Aktenzeichen M 11 S 17.40630
Leitsatz
1. Die Anhörung gem. § 29 Abs. 2 AsylG bezieht sich in erster Linie auf die Unzulässigkeitsentscheidung als solche, umfasst aber auch die Umstände bzw. den Stand des Asylverfahrens in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine fehlende Anhörung kann jedenfalls dann Auswirkungen auf die getroffene Verfahrensentscheidung gehabt haben, wenn in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, systemische Mängel nicht ausgeschlossen sind und eine einzelfallbezogene Prüfung im Hinblick auf Sonderfälle, die vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasst sind, veranlasst ist. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 des Bescheids vom 8. Mai 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben von Bulgarien kommen am 26. April 2014 nach Deutschland ein und stellte am 8. Mai 2014 einen Asylantrag.
Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens am 8. Mai 2014 vor dem Bundesamt gab er zur Frage, ob er in einem anderen Staat Asyl beantragt oder zuerkannt bekommen habe, an, er habe 2014 in Bulgarien Asyl zuerkannt bekommen und in Sofia gelebt. Er legte eine bis 18. November 2018 gültige Card of Refugee sowie einen bis dahin gültigen Reisepass Bulgariens vor.
Die Anhörung des Antragstellers zu seinem Asylantrag nach § 25 AsylG erfolgte am 16. Juni 2016.
Das Bundesamt stellte am 21. Juli 2016 und am 2. Februar 2017 Informationsersuchen an Bulgarien zum Status des Antragstellers, die unbeantwortet blieben.
Mit Vermerk vom 2. Februar 2017 stellte das Bundesamt fest, dass die Frist für ein Wiederaufnahmeersuchen abgelaufen und die Zuständigkeit auf Deutschland übergegangen sei.
Mit Bescheid vom 8. Mai 2017 (zugestellt am 10.5.2017) lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls wurde die Abschiebung nach Bulgarien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat mit Ausnahme von Somalia angedroht (Ziff. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei wegen der Schutzgewährung in Bulgarien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union seien sichere Herkunftsstaaten. Der Antragsteller habe nichts glaubhaft vorgetragen oder vorgelegt, dass ihm in Bulgarien Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch einen Akteur drohe. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Bulgarien würden kein Abschiebungsverbot begründen. Der Antragsteller habe keine individuellen Umstände vorgetragen, die einen im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfall darstellen würden.
Der Antragsteller hat am 17. Mai 2017 durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben (M 11 K 17.40507) und beantragen lassen, den Bescheid vom 8. Mai 2017 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts auf weniger als 30 Monate zu bemessen.
Zugleich wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziff. 3 des Bescheids vom 8. Mai 2017 anzuordnen.
Dem Antragsteller sei in Bulgarien keine Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus genüge nach Maßgabe der für Anträge auf internationalen Schutz bis 20. Juli 2015 anwendbaren Richtlinie 2013/32/EU für die Behandlung des Asylantrags als unzulässig nicht.
Das Bundesamt hat die Akten vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem und im Klageverfahren und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gerichtete Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der nach § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, und auch begründet.
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach– und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.).
Entsprechend diesem Maßstab ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen.
Der angefochtene Bescheid begegnet ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit bereits in formeller Hinsicht.
Nach § 29 Abs. 2 AsylG hört das Bundesamt den Ausländer zu den Gründen nach Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe b bis Nummer 4 persönlich an, bevor es über die Zulässigkeit eines Asylantrags entscheidet. § 29 Abs. 2 AsylG war im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung in Kraft und als Verfahrensvorschrift nach den allgemeinen Grundsätzen zum intertemporalen Verfahrensrecht (vgl. § 96 Abs. 1 VwVfG) unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung zu beachten.
Die Anhörung bezieht sich in erster Linie auf die Unzulässigkeitsentscheidung – hier gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – als solche, umfasst aber auch die Umstände bzw. den Stand des Asylverfahrens in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat. Denn die Umstände und der Stand des Asylverfahrens können jedenfalls in Mitgliedstaaten, in denen systemische Mängel des Asylverfahrens nicht von vornherein ausgeschlossen werden können, für die zu treffende Verfahrensentscheidung von Bedeutung sein (vgl. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG an den EuGH v. 23.3.2017 – 1 C-17/16 – Fragen 3. und Rn. 28 ff.). Zudem bezieht sich die Anhörung nach Sinn und Zweck auch auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich desjenigen Mitgliedsstaates, der internationalen Schutz gewährt hat. Das folgt aus der unmittelbaren Verknüpfung der Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags mit der Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG und der Verpflichtung des § 31 Abs. 3 AsylG zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (VG Würzburg, U.v. 13.10.2016 – W 2 K 15.30145 – juris Rn. 41).
Eine entsprechende Anhörung des Antragstellers erfolgte nicht und wird insbesondere auch nicht durch das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zur Durchführung des Asylverfahrens oder die Anhörung nach § 25 AsylG am 16. Juni 2016 ersetzt. Detaillierte Fragen zum Stand des Asylverfahrens in Bulgarien und zum Aufenthaltsstatus des Antragstellers fehlten ebenso wie konkrete Fragen, die einer Abschiebung nach Bulgarien entgegengehalten werden könnten.
