Verwaltungsrecht

Erfolglose Klage gegen Ausweisung wegen schwerer Straftaten

Aktenzeichen  Au 1 K 16.1745

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG §§ 53 ff.
AufenthG AufenthG § 11
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2
EMRK EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1 Bei bedrohten Rechtsgütern mit hervorgehobener Bedeutung sind im Rahmen der tatrichterlichen Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eingetretene Schaden ist. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Des Schutzes des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG bedarf nicht, wer keine tatsächliche Beziehung zu seinem Kind hat und die Ausübung dessen Umgangsrechts zum Schutz des Kindes nur vereinzelt und in betreuter Form ausgeübt werden darf. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die im Hauptantrag zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der Hilfsantrag ist bereits unzulässig und ebenfalls unbegründet.
1. Gegenstand der Klage ist zum einen die Ausweisungsverfügung der Beklagten vom 16. November 2016 (Ziffer 1 des Klageantrags). Zum anderen begehrt der Kläger die Verpflichtung der Beklagten, ihm eine Duldung für mindestens drei Monate zu erteilen und ihm die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit zu gestatten (Ziffer 2 des Klageantrags).
2. Die Klage ist im Hauptantrag unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 53 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 54 und 55 AufenthG in der seit 1. Januar 2016 geltenden Fassung. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Hierbei sind nach § 53 Abs. 2 AufenthG insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) und des Bleibeinteresses (§ 55 AufenthG) ist die Kammer der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt.
b) Stehen dem Ausländer – wie hier dem Kläger als türkischem Staatsangehörigen über seine Eltern – Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn der Ausländer darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
Der Kläger ist gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 assoziationsberechtigt. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob die zum Zeitpunkt seiner Geburt vorübergehend eingetretene Arbeitslosigkeit seines Vaters noch als lediglich vorübergehende Abwesenheit vom Arbeitsmarkt gesehen werden kann. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21. Dezember 2016 (C-508/15 und C-509/15 – juris) ist die Entstehung des Rechts aus Art. 7 ARB 1/80 nicht nur in den ersten drei Jahren des Zusammenlebens, hier also in den ersten drei Jahren nach der Geburt des Klägers, sondern auch noch zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Der EuGH (EuGH, a.a.O. – juris Rn. 76) führt zu diesem Thema aus: „Art. 7 Abs. 1 erster Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ist dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, dem zum Zweck der Familienzusammenführung die Einreise in den Aufnahmemitgliedstaat gestattet wurde und der seit seiner Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt hat, ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat verleiht, selbst wenn der Zeitraum von mindestens drei Jahren, während dessen dieser Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte, nicht unmittelbar auf die Ankunft des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat folgte, sondern in einen späteren Zeitraum fällt.“ In der Rechtsprechung ist zudem anerkannt, dass Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht nur Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers zustehen, die die Erlaubnis erhalten haben, zu ihm zu ziehen, sondern auch Kindern türkischer Arbeitnehmer, die – wie der Kläger – im Bundesgebiet geboren worden sind (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2004 – Cetinkaya, C-467/02 – juris Rn. 21ff.; BayVGH, U.v. 21.1.2013 – 10 B 11.1722 – juris Rn. 33). Deswegen ist davon auszugehen, dass auch das Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2016 für beide Fallkonstellationen gelten soll.
In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze ist die Rechtsstellung des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt entstanden, da beide Elternteile ausweislich der sich in den Akten befindlichen Versicherungsverläufen in den der Geburt des Klägers folgenden Jahren jeweils für mindestens drei Jahre dem Arbeitsmarkt angehörten.
c) Die Ausweisung des Klägers ist auch unter Berücksichtigung des unter Randnummer 24 dargelegten strengeren Maßstabs rechtmäßig, weil die Gefahr der Begehung erneuter gravierender Straftaten nach wie vor gegenwärtig besteht und nach der erforderlichen Interessenabwägung die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Für die rechtliche Beurteilung der Wiederholungsgefahr ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 13.11 – InfAuslR 2012, 397, Rn. 12).
aa) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, weil er schwere Straftaten begangen hat.
Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers wegen Vergewaltigung, Körperverletzung in mehreren Fällen und Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten durch Urteil des Amtsgerichts … vom 10. Dezember 2014. Die in diesem Urteil festgestellten Straftaten stellen unzweifelhaft eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar: Am 23. August 2013 zwang der Kläger seine damalige Freundin zum Oralverkehr, obwohl diese sein Ansinnen zurückwies. Am 27. August 2013 schlug er derselben Geschädigten mit der rechten Hand ins Gesicht, woraufhin diese Schmerzen am Kiefer erlitt. Am 2. September 2013 biss er ihr in die Backen und versetzte ihr einen Faustschlag auf die rechte Kinnseite. Dadurch platzte ihre Lippe auf. Am 7. November 2013 schlug er ihr erneut mit der flachen Hand ins Gesicht, wodurch ein Stück ihres Zahnes abbrach. Schließlich fuhr er zwischen Juli und September 2013 insgesamt drei Mal mit dem PKW seiner Ex-Freundin auf öffentlichen Straßen, obwohl er die erforderliche Fahrerlaubnis nicht besaß.
bb) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, weil eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist. Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung – wie im Falle der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und sexuellen Selbstbestimmung – sind im Rahmen tatrichterlicher Prognose der Wiederholungsgefahr umso geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 16). Die auf der Grundlage aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Beurteilung, ob das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, führt unter Berücksichtigung der bereits in der Vergangenheit zahlreich begangenen Straftaten und der aktuell noch nicht abgeschlossenen Sozialtherapie zur Annahme einer erheblichen Wiederholungsgefahr. An diesem Ergebnis vermag auch der Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, nichts zu ändern.
Für den Kläger finden sich seit dem Jahr 2005 insgesamt sieben Einträge im Bundeszentralregister, wovon fünf Verurteilungen (zumindest auch) Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit zum Inhalt haben. Insbesondere seit dem Jahr 2011 ist der Kläger beinahe jährlich wegen diverser Körperverletzungsdelikte verurteilt worden. Insbesondere auch der mit Urteil vom 23. Oktober 2012 wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung verhängte Jugendarrest von 2 Wochen konnte den Kläger nicht davon abschrecken, bereits einige Monate später erneut straffällig zu werden. Während seine beiden ersten Körperverletzungsopfer aus dem Jahr 2011 und 2012 ihm fremde Passanten waren, bezogen sich die Gewalttaten aus dem Jahr 2013 größtenteils auf seine damalige Freundin. Anlass für die Gewaltausbrüche sowohl gegenüber seiner Ex-Freundin als auch gegenüber den sonstigen Personen waren in der Regel alltägliche Situationen, in denen der Kläger im Laufe einer zunächst verbalen Auseinandersetzung schließlich handgreiflich wurde und zuschlug. Auslöser waren zum Beispiel eine Diskussion, wer wem noch Geld schuldet oder die Tatsache, dass die Geschädigte ihn nicht ohne Führerschein mit ihrem Auto fahren lassen wollte. Daraus zeigt sich, dass der Kläger in jeder beliebigen Lebenssituation und aus nichtigen Anlässen dazu neigt, Straftaten zu begehen, wenn er gereizt wird oder nicht bekommt, was er will. Auffällig sind auch seine hohe Rückfallgeschwindigkeit und der enge zeitliche Rahmen, in dem er eine Vielzahl an Gewaltdelikten begangen hat.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund des relativ positiven Führungsberichts des Klägers bzw. seiner Teilnahme an einer Sozialtherapie. Der Kläger gab diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung an, er habe im März 2016 eine Therapie in der JVA begonnen. In diesem Rahmen habe er wöchentliche Einzelgespräche mit seinem Therapeuten und nehme zusätzlich an der Deliktgruppe und an der Gruppe für Soziales Kompetenztraining teil. Dies wird durch die schriftliche Stellungnahme seines Therapeuten vom 13. April 2017 bestätigt. Nach den Ausführungen des Therapeuten sei der Kläger sehr interessiert an der Therapie und zeige sich motiviert und offen, seine Taten aufzuarbeiten.
