Verwaltungsrecht

Erfolgloser Asylantrag eines Afghanen

Aktenzeichen  RO 12 K 16.32240

Datum:
10.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 2, § 60 Abs. 1, Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3
VwGO VwGO § 113 Abs. 5

 

Leitsatz

1 In Afghanistan besteht landesweit ein bewaffneter Konflikt. Der Grad willkürlicher Gewalt erreicht in der Zentralregion, wozu auch Kabul gehört, jedoch kein so hohes Niveau, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr durch ihre bloße Anwesenheit in diesem Gebiet einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sein. (redaktioneller Leitsatz)
2 Für alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige ist im Hinblick auf die Sicherheits- und Versorgungslage in der Regel kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Er hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Gewährung subsidiären Schutzes oder Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse, weshalb auch die ergangene Abschiebungsandrohung rechtmäßig ist.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG.
a) Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung in diesem Sinne kann nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat, den Staat beherrschende Organisationen oder internationale Organisationen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
b) Ein individuelles Verfolgungsschicksal hat der Kläger nicht substantiiert und glaubhaft geltend gemacht. Es ist jedoch Sache des Schutzsuchenden, die Umstände, aus denen sich seine Verfolgungsfurcht ergibt, in schlüssiger Form und von sich aus bei seinen Anhörungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung darzulegen. Dabei geht das Gericht trotz gewisser Restzweifel zugunsten des Klägers davon aus, dass die vom Kläger geschilderte Ermordung seines Vaters durch die Taliban der Wahrheit entspricht. Auch wenn der Kläger geltend macht, dass er den Umgang mit genauen Zahlen und Daten erst in Deutschland kennengelernt hat, bleibt in diesem Zusammenhang allerdings auffällig, dass sich der Kläger bei einem so einschneidenden Ereignis wie der Ermordung des Vaters vor den eigenen Augen nicht mehr an die Jahreszeit erinnern kann. Auch wenn man diesen Vortrag als wahr unterstellt, resultiert jedoch hieraus keine Bedrohung des Klägers selbst, da der Vater nach dem Vortrag des Klägers wegen seiner Tätigkeit für die Regierung ermordet wurde und der Kläger in den folgenden fünf Jahren offensichtlich unbehelligt teils in Pakistan und teils in Afghanistan leben und arbeiten konnte.
Eine Bedrohung des Klägers ergibt sich auch nicht aus dem Drohbrief, den der Kläger selbst erhalten haben will. Zum einen erscheint angesichts der Ermordung des eigenen Vaters wenig glaubwürdig, dass der Kläger selbst im Freundeskreis erzählt haben will, auch er wolle nun für die Regierung arbeiten. Selbst wenn man auch diesen Vortrag als wahr unterstellen würde, führt er jedoch nicht zu einer Bedrohung des Klägers durch die Taliban. Denn der Kläger trägt selbst vor, dass im Schreiben die Warnung ausgesprochen worden sei, er werde getötet, wenn er für die Regierung arbeiten würde. Dies hat er jedoch gerade nicht getan, so dass nicht ersichtlich ist, weshalb die Taliban gegen den Kläger selbst etwas unternehmen sollten. Eine asylrelevante Verfolgungshandlung hat der Kläger somit nicht substantiiert geltend gemacht.
2. Dem Kläger steht auch kein subsidiärer Schutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 1 AsylG (Todesstrafe), § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 2 AsylG (Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung), oder § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) in Bezug auf Afghanistan, wohin ihm die Abschiebung angedroht wurde, zu.
Insoweit bedarf vorliegend lediglich die Schutzregelung nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1, 2 Nr. 3 AsylG der Erörterung. Danach steht einem Ausländer subsidiärer Schutz zu, wenn er in seinem Herkunftsland als Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Die geforderte „individuelle“ Bedrohung muss dabei nicht notwendig auf die spezifische persönliche Situation des schutzsuchenden Ausländers zurückzuführen sein. Der betreffende subsidiäre Schutzanspruch besteht vielmehr auch dann, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson würde bei Rückkehr in das betreffende Land oder die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit in diesem Gebiet Gefahr laufen, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 17.2.2009 – C-465/07).
Davon ist nach den vorliegenden Erkenntnissen jedoch nicht auszugehen. Zwar besteht nach wie vor in Afghanistan landesweit ein bewaffneter Konflikt zwischen den von den internationalen Kräften unterstützten Regierungseinheiten und den pauschal als Taliban bezeichneten Oppositionskräften. Im ersten Halbjahr 2016 sind bereits 1.601 Todesopfer und 3.565 Verletzte zu beklagen (UNAMA Midyear Report 2016, Juli 2016, S. 1). Daraus allein kann jedoch weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG i.V.m. Art. 15 Buchst. c QRL geschlossen werden. Eine solche lässt sich auch für Kabul, woher der Kläger stammt, nicht feststellen. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht nach einer eingehenden Auswertung der Auskunftslage davon aus, dass afghanische Staatsangehörige bei einer Rückkehr in die Zentralregion, wozu auch Kabul gehört, im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind (vgl. insb. BayVGH, U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris; BayVGH, B. v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris). Dass nicht gleichsam jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, folgt im Übrigen bereits daraus, dass die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 für ganz Afghanistan mit knapp 30 Millionen Einwohnern von UNAMA (a.a.O.) mit 1.601 Toten und 3.565 Verletzten angegeben wird. Die abstrakte Gefahr, angesichts der fragilen Sicherheitslage in Afghanistan Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen zu werden, reicht für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht aus.
3. Auch die Voraussetzungen für die außerdem hilfsweise begehrte Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG (menschenrechtswidrige Behandlung) bzw. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht erfüllt.
Die Not- und Gefahrenlage in Afghanistan, der die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, ist nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG grundsätzlich bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, d.h. im Wege einer generellen politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörden und nicht durch Einzelfallentscheidungen des Bundesamts. Fehlt es – wie hier – an einem solchen Abschiebestopp-Erlass oder einem sonstigen vergleichbar wirksamen Abschiebungshindernis, ist die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung ausnahmsweise dann unbeachtlich, wenn dem Ausländer auf Grund der allgemeinen Verhältnisse mit hoher Wahrscheinlichkeit extreme Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung mit der Formulierung umschrieben, eine Abschiebung müsse ungeachtet der Erlasslage dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris m.w.N.). Eine extreme Gefahrenlage in diesem Sinn ist indes auch dann anzunehmen, wenn dem Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage in seiner Heimat landesweit der alsbaldige sichere Hungertod drohen würde.
Ob die Annahme einer extremen Gefahrenlage im Wege der verfassungskonformen Auslegung nunmehr ausscheidet, weil das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 31.1.2013 (Az. 10 C 15/12) davon ausgeht, dass in begründeten Ausnahmefällen schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat (auch) ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen können, kann letztlich dahinstehen, da die anzuwendenden Gefahrenmaßstäbe im Wesentlichen gleich sind.
Von einer derartigen extremen Gefahrenlage bzw. von einem begründeten Ausnahmefall im gerade dargelegten Sinne ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Trotz der sich aus den verwerteten, den Beteiligten mitgeteilten Erkenntnisquellen ergebenden desolaten Sicherheits- und Versorgungslage kann gleichwohl nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer in Afghanistan alsbald in existenzielle Gefahr gerät.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist vielmehr für alleinstehende männliche arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige – wie den Kläger – auch angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. nur BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309). In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist außerdem geklärt, dass derzeit für alleinstehende männliche afghanische Staatsangehörige in der Regel auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309; BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 14.30063).
Besondere Umstände des Einzelfalls, die eine hiervon abweichende Betrachtung fordern würden, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Vielmehr leben nach dem eigenen Vorbringen des Klägers seine Mutter und sein jüngerer Bruder nicht mehr im ursprünglichen Heimatort A* …, sondern beim Onkel des Klägers in Khost, so dass dieser in Afghanistan eine Anlaufstelle hätte. Außerdem wäre ihm als alleinstehenden männlichen arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen islamischer Religion, der die Landessprache beherrscht, nach der oben genannten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zuzumuten, in Kabul selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Da der Kläger nicht nur die Schule besucht, sondern auch nach eigenem Vorbringen bereits vier Jahre in einem Hotel als Kellner und Spüler gearbeitet hat, ist auch nicht davon auszugehen, dass es für ihn aussichtslos wäre, in Kabul Arbeit zu finden.
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus der vom Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung geltenden gemachten psychischen Belastung. Das diesbezüglich vorgelegte Attest des …klinikums … vom 20.12.2016 stellt lediglich fest, dass der Kläger psychisch sehr belastet ist und dass die Notwendigkeit einer stationären Behandlung nicht auszuschließen ist. Es enthält somit weder eine Diagnose noch irgendwelche Angaben über die bisherige bzw. künftig erforderliche Therapie. Dass ein solches Attest nicht den für den Fall einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgestellten Anforderungen an ärztliche Atteste (BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris) genügt, bedarf keiner vertieften Auseinandersetzung.
4. Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung beruhen als gesetzliche Folge der Nichtanerkennung als Asylberechtigter, der Nichtzuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. des fehlenden Aufenthaltstitels auf §§ 34 Abs. 1, 38 AsylG.
5. Schließlich ist auch die gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG gebotene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 77 Abs. 2 AsylG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen und der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (unter 6.) gefolgt.
Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG; deshalb ist auch die Festsetzung eines Streitwerts nicht veranlasst. Die Entscheidung im Kostenpunkt war gemäß § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.

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