Der Verfahrensfehler ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
Eine fehlende Anhörung kann jedenfalls dann Auswirkungen auf die getroffene Verfahrensentscheidung gehabt haben, wenn in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, systemische Mängel nicht ausgeschlossen sind und eine einzelfallbezogene Prüfung im Hinblick auf Sonderfälle, die vom Konzept der normativen Vergewisserung nicht erfasst sind, veranlasst ist. Systemische Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien können nach Maßgabe der – uneinheitlichen – Rechtsprechung bei Personen, die in Bulgarien bereits einen Asylantrag gestellt haben, nicht ausgeschlossen werden (systemische Mängel für „Dublin-Rückkehrer“ bejahend z.B. VG Göttingen, U.v. 14.3.2017 – 2 A 141/16 – juris; VG Münster, U.v. 23.12.2016 – 8 L 1390/16.A – juris; VG Minden, U.v. 21.9.2016 – 3 K 2346/15.A – juris; offen lassend OVG NW, U.v. 19.5.2017 – 11 A 52/17.A – juris Rn. 45 ff. mit umfassenden Nachweisen; die Möglichkeit systemischer Mängel des Asylverfahrens in Bulgarien für subsidiär Schutzberechtigte im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit voraussetzend auch das Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG vom 23.3.2017 a.a.O.). Nachdem der Antragsteller in Bulgarien bereits einen Asylantrag gestellt und einen Schutzstatus zuerkannt bekommen hat, der genaue Schutzstatus aber seitens des Bundesamtes nicht festgestellt wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Anhörung des Antragstellers entscheidungserhebliche Kenntnisse geliefert hätte.
Darüber hinaus begegnet der Bescheid auch materiell ernsthaften Zweifeln.
Die Voraussetzungen für die Unzulässigkeit des Asylantrags nach Maßgabe von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG müssen feststehen, bloße Mutmaßungen genügen nicht. Ist dem Bundesamt der aktuelle Stand des Verfahrens in dem anderen Mitgliedstaat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere im Rahmen der nach Maßgabe von Art. 34 VO 604/2013 (Dublin-III-VO) für den Informationsaustausch vorgesehenen Info–Request (vgl. BayVGH, U.v. 20.10.2016 – 20 B 14.30320 – juris Rn. 41).
Nach Maßgabe der Einlassung des Antragstellers im Asyl- und im Gerichtsverfahren sowie mit Blick auf die vorgelegten Ausweise kann zwar davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller einen Schutzstatus in Bulgarien erhalten hat. Es steht jedoch nicht fest – auch nicht aufgrund der vorgelegten Card of Refugee -, dass der Antragsteller in Bulgarien die Zuerkennung als Flüchtling erhalten hat. Dies wurde vom Bevollmächtigten im Gerichtsverfahren auch ausdrücklich bestritten.
Auch das Bundesamt ist davon ausgegangen, dass eine Abklärung des Schutzstatus notwendig ist (vgl. Vermerk vom 25.1.2017, Asylakte Bl. 114) und hat im Hinblick auf die fehlende Antwort der Info-Request vom 21. Juli 2016 eine weitere Anfrage an Bulgarien gestellt. Die fehlende Beantwortung auch der zweiten Anfrage ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen für eine Beurteilung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG damit weiterhin nicht vorliegen.
Der Schutzstatus des Antragstellers kann voraussichtlich auch nicht offengelassen werden bzw. im Sinne einer Worst-Case-Betrachtung die Zuerkennung von subsidiärem Schutz unterstellt werden.
Es ist bereits zweifelhaft, ob die Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG mit der Rechtsfolge der Unzulässigkeit eines Asylantrags eines in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten subsidiär Schutzberechtigten auch auf einen Antrag anwendbar ist, der vor dem Inkrafttreten der Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (August 2016) und vor der Stichtagsregelung nach Art. 52 Abs. 1 RL 2013/32/EU (20.7.2015) gestellt worden ist (vgl. Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG vom 23.3.2017 a.a.O. – juris Frage 1. und Rn. 20 ff.).
Im Übrigen stellt die Möglichkeit einer Info-Request den im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems gesetzlich vorgesehenen Weg für das Bundesamt dar, die Voraussetzungen für eine Verfahrensentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu prüfen. Die Nutzung dieses Verfahrens trägt dazu bei, dass die Umsetzung der Regelungen des gemeinsamen europäischen Asylsystems auf der Grundlage einer tragfähigen Kenntnisgrundlage erfolgt. Eine Entscheidung auf unsicherer Kenntnislage im Sinne einer Worst-Case-Betrachtung kann daher allenfalls in Ausnahmefällen in Betracht kommen, wenn systemische Mängel in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, ohne weitere Prüfung ausgeschlossen werden können. Diese Voraussetzungen liegen für Bulgarien jedenfalls bei Personen, die dort subsidiären Schutz erhalten haben, nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).