Verwaltungsrecht

Dublin-Verfahren (Polen)

Aktenzeichen  M 7 S 16.50394

Datum:
25.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh mit sich bringen würden (ebenso VGH München BeckRS 2016, 41725). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wird abgelehnt.
II.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.

Gründe

I.
Die Antragsteller, ukrainische Staatsangehörige, verließen im April 2016 ihr Heimatland und reisten über Polen mit dem Bus in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie waren im Besitz von Schengen-Visa, die von polnischen Behörden ausgestellt wurden. Am 9. Mai 2016 stellten sie im Bundesgebiet einen Asylantrag. Bei dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens gaben sie an, dass sie in Polen nur durchgereist seien. Ihnen seien dort bei der Einreise Fingerabdrücke abgenommen worden. Die Antragstellerin gab an, dass sie im sechsten Monat schwanger und nicht in der Lage sei, irgendwohin zu fahren. Beide Antragsteller machten geltend, dass sie in keinen anderen Staat rücküberstellt werden wollten. Sie hätten gehört, dass Polen die Asylanträge nicht prüfe, die Leute würden einfach so wieder in die Ukraine zurückgeschickt.
Die deutschen Behörden baten Polen aufgrund der ausgestellten Visa um eine Übernahme der Antragsteller. Mit Schreiben vom 8. und 10. Juni 2016 stimmten die polnischen Behörden der Übernahme gemäß Art. 12 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO zu.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides), ordnete die Abschiebung nach Polen an (Nr. 2 des Bescheides) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Die Asylanträge seien gemäß § 27a AsylG unzulässig, da Polen aufgrund der erteilten Visa gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-VO bei der Antragstellerin und gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO bei dem Antragsteller für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Es lägen keine Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im polnischen Asylverfahren vor. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass in Polen Asylsuchenden der notwendige Schutz gewährt werde. Es sei nicht ansatzweise erkennbar, dass in Polen Antragstellern unmittelbar eine verfahrenswidrige Abschiebung in ihr Herkunftsland drohe. Eine ärztliche Behandlung der schwangeren Antragstellerin sei auch in Polen möglich. Aus dem vorgetragenen medizinischen Zustand ergebe sich keine Reiseunfähigkeit. Die Anordnung der Abschiebung nach Polen beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Eine Abschiebung habe gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zur Folge, dass die Drittstaatsangehörigen nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich dort aufhalten dürften. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Monate sei angemessen.
Am 21. Juni 2016 erhoben die Antragsteller gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 14. Juni 2016 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragten gleichzeitig,
die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage wiederherzustellen.
Die Antragsteller seien verheiratet und erwarteten ein Kind. Die Antragstellerin fühle sich infolge der fortgeschrittenen Schwangerschaft besonders geschwächt und müde. Es beständen erhebliche Zweifel, ob Polen in einem rechtsstaatlichen Verfahren, welches in den Grundzügen mit unserer Rechtsordnung vom Grundsatz her verglichen werden könne, in der Lage und willens sei, über die Anträge der Antragsteller auf Vorliegen von Fluchtgründen zur Anerkennung ihrer Anträge überhaupt werde entscheiden können oder wollen. Die Antragsteller wüssten aus Erzählungen von Landsleuten aus der Ukraine, dass die Behörden in Polen kein Asylanerkennungsverfahren, das auch nur im Ansatz mit dem deutschen Recht vergleichbar sei, durchführten. Man wolle in Polen keine Flüchtlinge haben und schiebe sie daher in ihre Herkunftsländer zurück. Die Antragstellerin werde nach den ärztlichen Berechnungen ihr Kind im August 2016 zur Welt bringen. Sie sei von schwächlicher Natur und sehr zarter Statur. Sie fürchte, dass sie die Strapazen einer Abschiebung nicht ohne Gefahr für sich und ihr Kind überstehen werde.
Das Bundesamt übersandte die Asylakte und teilte am 29. Juli 2016 mit, dass eine Abschiebung grundsätzlich sechs Wochen vor und acht Wochen nach einer Geburt wegen Reiseunfähigkeit ausscheide. Dies folge aus einer entsprechenden Anwendung des Mutterschutzgesetzes und beruhe auf der allgemeinen Erkenntnis, dass im Fall einer erheblichen physischen oder psychischen Belastung der Schwangeren in dieser Zeit Gefahren für Mutter und Kind nicht von der Hand zu weisen seien. Eine weitere Reiseunfähigkeit müsse durch ein fachärztliches Attest nachgewiesen werden.
Mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2016 legte der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller ein ärztliches Attest vom 29. September 2016 vor, aus dem sich ergibt, dass die Antragstellerin uneingeschränkt reisetauglich ist. Weiter wurde vorgetragen, dass für den am … … 2016 geborenen Sohn … beim Bundesamt die Anerkennung als Asylbewerber nach dem Asylgesetz beantragt worden sei. Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2016 wurde ein ärztliches Attest für das Kind vorgelegt. Das Kind sei noch zu jung und eine Reise zurzeit nicht zu empfehlen. Die erste Impfung sei für Ende Oktober geplant.
