Verwaltungsrecht

Dublin-Verfahren (Ungarn)

Aktenzeichen  M 12 S 16.50456

Datum:
19.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a Abs. 1 S. 2, § 36 Abs. 4
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Abs. 2, Art. 10, Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

Aufgrund der aktuellen Erkenntnislage ist davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn für Dublin-Rückkehrer, jedenfalls für minderjährige Kinder, systemische Mängel aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung iSd Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit sich bringen, da in Ungarn mindestens seit September 2014 routinemäßig und ohne Einzelfallprüfung Familien mit minderjährigen Kindern in Asylhaft genommen werden und die für die Unterbringung von asylsuchenden Familien vorgesehene Haftanstalt Debrecen für den Aufenthalt von Familien mit minderjährigen Kindern nicht geeignet ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klagen der Antragsteller (Az. M 12 K 16.50455) gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Abschiebung nach Ungarn im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
Die Antragsteller sind eigenen Angaben zufolge afghanische Staatsangehörige und wurden am 24. Januar 2016 ohne einen gültigen Aufenthaltstitel aufgegriffen.
Es ergaben sich Eurodac-Treffer sowohl für den Antragsteller zu 1) (HU1…) als auch für die Antragstellerin zu 2) (HU1…).
In einem Fragebogen gaben die Antragsteller zu 1) und 2) gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) an, sie hätten Afghanistan am 10. Juni 2015 verlassen und seien über Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, die Slowakei und Tschechien nach Deutschland gereist, wo sie am 19. Dezember 2015 angekommen seien. Die ungarische Polizei habe sie unmenschlich behandelt und ihnen mit Gewalt Fingerabdrücke abgenommen. Die Antragstellerin zu 2) sei in der 12. Woche schwanger.
Auf die Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 22. März 2016 erfolgte keine Reaktion der ungarischen Behörden.
Mit Bescheid vom 20. Juni 2016, zugestellt am 25. Juni 2016, ordnete das Bundesamt die Abschiebung nach Ungarn an (Ziff. 1) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate (Ziff. 2).
Die Abschiebung nach Ungarn sei gem. § 34 Abs. 1 Satz 2 AsylG anzuordnen, da dieser Staat gem. Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die gegen eine Überstellung nach Ungarn sprechen könnten, seien nicht ersichtlich. In Ungarn lägen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vor. Gründe für eine Reduzierung der Frist nach § 11 Abs. 4 AufenthG lägen nicht vor, da besonders schutzwürdige Belange nicht gegeben seien.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom … Juni 2016, bei Gericht am selben Tag per Fax eingegangen, haben die Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2016 aufzuheben.
Gleichzeitig haben sie beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Antragsteller hätten bereits am 7. Januar 2016, spätestens am 24. bzw. 25. Januar 2016 gegenüber dem Bundesamt klar zum Ausdruck gebracht, dass sie einen Asylantrag stellen wollten. Auch die Antragsgegnerin gehe hiervon aus. Einen Termin zur Antragstellung hätten sie bislang nicht erhalten. Die Antragsgegnerin habe eine Abschiebungsanordnung erlassen, ohne über den Asylantrag eine Entscheidung getroffen zu haben. Die Antragstellerin zu 2) sei schwanger. Es liege eine Risikoschwangerschaft und damit Reiseunfähigkeit vor. Inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse seien zu berücksichtigen. Der Antragsteller zu 1) könne als Ehemann der Antragstellerin zu 2) ebenfalls nicht abgeschoben werden (Art. 10 Dublin III-VO). Zudem sei von systemischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn auszugehen. Beigefügt war ein ärztliches Attest von Dr. T. vom 27. Juni 2016, wonach sich die Antragstellerin zu 2) in der 35. Schwangerschaftswoche befindet.
Mit Schreiben vom 30. Juni 2016 hat die Antragsgegnerin die Behördenakte übermittelt.
Mit Schriftsätzen vom …, … und … Juli 2016 hat der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller weiter ausgeführt, dass die Antragsteller am 19. Juli 2016 zur Asylantragstellung geladen worden seien. Die Antragstellerin zu 2) habe am … Juni 2016 im Wege einer Notoperation ihr Kind bekommen. Das Kind sei eine Frühgeburt. Am 8. Juli 2016 habe sie das Krankenhaus mit ihrem Kind verlassen. Beigefügt war u. a. eine ärztliche Bescheinigung des Klinikums … vom 5. Juli 2016, wonach das Geburtsgewicht 1920 Gramm betragen habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen gegen die im Bescheid vom 20. Juni 2016 verfügte Abschiebungsanordnung nach Ungarn ist begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung; nicht erforderlich sind insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylG ist hier nicht (entsprechend) anwendbar (vgl. VG Trier, B. v. 18.9.2013 – 5 L 1234/13.TR – juris; VG Göttingen, B. v. 9.12.2013 – 2 B 869/13 – juris). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Klagen der Antragsteller aller Voraussicht nach erfolgreich sein werden. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2016 ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Damit überwiegt das persönliche Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung der Klagen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt in Fällen, in denen der Ausländer den Asylantrag in einem anderen aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt hat, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann.
Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Die Zuständigkeitskriterien der Dublin III-VO finden nach Art. 49 Abs. 2 dieser Verordnung auf Asylanträge, die – wie hier – nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind, Anwendung.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien wäre vorliegend zwar von einer Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auszugehen. Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Vorliegend ist davon auszugehen, dass die Antragsteller über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind und dort bereits um Asyl nachgesucht haben, was durch die bei einer EURODAC-Abfrage für die Antragsteller erzielten Treffer mit der Kennzeichnung „HU1“ (vgl. Art. 24 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26. Juni 2013 (EURODAC-VO)) belegt wird.
Im vorliegenden Fall liegen jedoch wesentliche Gründe für die Annahme vor, dass das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen zumindest in Bezug auf das minderjährige Kind der Antragsteller systemische Mängel aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne der Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. Zwar wurde für das Kind der Antragsteller noch kein Asylantrag gestellt. Einer Überstellung der Antragsteller nach Ungarn ohne ihr neugeborenes Kind steht aber Art. 6 Abs. 1 GG entgegen. Daher ist bei der Prüfung systemischer Mängel auf die gesamte Familie und damit auch auf die Aufnahmebedingungen für das minderjährige Kind abzustellen. Die Überstellung der Antragsteller nach Ungarn erweist sich daher als unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO mit der Folge, dass Ungarn nicht der für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union zuständige Staat ist.
Das gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – finden (EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O., juris Rn. 80).
Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O.) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) zugrundeliegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVwerG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m. w. N.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn derartige systemische Mängel aufweisen (vgl. VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489; VG München, Gerichtsbescheid vom 12.11.2015 – M 9 K 14.50739).
Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation der Antragsteller zutreffen (OVG NRW, U. v. 7.3.2014 – 1 A 21/12 – juris Rn. 130). Abzustellen ist damit in erster Linie auf die Situation von Eltern eines neugeborenen Kindes, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen Asylantrag gestellt haben und nunmehr im Rahmen des sog. Dublin-Systems überstellt werden sollen.
Nach der in Ungarn seit 1. Juli 2013 geltenden Rechtslage können Familien mit minderjährigen Kindern bis zu 30 Tage in Asylhaft genommen werden. Es handelt sich hierbei um eine vom strafgerichtlichen Vollzug gesonderte, spezifisch für Asylbewerber bestimmte Unterbringungsform. Eine solche Haft kann unter anderem dann angeordnet werden, wenn der betreffende Asylbewerber sich vor den Behörden verborgen oder in anderer Weise den Fortgang des Asylverfahrens behindert hat. Alternativ zu einer Haft können auch andere Maßnahmen wie die Festsetzung einer Kaution, eine Beschränkung des Aufenthaltsortes oder Meldeauflagen verfügt werden. Die Haft soll nach dem Gesetz nur auf der Grundlage einer Würdigung des Einzelfalls und dann verhängt werden, wenn die damit verfolgten Zwecke nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können.
Nach Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees im Sommer 2013 wurden die Kapazitäten der entsprechenden Hafteinrichtungen für Asylbewerber seit Einführung dieser Unterbringungsform im Juli 2013 in der Regel ausgeschöpft. Weiter wurde beobachtet, dass eine eingehende Prüfung des Einzelfalls und milderer Mittel nicht erfolgte (vgl. aida-Länderbericht zu Ungarn vom 13.12.2013, abzurufen über: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, dort S. 43 ff.). In einem Bericht der Arbeitsgruppe des OHCHR zu willkürlichen Inhaftierungen über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 wird festgestellt, dass der deutliche Schwerpunkt der gegenüber Asylbewerbern getroffenen Maßnahmen bei deren Inhaftierung liege, was Anlass zur Besorgnis gebe (vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights – OHCHR, Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon the conclusion of its visit to Hungary – 23 September – 2 October 2013, abzurufen unter http://www.ohchr.org). Auch der Kommissar des Europarats für Menschenrechte kam aufgrund eines Aufenthalts in Ungarn vom 1. bis 4. Juli 2014 zu der Feststellung, dass etwa 25% aller Asylbewerber in Haft genommen werden (vgl. Bericht vom 16.12.2014, abzurufen unter: http://www.coe.int/en/web/commissioner/country-report/hungary). Diese Zahlen deuteten darauf hin, dass von den im Gesetz vorgesehenen Alternativen zur Haftanordnung sehr wenig Gebrauch gemacht werde.
