Fall des bestandskräftigen Widerrufs der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Soweit die Abschiebung aus der Haft angekündigt wird, erfüllt dies die Voraussetzungen von § 58 Abs. 3, § 59 Abs. 5 AufenthG.
4. Die Klage ist somit mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen