Aktenzeichen M 10 K 18.1818
Leitsatz
Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des EU-Arbeitsweisevertrages nicht beeinträchtigen wird (BVerwG BeckRS 2009, 26464). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I.
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14. März 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die in Ziffer 1 des Bescheids nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 114 VwGO) auf der Grundlage von § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU ausgesprochene Verlustfeststellung ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris) nicht zu beanstanden.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
Nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts darf die Entscheidung über die Verlustfeststellung nur aus schwerwiegenden Gründen (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU) und bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU) getroffen werden.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
a. Der Kläger ist freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Als bulgarischer Staatsangehöriger ist er seit dem Beitritt Bulgariens zur Europäischen Union am 1. Januar 2007 Unionsbürger. Er ist in ungekündigter Stellung bei der Firma … Dienstleistungen GmbH beschäftigt und hält sich somit als Arbeitnehmer i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU im Bundesgebiet auf.
b. Da er weder ein Daueraufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland erworben hat noch hier in den letzten 10 Jahren seinen Aufenthalt hatte, kann er die besonderen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU und den durch diese Regelungen bewirkten erhöhten bzw. verstärkten Schutz vor Ausweisung nicht für sich in Anspruch nehmen.
c. Das Gericht ist auf der Grundlage der beigezogenen Akten, der mündlichen Verhandlung und der persönlichen Verhältnisse des Klägers überzeugt, dass die den vom Kläger begangenen Straftaten zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt.
aa. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – Rs 30/77 „Bouchereau“ – NJW 1978, 479).
Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris; U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 38); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG Urt. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist seitens der zuständigen Behörde also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist. Bei der vorzunehmenden Prognose ist die strafrechtliche Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung für die Ausländerbehörde zwar nicht bindend, aber regelmäßig zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – BeckRS 2013, 46726).
Das Gericht hat die prognostizierte Wiederholungsgefahr zu überprüfen; dabei bedarf es regelmäßig keiner Hinzuziehung eines Sachverständigen, da sich die Gerichte bei der tatsächlichen Würdigung der jeweiligen Straftaten in Tatsachen- und Erkenntnisbereichen bewegen, die Richtern allgemein zugänglich sind (BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – BeckRS 2014, 59696).
bb. Gemessen an diesen Vorgaben ist beim Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr gegeben.
Nach seiner Wiedereinreise Ende 2013 wurde der Kläger strafgerichtlich zweimal wegen Sexualdelikten verurteilt, zunächst am 29. März 2016 zu einer Bewährungsstrafe von 10 Monaten, anschließend am 5. September 2016 zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten.
Zunächst ist mit der Beklagten festzustellen, dass solche Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung höchst persönlichkeits- und sozialschädlich sind und weitreichende Konsequenzen von ihnen ausgehen. Sie verletzen nicht nur die Würde der Opfer, sondern fügen den Opfern erhebliche körperliche und seelische Schäden zu, die sich schlimmstenfalls ein Leben lang auswirken. Den damit angegriffenen Rechtsgütern der körperlichen und seelischen Integrität kommt dabei höchster Rang zu; ihr Schutz ist eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Bereits einen Monat nach seiner strafgerichtlichen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs hat sich der Kläger der sexuellen Nötigung schuldig gemacht. Diese erneute einschlägige Straftat erfolgte somit nicht nur in offener Bewährung, sondern auch mit einer enormen Rückfallgeschwindigkeit. Dementsprechend ging auch das Strafgericht in seinem Urteil vom 5. September 2016 von einer negativen Sozialprognose aus und sah keine Möglichkeit für eine nochmalige Bewährungsstrafe.
Hinzu kommt, dass die Straftaten durch den Kläger jeweils unter Alkoholeinfluss begangen wurden und sein Alkoholproblem gänzlich unbearbeitet ist. Zwar ergab die psychiatrische Begutachtung des Klägers im Strafverfahren, dass bei ihm keine Alkoholabhängigkeit mit Krankheitswert bestand; dies wird auch durch die im Klageverfahren vorgelegten Laborwerte einer Blutuntersuchung beim Kläger bestätigt. Dennoch scheint, wie der Kläger selbst eingeräumt hat, der Genuss von Alkohol bei ihm zu Kontrollverlusten und offensichtlich insbesondere zu sexueller Enthemmung zu führen. Im Rahmen seiner Beratungstermine im Diakoniewerk Blaues Kreuz am 14. Mai 2018 und 30. Juli 2018 hat er zwar erklärt, er wolle zukünftig abstinent leben, um keine weiteren Kontrollverluste mehr zu erleben; auch hat er in der mündlichen Verhandlung am 8. November 2018 angegeben, er habe seit seiner Haftentlassung nicht getrunken und bemühe sich derzeit um psychologische Hilfe betreffend sein Verhalten im alkoholisierten Zustand. Allerdings hat er bisher keine Therapie begonnen.
Die bloße Absicht, sich mit einer Alkoholproblematik auseinanderzusetzen, reicht nicht aus, um die Wiederholungsgefahr auszuschließen. Vielmehr bildet in Fällen der Straffälligkeit infolge Alkoholabusus die erfolgreiche Absolvierung einer Therapie die zwingende Voraussetzung für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr. Ausschlaggebend ist insoweit die dauerhafte Korrektur vorhandener Handlungs- und Verhaltensmuster (BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – BeckRS 2016, 40758); in solchen Fällen muss seitens der Ausländerbehörde auch nicht abgewartet werden, ob bei dem Betroffenen eine positive Entwicklung eintritt (BayVGH, B.v. 17.12.2015 a.a.O.).
cc. Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Zwar arbeitet der Kläger zur Zufriedenheit seines Arbeitgebers als Abbruchhelfer und ist nicht auf (ergänzende) Sozialhilfe angewiesen. Außerdem ist er eng in die Familie seiner erwachsenen Tochter in … eingebunden und hat eine enge Beziehung zu seinen Enkeln entwickelt.
Jedoch ist zu berücksichtigen, dass er erst seit Ende 2013 wieder in Deutschland ist und von dieser Zeit etwa zwei Jahre in Haft verbracht hat. Auch ist zu berücksichtigen, dass der Kläger trotz seiner Aufenthalte in der Bundesrepublik der deutschen Sprache kaum mächtig ist.
Gegen eine gelungene Integration des Klägers spricht insbesondere seine wiederholte Straffälligkeit. Dies gilt umso mehr, als der Kläger bereits einmal infolge einer Verlustfeststellung 2011 abgeschoben worden war, dies ihn aber offensichtlich nicht dergestalt beeindruckt hat, als dass er nach seiner Wiedereinreise straffrei gelebt hätte.
Andererseits bestehen beim Kläger noch Bindungen zu seinem Herkunftsland. Er ist in Bulgarien aufgewachsen, hat dort die Schule besucht und war 16 Jahre lang mit einer Bulgarin verheiratet. Die (Ex-)Frau sowie zwei seiner Kinder leben auch noch in Bulgarien. Erst im Alter von 48 Jahren ist Kläger erstmals nach Deutschland eingereist. Es sind keine Umstände ersichtlich, warum ihm eine Wiedereingliederung in die bulgarische Gesellschaft nicht gelingen sollte.
dd. Die Verlustfeststellung stellt sich auch im Sinne der Grund- und Menschenrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK, die den Schutz der Familie und des Familienlebens gebieten, als verhältnismäßig dar.
Die Tochter des Klägers ist erwachsen. Weder sie noch die Enkel bedürfen, etwa infolge Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, besonderer Hilfe. Es sind keine Umstände vorgetragen oder ersichtlich, dass sie auf die ständige Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet angewiesen wären.
Die Aufrechterhaltung des Kontakts zu Tochter und Enkelkindern ist auch von Bulgarien aus möglich und zumutbar. Die Familie kann den Kläger dort besuchen. Um Härtefällen gerecht zu werden, kann der Kläger in außergewöhnlichen Situationen gegebenenfalls Betretenserlaubnisse für die Bundesrepublik beantragen.
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass während der zweijährigen Haftzeit des Klägers der Kontakt zu Tochter und Enkeln auch auf Besuche beschränkt war.
2. Neben der Verlustfeststellung ist auch die von der Beklagten in Ziffer 2 des Bescheids vom 14. März 2018 auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer von fünf Jahren rechtlich nicht zu beanstanden.
a. Aus der Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU folgt ein gesetzliches Einreise und Aufenthaltsverbot (§ 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU), das von Amts wegen zu befristen ist (§ 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU). Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten.
Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Dabei hat die Behörde kein Auswahlermessen, weshalb die Entscheidung gerichtlich voll überprüfbar ist (BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – ZAR 2015, 190).
Vorzunehmen ist zunächst eine prognostische Einschätzung, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde lag, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag; diese Entscheidung muss sich anschließend an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen (BVerwG, U.v, 25.3.2015 – 1 C 18.14 – DÖV 2015, S. 675).
b. Von den Kläger geht weiterhin eine hohe Gefahr der Begehung erheblicher (Sexual-)Straftaten aus; die letzte abgeurteilte Tat erfolgte mit hoher Rückfallgeschwindigkeit innerhalb offener Bewährung. Der Kläger hat zudem ein unbearbeitetes Alkoholproblem.
Auch unter Berücksichtigung seiner sozialen Bindungen zu seiner Tochter und deren Familie im Bundesgebiet ist die Sperrfrist von fünf Jahren erforderlich und insbesondere mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht unverhältnismäßig.
Ergänzend nimmt das Gericht insoweit Bezug auf die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid, denen es folgt (117 Abs. 5 VwGO).
3. Schließlich stellt sich auch Ziffer 3 als rechtmäßig dar. Die verfügte Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 3, Satz 4 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage § 7 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4, § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, § 59 AufenthG angedroht.
II.
Die Klage war daher mit der Kostenfolge nach § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.