Während der Kommissar des Europarats für Menschenrechte Anfang Juli 2014 noch keine neueren Fälle der Inhaftierung von Familien feststellen konnte (Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Report following his visit to Hungary from 1 to 4 July 2014 vom 16.12.2014, Rn. 160), ergibt sich aus neueren Erkenntnismitteln, dass seit September 2014 auch verstärkt – bzw. nach Angaben des UNHCR – routinemäßig und ohne Einzelfallprüfung von der Möglichkeit, Familien mit minderjährigen Kindern zu inhaftieren, Gebrauch gemacht wird (vgl. die Stellungnahme des UNHCR gegenüber dem ungarischen Innenministerium vom 7. Januar 2015 „UNHCR comments and recommandations on the draft modification of certain migration, asylum related and other legal acts for the purpose of legal harmonization”, Seite 16, abrufbar unter: http://www.unhcr-centraleurope.org/pdf/recources/lega-doc
uments/unhcr-views-on-central-europes-national-asylum-laws/unhcr-comments-and-recommendations-to-draft-legal-amendmenst.html). Über entsprechende Beobachtungen berichtet auch der Europäischen Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE) (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/news/; Länderbericht für das Projekt AIDA – Asylum Information Database zu Ungarn vom 17.2.2015, abrufbar unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, vgl. dort S. 54). Auch aus dem aktualisierten aida-Länderbericht (Stand 1.11.2015 – abrufbar unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary) sowie aus Auskünften des Auswärtigen Amtes (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 19. 11.2014 und an das VG Regensburg vom 27.1.2016) geht hervor, dass Familien mit minderjährigen Kindern weiterhin inhaftiert und nicht von Asylhaft ausgenommen werden.
Hinsichtlich der Haftbedingungen lässt sich dem vorgenannten Aida-Länderbericht entnehmen, dass in Ungarn drei Asylhaftanstalten bestehen, die sich in Debrecen, Békéscsaba und Nyírbátor befinden. Die Hafteinrichtung Debrecen, in der seit Februar 2015 asylsuchende Familien untergebracht werden, ist nach Einschätzung des Ungarischen Helsinki Komitee (HHC) für den Aufenthalt von Familien mit minderjährigen Kindern nicht geeignet. Kinder hätten dort keine Möglichkeit zur Schule zu gehen und an sozialen oder erzieherischen Aktivitäten teilzunehmen. Spielzeug sei in der Asylhaftanstalt kaum vorhanden. Auch die Verpflegung sei für Kinder nicht angemessen (vgl. S. 67 des Berichts). Des Weiteren gebe es in dieser Einrichtung nur einen kleinen Außenbereich. Es handle sich hierbei um einen schmalen Hof, der nur unzureichend ausgestattet sei und nicht sinnvoll für körperliche Bewegung, Sport oder andere Aktivitäten genutzt werden könne. Darüber hinaus gebe es in dem Hof auch keine Bank und keinen Schatten (vgl. S. 66 des Berichts). Die in der Asylhaftanstalt präsenten Sicherheitskräfte seien einschüchternd für Kinder (S. 67 des Berichts). In allen Zentren gebe es Beschwerden über das aggressive Verhalten der Sicherheitskräfte (vgl. S. 65 des Berichts). In medizinischer Hinsicht ist lediglich eine Grundversorgung gewährleistet (S. 65 des Berichts).
Das Gericht geht aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittel davon aus, dass bei den Antragstellern im Falle einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des dortigen Asylverfahrens der Haftgrund der Verzögerung des Asylverfahrens oder der Fluchtgefahr angenommen werden wird und ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung droht. Weiterhin ist anzunehmen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne der Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) in Bezug auf das neugeborene Kind mit sich bringen. Dabei berücksichtigt das Gericht maßgeblich, dass die Antragsteller als Familie mit einem neugeborenen, zumal frühgeborenen, Kind einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe angehören. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann (vgl. BVerfG, B.v 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – juris Rn. 32) und dessen Rechtsprechung maßgeblich für die Auslegung der Menschenrechte der EMRK ist, hat in seinem Urteil vom 4. November 2014 (29217/12 „Tarakhel ./. Schweiz“, abrufbar unter: www.asylnet) hervorgehoben, dass Kinder über die Gruppe der Asylsuchenden hinaus einen besonderen Schutz genießen, da sie spezifische Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Dies gelte unabhängig davon, ob sie allein oder in Begleitung ihrer Eltern sind. Die Aufnahmebedingungen für asylsuchende Kinder müssten ihrem Alter und ihren Bedürfnissen angepasst sein. Im Fall Popov gegen Frankreich sah der EGMR bereits bei einer 15-tägigen Inhaftierung von Kleinkindern in Frankreich angesichts der dortigen Haftbedingungen (Polizeipräsenz, Angst vor Abschiebung, Spannungen unter den Insassen, kein kindgerechtes Mobiliar) die von Art. 3 EMRK geforderte Schwelle an Schwere überschritten und eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Kinder als gegeben an (EGMR, U. v. 19.1.2012 – 39472/07 Nr. 91 – Popov/Frankreich).
Die in Bezug auf Ungarn vorliegenden Auskünfte rechtfertigen die Einschätzung, dass die Haftbedingungen in Ungarn den Bedürfnissen minderjähriger Kinder nicht hinreichend Rechnung tragen. Aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Bedingungen, unter denen asylsuchende Familien untergebracht werden, sich nicht für den Aufenthalt minderjähriger Kinder eignen. In der für die Unterbringung von Familien vorgesehenen Haftanstalt in Debrecen gibt es für Kinder weder soziale oder erzieherische Aktivitäten noch einen ausreichenden Außenbereich. Spielzeug ist kaum vorhanden. Durch die dort präsenten bewaffneten Sicherheitsleute wirkt die Haftanstalt für Kinder zudem besonders einschüchternd. Auch ein Aufenthalt für einen Zeitraum von wenigen Tagen erscheint dabei bereits geeignet, Stress, Angst und traumatisierende Folgen für die Psyche der Kinder hervorzurufen. Dass die Verpflegung in der Haftanstalt nicht angemessen ist, ist im Fall der Antragsteller angesichts ihres frühgeborenen Kindes mit geringem Geburtsgewicht von nur ca. 1900 Gramm von besonderer Bedeutung, da sich hierdurch eine gesundheitliche Gefährdung des Kindes ergeben kann. Auch erscheint eine ausreichende medizinische Versorgung des frühgeborenen Kindes der Antragsteller nicht gewährleistet. Insgesamt hat das Gericht nach summarischer Prüfung daher keine Zweifel, dass die ungarischen Asylhaftbedingungen für den Aufenthalt minderjähriger Kinder völlig ungeeignet sind und dass die von Art. 3 EMRK geforderte Schwelle an Schwere überschritten wird.
Angesichts systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen ist Ungarn im vorliegenden Fall daher aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union nicht der für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zuständige Staat, so dass die Abschiebungsanordnung nach Ungarn im Bescheid vom 20. Juni 2016 nach überschlägiger Prüfung rechtswidrig ist. Dabei kann offen bleiben, ob auch in Bezug auf die Antragsteller eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union gegeben ist. Denn eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemessen an dem in Art. 6 GG und 8 EMRK verbürgten Schutz der Familie unzulässig (vgl. VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489; OVG Niedersachsen, B. v. 2. 5. 2012 – 13 MC 22/12 – juris). Ein solches inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ist bei der Prüfung einer auf § 34a AsylG beruhenden Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (OVG Niedersachsen, B. v. 2. 5. 2012 -13 MC 22/12 – juris, Rn.27).
Darüber hinaus besteht im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) hinsichtlich der Antragstellerin zu 2) Reiseunfähigkeit und damit ein weiteres inlandsbezogenes Abschiebungshindernis. Angesichts der erst kürzlich erfolgten Geburt eines frühgeborenen Kindes kann bei einer Reise zum jetzigen Zeitpunkt eine konkrete und ernsthafte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit der Antragstellerin zu 2) oder des Kindes nicht ausgeschlossen werden. Das Gericht geht davon aus, dass die Bestimmungen über Mutterschutzfristen im Mutterschutzgesetz bei der Frage der Durchführbarkeit einer Abschiebung entsprechend heranzuziehen sind. Nach § 3 Abs. 2 Mutterschutzgesetz (MuSchG) dürfen werdende Mütter 6 Wochen vor der Entbindung grundsätzlich nicht mehr beschäftigt werden; das Beschäftigungsverbot dauert in der Regel bis 8 Wochen nach der Entbindung (vgl. § 6 Abs. 1 MuSchG). Die Vorschriften beruhen auf der allgemeinen Erkenntnis, dass im Falle einer erheblichen physischen oder psychischen Belastung in dieser Zeit Gefahren für Mutter und Kind nicht von der Hand zu weisen sind. Diese gesetzgeberische Wertung zieht in aller Regel auch für Abschiebungen eine zeitliche Grenze (vgl. VG Saarland, U. v. 6.3.2015 – 3 K 1004/14 – juris). Da eine Trennung der Familie unzulässig ist (s.o.) erstreckt sich das Abschiebungshindernis auch auf den Antragsteller zu 1).
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.

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