Mit Bescheid vom 15. November 2016 lehnte das Bundesamt den für das Kind gestellte Asylantrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Polen an. Es wird ausgeführt, dass Polen für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig sei und eine Reiseunfähigkeit des Kindes nicht vorliege. Das vorgelegte Attest, das lediglich auf das geringe Lebensalter des Kindes hinweise, sei zeitlich überholt und diagnostiziere keine Krankheit, die einer medizinischen Behandlung bedürfe. Gegen die ablehnende Entscheidung des Bundesamts wurde Klage erhoben und einstweiliger Rechtsschutz beantragt (Az.: M 6 K 16.51119, M 6 S 16.51120).
Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
Der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid des Bundesamtes vom 14. Juni 2016 verfügte Anordnung der Abschiebung nach Polen gerichtete Antrag (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) ist zulässig, insbesondere fristgerecht gestellt (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG), aber unbegründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des ablehnenden Bescheides und dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragsteller regelmäßig zurück.
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist der Bescheid des Bundesamtes vom 14. Juni 2016 im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtmäßig. Das Bundesamt hat zu Recht die Abschiebung der Antragsteller nach Polen angeordnet.
Das Bundesamt ordnet gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden Dublin-III-Verordnung (vgl. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sog. Dublin-III-VO) ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO). Die polnische Auslandsvertretung stellte den Antragstellern Visa für die Einreise in den Schengen-Raum aus. Damit ist Polen gem. Art. 12 Abs. 2 und 4 Dublin-III-VO zuständiger Mitgliedstaat für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz. Die polnischen Behörden haben aus diesem Grund der Übernahme der Antragsteller zugestimmt.
Die Antragsgegnerin ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO gehindert, die Antragsteller nach Polen zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufwiesen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen würden.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Es gilt grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Allerdings hat nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat zur Folge, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert ist, den Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen. Nur wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris Rn. 75, 80, 82, 85 und 86). Diese vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze sind nunmehr auch ausdrücklich in die Dublin-Verordnung aufgenommen worden. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.03.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9).
Systemische Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen in Polen, die einer Abschiebung der Antragsteller entgegenstehen würden, sind nicht ersichtlich. Das Gericht verweist hier auf das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. Januar 2016 (11 B 15.50130 – juris Rn. 23 ff.), in dem im Einzelnen dargelegt wird, dass systemische Mängel im Asylsystem Polens nicht bestehen. Es wird u. a. ausgeführt, dass die früher bemängelte Praxis, Asylbewerber in ihr Heimatland abzuschieben, bevor die Gerichte über deren Klagen gegen eine ablehnende Entscheidung entschieden haben, durch das neue Ausländergesetz vom 1. Mai 2014 beseitigt worden sei. Nunmehr werde die Rückkehrentscheidung nicht mehr zeitgleich mit der Entscheidung über den Asylantrag getroffen (vgl. BayVGH v. 19.1.2016, a. a. O., Rn. 25). Aus dem AIDA-Bericht (Asylum Information Database, Stand: Januar 2015) ergibt sich, dass es keine Hindernisse für Dublin-Rückkehrer gibt, das Asylverfahren aufzunehmen, wenn sie dies wollen (S. 23). Es besteht auch ein ausreichender Zugang zu medizinischer Versorgung. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 10. März 2015 (abrufbar unter MILo) werden Ausländern, die den Flüchtlingsstatus beantragt haben, folgende medizinische Leistungen gewährt: Gesundheits-Grundfürsorge, fachärztliche Konsultationen, Spezialuntersuchungen, Hospitalisierung, medizinisches Rettungswesen in dem vertraglich festgelegten Umfang, Rehabilitation und zahnärztliche Behandlungen.
Es liegt auch kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Das Bundesamt hat im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG die (rechtliche und tatsächliche) Durchführbarkeit der Abschiebung und damit sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen, so dass daneben für eine eigene Entscheidungskompetenz der Ausländerbehörde für die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG kein Raum verbleibt (vgl. BVerfG, B.v. 17.09.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 11 mit Verweis auf die einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung). Das bei der Antragstellerin zunächst vorliegende Vollzugshindernis der unmittelbar bevorstehenden Entbindung und einer angemessenen Nachfrist ist mittlerweile entfallen. Sie ist nach dem vorgelegten Attest reisefähig. Auch das Kind der Antragsteller ist mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 15. November 2016 vollziehbar ausreisepflichtig. Für die dagegen gerichtete Klage und den gestellten Eilantrag ist die entscheidende Kammer aufgrund des Geschäftsverteilungsplans des Gerichts nicht zuständig. Ein Abschiebungshindernis im Hinblick auf Art. 8 EMRK liegt nur dann vor, wenn die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Kindes vom Gericht angeordnet wird. Aufgrund der ständig geübten Praxis wird das Bundesamt die gerichtliche Entscheidung in dem Verfahren M 6 S 16.51120 abwarten, bevor mit der Abschiebung der Antragsteller begonnen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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