Aktenzeichen 7 ZB 19.32227
RL 2004/83/EG Art. 2 lit. c, Art. 10 Abs. 1 lit. d
Leitsatz
1. Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist geklärt, dass jede sexuelle Identität einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen darstellt und er nicht gezwungen werden kann, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Identität zu negieren, um einer Verfolgung im Heimatland zu entgehen (EuGH BeckRS 2013, 82115). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für Bisexuelle gilt kein anderer Maßstab bei der Auslegung von Art. 10 Abs. 1 lit. d Qualifikations-RL iVm Art. 2 lit. c Qualifikations-RL als derjenige, dass es unbeachtlich ist, dass ein Mensch die Gefahr von Verfolgung dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bisexuelle Personen sind als soziale Gruppe iSd § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen, wenn in ihrem Herkunftsland homosexuelle Handlungen strafbar sind. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 9 K 17.39188 2019-03-08 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist schon nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt und liegt im Übrigen auch nicht vor.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung i.S.v. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG erfordert, dass eine Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich, bislang höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht geklärt und über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus bedeutsam ist; die Frage muss ferner im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts einer berufungsgerichtlichen Klärung zugänglich sein und dieser Klärung auch bedürfen (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 22.1.2019 – 5 B 1.19 D – juris Rn. 2 m.w.N.; B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – BayVBl 2016, 104 Rn. 6 m.w.N.; BayVGH, B.v. 4.6.2018 – 14 ZB 17.390 – juris Rn. 14 m.w.N.). Um den auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer innerhalb der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG (1.) eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, (2.) ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, (3.) erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und (4.) darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2017 – 14 ZB 16.1867 – juris Rn. 15 m.w.N.).
Der Kläger hält die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich folgender Fragen,
„a) Wenn homosexuelle Menschen in einem Herkunftsland eine soziale Gruppe gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, darf eine bisexuelle Person darauf verwiesen werden, auf einen Teilaspekt ihrer sexuellen Identität, ihre homosexuelle Veranlagung, zu verzichten oder in der Öffentlichkeit zu verbergen, um Verfolgung zu entgehen, da sie keine ‚ausschließliche Prägung durch Homosexualität‘ habe?
b) Bedeutet insofern ein zurückhaltendes Ausleben der eigenen sexuellen Identität bei bisexuellen Personen, dass sie nur den heterosexuell geprägten Teilaspekt ihrer Sexualität öffentlich ausleben, und gilt somit für Bisexuelle ein anderer Maßstab bei der Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d i.V.m. Art. 2 Buchst. c der Qualifikationsrichtlinie als derjenige, dass es unbeachtlich sei, dass ein Mensch die Gefahr von Verfolgung ‚dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person‘ (EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – juris Leitsatz Nr. 3)?
c) Sind bisexuelle Personen als soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen, wenn in ihrem Herkunftsland homosexuelle Handlungen strafbar und Freiheitstrafen tatsächlich verhängt werden und/oder bei Entdeckung homosexueller Handlungen Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure droht, vor denen der Staat keinen Schutz bietet?“
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, es sei zu klären, ob bei der Frage der Verfolgung von bisexuellen Personen andere rechtliche Kriterien als bei homosexuellen Personen zugrunde zu legen seien, die festlegten, inwieweit eine Person auf den Verzicht oder zumindest das Verbergen der eigenen Sexualität verwiesen werden könne. Auch das Verwaltungsgericht gehe im angefochtenen Urteil unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs davon aus, dass Homosexuelle in Nigeria eine soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3 d Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellten und unterstelle zudem als wahr, dass der bisexuelle Kläger auch homosexuell sei. Dennoch sehe es keine relevante Verfolgungsgefahr für den Kläger, da dieser aufgrund seiner Bisexualität sein homosexuelles Begehren verbergen könne. Das Verwaltungsgericht sei der Auffassung, dass der Kläger keine ausschließliche Prägung durch die Homosexualität habe und diese unschwer in der Öffentlichkeit verbergen könne, da er Vater einer kleinen Tochter sei. Es sei für das Gericht auch nicht ersichtlich, dass es dem Kläger abgesehen von der Eheschließung im Bundesgebiet wichtig sei, mit seinem Mann zusammen zu wohnen und homosexuelle Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die Rechtsfrage, ob ein anderer Maßstab an die Zumutbarkeit des Verzichts bzw. an die zu fordernde Zurückhaltung anzulegen sei, wenn die sexuelle Ausrichtung einer Person nicht ausschließlich an Verhaltensweisen knüpfe, die die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe statuierten, benötige eine Auslegung europäischen Rechts, sei bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortet und von allgemeiner Bedeutung. Die tatsächliche Gefahr von Verfolgung werde durch das Gericht lediglich dadurch verneint, dass es aufgrund der Bisexualität des Klägers davon ausgehe, dass von ihm ein Verbergen der Homosexualität in der Öffentlichkeit gefordert werden könne. Auch die Bejahung einer inländischen Schutzalternative gemäß § 3e AsylG vor einer etwaigen Bedrohung in der Heimatregion des Klägers durch die Bürgerwehr basiere im Wesentlichen darauf, dass der Kläger an einem anderen Ort als seinem Heimatort seine Homosexualität sowie seine Ehe zu einem Mann verschweigen und damit einer Verfolgung wegen homosexueller Handlungen entgehen könne. Käme das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass bei bisexuellen Personen der gleiche rechtliche Maßstab wie bei homosexuellen Personen anzulegen sei und auch von diesen – auch nicht teilweise – ein Verzicht oder jedenfalls ein Verbergen der eigenen Sexualität gefordert werden könne, wäre sowohl die Verfolgungsgefahr für den Kläger als auch das Bestehen einer inländischen Schutzalternative anders zu entscheiden, was die Ablehnung der Klage nicht mehr tragen würde.
1. Die unter a) aufgeworfene Frage ist nicht klärungsbedürftig, da sich ihre Beantwortung ohne weiteres aus dem Gesetz in Verbindung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergibt. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet. In Bezug auf die erste dieser Voraussetzungen steht für den Europäischen Gerichtshof fest, dass die sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Diese Auslegung werde durch Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/83 bestätigt, wonach je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten könne, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründe (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C 199/12 u.a. – juris Rn. 46). In diesem Zusammenhang hat der Europäische Gerichtshof auch geklärt, dass kein Verzicht auf die sexuelle Ausrichtung gefordert werden kann. Bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft könnten die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten, dass er Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übe, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden. Dass er die Gefahr einer Verfolgung dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übe als eine heterosexuelle Person, sei insoweit unbeachtlich (EuGH, a.a.O. Leitsatz 3 Rn. 76). Auch wenn die einschlägige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Homosexualität und nicht zur Bisexualität eines Asylbewerbers ergangen ist, fehlt es vorliegend dennoch an der Klärungsbedüftigkeit der aufgeworfenen Frage, da eine Klärung auch dann entbehrlich ist, wenn die Frage zwar nicht ausdrücklich entschieden ist, bereits ergangene Entscheidungen aber ausreichende Anhaltspunkte zur Beurteilung der Frage geben (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 38). Dies ist hier der Fall. Aus der Urteilsbegründung ergibt sich, dass ein Verzicht auf das Ausleben einer homosexuellen Veranlagung, auch wenn diese nur einen Teilaspekt der sexuellen Identität darstellen sollte, nicht verlangt werden kann. Ebenso wie das Gesetz geht auch der Europäische Gerichtshof ganz allgemein von der sexuellen Orientierung einer Person aus, wenn er von „sexueller Ausrichtung“ spricht (vgl. z.B Leitsatz 1 der zitierten Entscheidung) und differenziert somit nicht zwischen den verschiedenen sexuellen Identitäten. Vielmehr ist aus den Ausführungen des Gerichtshofs die Schlussfolgerung zu ziehen, dass jede sexuelle Identität einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines Menschen darstellt und er nicht gezwungen werden kann, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Identität zu negieren, um einer Verfolgung im Heimatland zu entgehen.
2. Für die unter b) aufgeworfene Frage gilt ebenso, dass diese bereits durch das Gesetz in Verbindung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt ist. Aus den vorgenannten Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zur Homosexualität ergibt sich, dass kein anderer Maßstab bei Vorliegen einer bisexuellen Orientierung gelten kann (siehe 1.).
3. Auch die unter c) aufgeworfene Frage ist nicht klärungsbedürftig. Die Aussage des Europäischen Gerichtshofs, dass das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung erlauben würde, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen seien (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 49) und damit die zweite Voraussetzung für das Vorliegen einer sozialen Gruppe erfüllt sei, lässt den Schluss zu, dass auch bisexuelle Personen als soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 i.V.m.§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind, wenn in ihrem Herkunftsland homosexuelle Handlungen strafbar sind. Auch diese Personen werden insoweit von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet. Geklärt ist die Frage des Klägers auch insoweit, als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nicht an den Umstand anknüpft, ob Freiheitsstrafen tatsächlich verhängt werden. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vielmehr bei der für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zudem zu klärenden Frage zu prüfen, ob eine asylrelevante Verfolgungshandlung gegeben ist. Danach kann nur die Freiheitsstrafe, mit der eine Rechtsvorschrift bewehrt ist, für sich alleine eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 darstellen, sofern sie im Herkunftsland auch tatsächlich verhängt wird. Allein das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, kann nicht als Maßnahme betrachtet werden, die den Betroffenen in so erheblicher Weise beeinträchtigt, dass der Grad der Schwere erreicht ist, der erforderlich ist, um diese Strafbarkeit als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 ansehen zu können (EuGH, a.a.O. Rn. 55f.).
Hinsichtlich seiner (Teil) Frage, ob bisexuelle Personen als soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen sind, wenn (^.) bei Entdeckung homosexueller Handlungen Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure drohen, vor denen der Staat keine Schutz bietet, hat der Kläger die Klärungsbedürftigkeit nicht dargelegt. Denn auch diese (Teil) Frage lässt sich ohne weiteres aus dem Gesetz und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beantworten (siehe oben). Ungeachtet dessen hat das Gericht den Vortrag des Klägers zur behaupteten Vorverfolgung, dass er zwischen Ende September 2013 und Anfang Januar 2014 in seinem Heimatland von der Bürgerwehr seines Heimatortes wegen seiner Homosexualität verfolgt worden sei, als unglaubhaft gewertet (vgl. UA S. 8). Durch Bezugnahme auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, in dem ausgeführt wird, dass der Kläger eine zwischenzeitliche Ein- und Ausreise nicht plausibel vortragen und auch nicht mit entsprechenden Dokumenten glaubhaft belegen konnte, ist zudem davon auszugehen, dass auch für das Gericht keine glaubhaften Indizien für eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Nigeria erkennbar sind. Hiergegen wendet sich die Zulassungsbegründung nicht und zeigt diesbezüglich keine Zulassungsgründe auf. Ist die angegriffene Entscheidung jedoch – wie hier hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, setzt die Zulassung der Berufung voraus, dass für jeden dieser Gründe die Zulassungsvoraussetzungen dargelegt werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 124a Rn. 7).
In der Sache kritisiert der Kläger mit seinen Ausführungen letztlich die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung. Mangels eines dem § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entsprechenden Zulassungsgrundes der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ im Asylprozess kann ein entsprechendes Vorbringen nicht zu einer Berufungszulassung führen.
Kosten: § 154 Abs. 2 VwGO.