Verwaltungsrecht

Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts bei wegen Drogendelikten inhaftiertem italienischem Staatsangehörigen

Aktenzeichen  10 C 19.1919

Datum:
30.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27510
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 4a, § 6, § 7, § 11 Abs. 2
RL 2004/38/EU Art. 16 Abs. 1
AufenthG § 58 Abs. 1, Abs. 3, § 59 Abs. 5
StGB § 64

 

Leitsatz

1. Die Erfolgsaussichten einer Klage bestimmen sich im Prozesskostenhilfeverfahren nach dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife, d.h. nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie der Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (VGH München BeckRS 2019, 3417). (Rn. 4) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (VGH München BeckRS 2019, 3421). (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Zeiträume, in denen ein Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, können nicht für den Zweck des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung des Daueraufenthaltsrechts von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration beruht, und die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung durch ein nationales Gericht dazu angetan ist, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, sodass die Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für den Zweck des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts dem mit dessen Einführung verfolgten Ziel eindeutig zuwider laufen würde (EuGH BeckRS 2014, 80038 – Onuekwere). (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

Au 1 K 19.614 2019-09-10 VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der am 9. September 1982 geborene Kläger italienischer Staatsangehörigkeit seinen in erster Instanz erfolglos gebliebenen Antrag weiter, ihm für die Klage gegen die von der Beklagten ausgesprochene Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu gewähren.
Gegenstand der Klage ist der Bescheid der Beklagten vom 12. April 2019, mit dem der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festgestellt (Nr. 1), die Wirkungen der Verlustfeststellung auf vier Jahre ab der Ausreise befristet (Nr. 2) und die Abschiebung aus der Haft angeordnet wurde (Nr. 3). Im Falle der Entlassung aus der Haft vor einer Abschiebung wurde der Kläger zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland binnen einer Frist von einem Monat aufgefordert und ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Italien angedroht (Nr. 4). Der Kläger beantragte für die hiergegen erhobene Klage Prozesskostenhilfe, was das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 10. September 2019 mangels hinreichender Erfolgsaussichten ablehnte.
Die hiergegen am 19. September 2019 erhobene Beschwerde des Klägers ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu Recht abgelehnt, weil die Voraussetzungen dafür nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorlagen.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, hier nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 C 18.2522 – juris Rn. 17; B.v. 8.2.2019 – 10 C 18.1641 – juris Rn. 4 m.w.N.), hat die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die im angegriffenen Bescheid der Beklagten getroffene Verlustfeststellung des Rechts auf Freizügigkeit bei summarischer Prüfung rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.
Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU. Danach kann die zuständige Behörde den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit feststellen. Bei einer strafrechtlichen Verurteilung muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung sind die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange zu berücksichtigen.
a) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass beim Kläger prognostisch von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist, begegnet auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12; B.v. 6.6.2019 – 10 C 19.1081 – juris Rn. 7). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würden (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 4). Das Verwaltungsgericht hat insofern zu Recht darauf verwiesen, dass der Kläger trotz begonnener Therapiemaßnahmen seine Suchtproblematik noch nicht abschließend (erfolgreich) bearbeitet hat. Hinzu kommt, dass der Kläger als langjähriger Heroinkonsument abhängig von Betäubungsmitteln ist und bereits in der Vergangenheit mehrfach erfolglos Therapieversuche unternommen hat. Nach den Feststellungen des Landgerichts Hof im Urteil vom 9. Juni 2017 zur Anlasstat (gemeinschaftlicher unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 3 Monaten) sei ein Zusammenhang zwischen der Suchtmittelproblematik und den aktuell vorgeworfenen Straftaten offensichtlich. Die Wiederholungswahrscheinlichkeit für gleichgelagerte Straftaten sei ohne therapeutische Behandlung außerordentlich hoch. Ohne nachhaltige Therapie und insbesondere auch eine langfristige, intensive Nachbehandlung werde der Kläger mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit wieder Heroin konsumieren. Betäubungsmitteldelikte und Beschaffungskriminalität seien ebenfalls zu erwarten (siehe Bl. 567 f. d. Behördenakten). Selbst wenn nach der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren vom 5. November 2018 zugunsten des Klägers von einem insgesamt positiven Verlauf der derzeit zu absolvierenden Therapie auszugehen ist (siehe Bl. 595 f. d. Behördenakten), ist vorliegend in den Blick zu nehmen, dass sich diese Einschätzung auf die derzeitige Situation im Rahmen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bezieht und sich daraus keine belastbaren Aussagen darüber entnehmen lassen, wie sich der Kläger ohne die Protektivfaktoren einer stationären Unterbringung in der Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB verhalten wird (vgl. BayVGH, B.v. 30.8.2019 – 10 ZB 19.1564 – juris Rn. 5; B.v. 16.7.2019 – 10 ZB 19.1208 – juris Rn. 6). Demzufolge hat das Verwaltungsgericht auf Grundlage einer einzelfallorientierten Prognose ohne Rechtsfehler die nach wie vor bestehende Wiederholungsgefahr bejaht.
b) Zutreffend hat das Verwaltungsgericht im Rahmen der vorläufigen Prüfung ferner festgestellt, dass zugunsten des Klägers die Einschränkung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU mangels Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU nicht greift. Bei dieser Prüfung ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt (hat), nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden können, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat beruht, und die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung durch ein nationales Gericht dazu angetan ist, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, so dass die Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts dem mit der Einführung dieses Aufenthaltsrechts verfolgten Ziel eindeutig zuwider laufen würde (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2014 – Onuokwere, C-378/12 – juris Rn. 25 und 26; BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris Rn. 24). Dies zugrunde gelegt erfüllen die Aufenthaltszeiten des Klägers im Bundesgebiet nicht die Kriterien eines rechtmäßigen Aufenthalts i.S.v. Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU. Der Kläger reiste – nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Italien – zuletzt im April 2011 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er zunächst bis 30. April 2013 eine Restfreiheitsstrafe verbüßte, bevor er am 22. November 2016 wegen der Anlasstat festgenommen und inhaftiert wurde.
c) Schließlich ist auch die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung (vgl. hierzu: BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 46; B.v. 27.3.2019 – 10 ZB 19.68 – juris Rn. 13) nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt, und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt. Sie hat auch hinreichend die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Belange abgewogen und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts, den Integrationsstand, die familiäre und wirtschaftliche Situation beleuchtet. Die Beklagte hat die spezielle Situation des Klägers hinreichend in den Blick genommen und angemessen gewürdigt. Auch die familiären Bindungen sowie die langjährigen Aufenthaltszeiten im Bundesgebiet wurden ausreichend berücksichtigt.
2. Die Nrn. 2 bis 4 des angefochtenen Bescheids sind voraussichtlich ebenso wenig zu beanstanden. Die Befristungsentscheidung findet ihre Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU. Die Bestimmung der Länge der Frist erfolgte unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls und ist mit vier Jahren angemessen. Die Ausreisepflicht ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU; danach sind Unionsbürger ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde – wie vorliegend – festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Nachdem sich der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses in Haft bzw. im Maßregelvollzug befand und demnach eine freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert war, war die Abschiebung aus der Haft bzw. Unterbringung heraus anzuordnen (§ 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. §§ 58 Abs. 1 und 3 Nr. 1, 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Die für den Fall der Entlassung angedrohte Abschiebung mit einmonatiger Ausreisefrist beruht auf § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen