Aktenzeichen RN 12 K 16.32258
Leitsatz
1 In Afghanistan besteht landesweit ein bewaffneter Konflikt. Der Grad willkürlicher Gewalt erreicht in der Zentralregion, wozu auch Kabul gehört, jedoch kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr durch ihre bloße Anwesenheit in diesem Gebiet einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sein. (redaktioneller Leitsatz)
2 Für alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige ist im Hinblick auf die Sicherheits- und Versorgungslage in der Regel kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Er hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Gewährung subsidiären Schutzes oder Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse, weshalb auch die ergangene Abschiebungsandrohung rechtmäßig ist.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG.
a) Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat, den Staat beherrschende Organisationen oder internationale Organisationen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
b) Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat der Kläger nicht substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich seine Verfolgungsfurcht ergibt, in schlüssiger Form und von sich aus bei seinen Anhörungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung darzulegen. Die vom Kläger vorgetragene Schilderung ist jedoch weder widerspruchsfrei noch vollständig nachvollziehbar. So ist zunächst schon wenig glaubhaft, dass der Kläger erklärt, weder er noch sein Vater hätten gewusst, welche Güter sie in den Containern transportiert hätten. Auch die angebliche Bedrohung durch die Taliban schildert der Kläger nicht widerspruchsfrei. So hat der Kläger beim Bundesamt erklärt, die Taliban hätten sie fünfmal bedroht, nämlich dreimal im August und zweimal im September. Diese Drohungen hätten durch Anrufe, Drohbriefe und persönliche Besuche stattgefunden. Wenig später hat der Kläger beim Bundesamt erklärt, die Taliban hätten fünf oder sechsmal angerufen, auf Nachfrage korrigierte er diese Zahl auf dreimal. Demgegenüber erklärte er in der mündlichen Verhandlung erneut, die Taliban hätten sechsmal angerufen, nämlich dreimal ihn selbst und dreimal seinen Vater. Da der Kläger nach eigenen Angaben lediglich in den Schulferien seinen Vater begleitet haben will, erscheint zudem unwahrscheinlich, warum die Taliban nicht nur seinen Vater, sondern auch ihn hätten bedrohen und zum Tode verurteilen sollen.
Ein anderes Bild ergibt sich auch nicht aus den nachträglich vorgelegten Drohbriefen bzw. dem Lichtbild von der angeblichen Ermordung seines Onkels. So ist wenig glaubhaft, wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, seine Mutter habe ihm erst von der Ermordung seines Onkels berichtet, als sein Asylantrag abgelehnt worden sei und er wisse nicht, wann die Ermordung stattgefunden haben solle, er aber andererseits ein Foto von seinem angeblich ermordeten Onkel vorlegt. Bei dieser Sachlage wäre anzunehmen gewesen, dass der Kläger nachgefragt hätte, wann und unter welchen Umständen sich diese Ermordung ereignet hätte.
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus den vom Kläger vorgelegten Drohbriefen. Da die Echtheit eines solchen Dokuments durch das Gericht nicht überprüfbar ist, kommt diesen jedenfalls kein so erheblicher Beweiswert zu, dass er die oben genannten Zweifel zerstreuen könnte.
2. Dem Kläger steht auch kein subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung), oder § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf Afghanistan, wohin ihm die Abschiebung angedroht wurde, zu.
Insoweit bedarf vorliegend lediglich die Schutzregelung nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG der Erörterung. Danach steht einem Ausländer subsidiärer Schutz zu, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Die geforderte „individuelle“ Bedrohung muss dabei nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückzuführen sein. Der betreffende subsidiäre Schutzanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07).
Davon ist nach den vorliegenden Erkenntnissen jedoch nicht auszugehen. Zwar besteht nach wie vor in Afghanistan landesweit ein bewaffneter Konflikt zwischen den von den internationalen Kräften unterstützten Regierungseinheiten und den pauschal als Taliban bezeichneten Oppositionskräften. Im ersten Halbjahr 2016 sind bereits 1.601 Todesopfer und 3.565 Verletzte zu beklagen (UNAMA Midyear Report 2016, Juli 2016, S. 1). Daraus allein kann jedoch weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL geschlossen werden. Eine solche lässt sich auch für Kabul, woher der Kläger stammt, nicht feststellen. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht nach einer eingehenden Auswertung der Auskunftslage davon aus, dass afghanische Staatsangehörige bei einer Rückkehr in die Zentralregion, wozu auch Kabul gehört, im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind (vgl. insb. BayVGH, U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris; BayVGH, B. v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris). Dass nicht gleichsam jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt im Übrigen bereits daraus, dass die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 für ganz Afghanistan mit knapp 30 Millionen Einwohnern von UNAMA (a.a.O.) mit 1.601 Toten und 3.565 Verletzten angegeben wird. Die abstrakte Gefahr, angesichts der fragilen Sicherheitslage in Afghanistan Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, reicht für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht aus.
3. Auch die Voraussetzungen für die außerdem hilfsweise begehrte Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG (menschenrechtswidrige Behandlung) bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht erfüllt.
Die Not- und Gefahrenlage in Afghanistan, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, ist nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, d.h. im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden und nicht durch Einzelfallentscheidungen des Bundesamts. Fehlt es – wie hier – an einem solchen Abschiebestopp-Erlass oder einem sonstigen vergleichbar wirksamen Abschiebungshindernis, ist die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung ausnahmsweise dann unbeachtlich, wenn dem Ausländer auf Grund der allgemeinen Verhältnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung mit der Formulierung umschrieben, eine Abschiebung müsse ungeachtet der Erlasslage dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris m.w.N.). Eine extreme Gefahrenlage in diesem Sinn ist indes auch dann anzunehmen, wenn dem Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage in seiner Heimat landesweit der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde.
Ob die Annahme einer extremen Gefahrenlage im Wege der verfassungskonformen Auslegung nunmehr ausscheidet, weil das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 31.1.2013 (Az. 10 C 15/12) davon ausgeht, dass in begründeten Ausnahmefällen schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat (auch) ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen können, kann letztlich dahinstehen, da die anzuwendenden Gefahrenmaßstäbe im Wesentlichen gleich sind.
Von einer derartigen extremen Gefahrenlage bzw. von einem begründeten Ausnahmefall im gerade dargelegten Sinne ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Trotz der sich aus den verwerteten, den Beteiligten mitgeteilten Erkenntnisquellen ergebenden desolaten Sicherheits- und Versorgungslage kann gleichwohl nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer in Afghanistan alsbald in existenzielle Gefahr gerät.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist vielmehr für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige – wie den Kläger – auch angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. nur BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309). In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist außerdem geklärt, dass derzeit für alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige in der Regel auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309; BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 14.30063).
Besondere Umstände des Einzelfalls, die eine hiervon abweichende Betrachtung fordern würden, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Als alleinstehendem männlichen arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen islamischer Religion, der die Landessprache beherrscht, wäre dem Kläger nach der oben genannten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zuzumuten, in Kabul selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Da der Kläger nach eigenem Vorbringen elf Jahre die Schule besucht hat, ist davon auszugehen, dass er allein schon wegen seiner über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegenden Qualifikation in der Lage wäre, in Afghanistan auch bei schwieriger Arbeitsmarktlage Arbeit zu finden.
4. Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung beruhen als gesetzliche Folge der Nichtanerkennung als Asylberechtigter, der Nichtzuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des fehlenden Aufenthaltstitels auf §§ 34 Abs. 1, 38 AsylG.
5. Schließlich ist auch die gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gebotene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (unter 6.) gefolgt.
Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst. Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.