Dies reicht jedoch nach Ansicht der Kammer nicht aus, um ernsthafte Zweifel an einer Wiederholungsgefahr aufzuwerfen. Auch der Therapeut gibt an, dass die Therapie noch während der gesamten Inhaftierung fortzuführen und selbst nach der Entlassung des Klägers eine therapeutische Nachsorge für einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren notwendig sei. Das heißt, ein erfolgreicher Abschluss der Therapie könnte frühestens in über drei Jahren – also im Oktober 2020 – vorliegen. Nach Angaben des Klägers habe er zwar mittlerweile ein Anti-Aggressionstraining in der JVA abgeschlossen, einen Nachweis über seine Fortschritte und die Lerninhalte des Trainings konnte er jedoch nicht vorlegen. Für das Gericht ist somit nicht erkennbar, dass durch diese Maßnahme eine ernsthafte Besserung seines Verhaltens eingetreten ist.
Ohne – nachweislich – erfolgreiche Therapie der Gewaltbereitschaft und Sexualdelinquenz des Klägers ist nach Ansicht der Kammer damit zu rechnen, dass er nach seiner Entlassung alsbald in alte Verhaltensmuster zurückfallen und weiteren schwere Straftaten, insbesondere im Bereich der Körperverletzungs- und Sexualdelikte, begehen wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach Haftentlassung auf erhebliche familiäre Unterstützung zurückgreifen könnte. Seine Familie vermochte ihm nämlich auch in seinem bisherigen Leben nicht den nötigen Halt zu vermitteln. Um die Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers ernsthaft in Zweifel ziehen zu können, wäre vielmehr erforderlich gewesen, dass der Kläger eine Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig straffreien Verhaltens auch nach Straf- bzw. Therapieende glaubhaft gemacht hätte. Insbesondere müsste sich der noch inhaftierte Kläger auch noch außerhalb der Justizvollzugsanstalt über einen längeren Zeitraum bewähren und durch gesetzeskonformes Verhalten zeigen, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in der Lage ist, nicht straffällig zu werden (vgl. BayVGH, B.v. 24.02.2016 – 10 ZB 15.2080 – juris Rn. 10). Daran fehlt es vorliegend. Die Ausländerbehörde ist auch nicht verpflichtet, eine Therapie oder den weiteren Verlauf der Strafhaft abzuwarten.
cc) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt und die Ausweisung auch für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist.
Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44 m. w. N.). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführen (vgl. dazu die Gesetzesbegründung zu § 53 Abs. 3, BT-Drs. 18/4097 S. 50; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 37).
(1) Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden ist. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts … vom 10. Dezember 2014 u.a. wegen Körperverletzung und Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten verurteilt. Daneben ist aufgrund dieser Verurteilung auch § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG einschlägig, da die Taten unter Anwendung von Gewalt begangen wurden.
(2) Auf der anderen Seite besteht nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse des Klägers, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der Kläger ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er ist somit faktisch ein Inländer. Seine nächsten Familienangehörigen (seine Eltern und sein Bruder) leben ebenfalls in Deutschland und sein Lebensmittelpunkt befindet sich in der Bundesrepublik.
Die Voraussetzungen von § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG liegen dagegen wohl nicht vor, da dem Kläger für seine deutsche Tochter kein Sorgerecht zusteht und er derzeit auch (noch) kein Umgangsrecht mit ihr ausübt. Der Kläger gab zwar in der mündlichen Verhandlung an, seine Tochter erstmals im Oktober 2016 und mittlerweile ein zweites Mal im Mai 2017 gesehen zu haben. Auch seien zukünftig regelmäßige Besuche in der JVA in jeweils sechs-wöchigem Abstand geplant. Für diese Vereinbarung fehlen jedoch zum einen jegliche Nachweise. Zum anderen liegt der Regelung des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Annahme zugrunde, dass das minderjährige Kind von der Ausübung des Umgangs profitiert. Wenn im Einzelfall keine tatsächliche Beziehung zwischen dem Elternteil und dem Kind vorliegt und die Ausübung des Umgangsrechts zum Schutz des Kindes – wie hier – nur vereinzelt und in betreuter Form ausgeübt werden darf, ist § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG somit nicht anzuwenden (Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 55 Rn. 10).
(3) Das Vorliegen eines in § 54 AufenthG normierten Ausweisungsinteresses, dem ein gleichwertiges Bleibeinteresse gegenübersteht, führt nicht ohne weiteres zur Ausweisung des Betroffenen. Es muss anhand einer Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalls festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung letztlich überwiegt und die Ausweisung unerlässlich im Sinne von § 53 Abs. 3 AufenthG ist. Bei dieser Abwägung überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse; seine Ausreise ist unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren.
(a) Für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet spricht bei dieser Abwägung, dass er in der Bundesrepublik geboren wurde und sein ganzes Leben hier verbracht hat (sog. faktischer Inländer). Seine sozialen Beziehungen und Bindungen in die Türkei sind gering. Auch seine engsten Familienangehörigen leben in Deutschland. Außerdem ist in diesem Rahmen der zumindest vereinzelte Kontakt zu seiner deutschen Tochter zu berücksichtigen.
(b) Massiv gegen den Kläger spricht jedoch, dass er sich weder wirtschaftlich noch sozial integriert hat und vielfach straffällig geworden ist. Er hat die Schule ohne Abschluss verlassen und erst im Rahmen einer Praxisklasse den Hauptschulabschluss nachgeholt. Eine Lehre hat er weder vor der Haft noch während seiner Zeit in der JVA abgeschlossen. Dort hat er lediglich eine Weiterbildung zum Schweißer absolviert. Auch die mit Schreiben vom 22. Juni 2017 vorgelegte Beschäftigungszusage bei der Firma … lässt nicht auf eine nachhaltige wirtschaftliche Integration schließen. Der Kläger hat seit seiner Jugend zahlreiche und schwerwiegende Straftaten verübt. Dabei hat er mehrfach unter anderem aus nichtigen Anlässen ein hohes Aggressionspotenzial und extreme Gewaltbereitschaft gezeigt und seinen Opfern nicht unerhebliche Verletzungen und Schmerzen zugefügt sowie die hohen Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und sexuellen Selbstbestimmung massiv verletzt.
(c) Aufgrund der Vielzahl an einschlägigen Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, die der Kläger verübt hat, der jeweiligen Tatausführungen, die eine erhebliche Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen offenbart haben, und der nicht unerheblichen Verletzungen, die er den Opfern zugefügt hat, stellt das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, welche das Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung unerlässlich macht (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
dd) Die Ausweisung des Klägers verstößt auch nicht gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. Sie erscheint angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens. Der Kläger kann als sog. „faktischer Inländer“ nur unter besonderer Berücksichtigung des Schutzes des Art. 8 EMRK ausgewiesen werden. Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, kann zunächst auf die Ausführungen unter den Randnummern 35ff. verwiesen werden.
Auch das im Mai 2017 stattgefundene zweite Treffen mit seiner Tochter und die zukünftig angestrebten regelmäßigen Besuche führen zu keinem anderen Ergebnis. Die Normen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK entfalten ihre ausländerrechtlichen Schutzwirkungen nicht schon aufgrund nur formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Vielmehr kommt es entscheidend auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen dem Elternteil und seinem Kind an, die von tatsächlicher Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes getragen sein muss. Ausschlaggebend ist die geistige und emotionale Auseinandersetzung, d.h. die tatsächliche Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes durch Ausüben eines regelmäßigen Umgangs, der dem Üblichen oder Möglichen entspricht. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Tatsache, dass der Umgangsberechtigte nur ausschnittsweise am Leben des Kindes Anteil nimmt und keine alltäglichen Erziehungsentscheidungen trifft, der Annahme einer familiären Lebensgemeinschaft, die dem Schutz von Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK unterliegt, nicht grundsätzlich entgegen steht (BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – InfAuslR 2009, 150 Rn. 15 f.; BayVGH, B.v. 17.5.2013 – 10 CE 13.1065 – juris Rn. 3).
Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im konkreten Fall keine ausländerrechtlichen Schutzwirkungen entfalten, weil die erforderliche tatsächliche Verbundenheit zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter im Sinne einer familiären (Lebens) Gemeinschaft nicht besteht. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Tochter mittlerweile ca. 2,5 Jahre alt ist, der Kläger sie aber lediglich zwei Mal im Rahmen eines Besuches in der JVA gesehen hat. Von einer tatsächlichen emotionalen Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes, das für seine weitere Entwicklung auch nicht zwingend auf seinen Vater angewiesen ist, kann somit nicht ausgegangen werden.
Die Kammer ist auch davon überzeugt, dass es dem volljährigen Kläger möglich und zumutbar ist, sich sprachlich und kulturell in der Türkei zu integrieren. Dies gilt insbesondere deshalb, weil er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, sich auf Türkisch verständigen zu können. Wie sich aus den beigezogenen Strafakten ergibt, verkehrte der Kläger in Deutschland häufig mit türkischstämmigen Mitmenschen. Die Kammer geht auch davon aus, dass in der Familie die türkische Kultur und Tradition gelebt wurde, sodass der Kläger mit der türkischen Kultur vertraut ist und nach möglichen anfänglichen Schwierigkeiten in der Türkei Fuß fassen kann. Seine Familie kann den Kläger in der Türkei besuchen und mittels Telefon und Internet den Kontakt aufrechterhalten. Eine Unzumutbarkeit liegt somit nicht vor.
d) Die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids verfügte Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf vier bzw. bei erfolgreich abgeschlossener Sozialtherapie und nachgewiesener Straffreiheit auf drei Jahre, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Abschiebung bzw. Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BR-Drs. 642/14 S. 39), wobei diese Ermessensentscheidung entgegen der zur früheren Normfassung ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 40) nicht mehr einer uneingeschränkten, vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern das Gericht die Länge der Frist grundsätzlich nur in dem durch § 114 Satz 1 VwGO vorgegebenen Rahmen überprüfen darf. Eine Verkürzung der Dauer der Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot durch das Gericht selbst kommt also nur in Betracht, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. In allen anderen Fällen ist zwar die Entscheidung der Verwaltungsbehörde aufzuheben, jedoch muss das Gericht der Verwaltungsbehörde erneut Gelegenheit geben, ihr Ermessen rechtsfehlerfrei auszuüben (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 54 ff.; U.v. 12.7.2016 – 10 BV 14.1818 – juris Rn. 59). Diese Rechtsauffassung entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, weil nach dem Wortlaut und der Gesetzesbegründung (nur) die Ausweisungsabwägung gerichtlich voll überprüfbar ist (BR-Drs. 642/14 S. 56).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 42). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. zur inhaltsgleichen Vorgängervorschrift BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von max. zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zehn Jahre nicht überschreiten soll. Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten festgesetzte Frist von vier bzw. drei Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung nicht zu lang und daher rechtmäßig. Der Beklagte konnte seine getroffene Entscheidung als Ermessensentscheidung aufrechterhalten; durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht. Insbesondere wurde der noch andauernden Therapie durch die Möglichkeit zur Fristverkürzung Rechnung getragen.
e) Die Abschiebungsandrohung ist ebenso nicht zu beanstanden. Es wird insoweit auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
3. Auch der Hilfsantrag in Ziffer II des Klageantrags hat keinen Erfolg.
Die Klage ist diesbezüglich bereits unzulässig, da dem Kläger bereits das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Nach Aktenlage wurde bisher kein Antrag auf Erteilung der Duldung bei der Beklagten gestellt.
Der Antrag ist zudem auch unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG inklusive Gestattung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Abschiebehindernisse sind keine ersichtlich. Zur Begründung wird auf obige Ausführungen insbesondere unter den Randnummern 44ff. verwiesen.
4. Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Kläger hat als unterlegener Teil die Verfahrenskosten zu tragen.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.

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