Verwaltungsrecht

Gezielte Gewalt wegen verweigerter Mitwirkung bei al-Shabaab ist kein gefahrerhöhender Umstand

Aktenzeichen  20 ZB 18.31213

Datum:
4.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 16823
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4 Abs. 1, § 78 Abs. 3

 

Leitsatz

1 Zu den gefahrerhöhenden Umständen iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG gehören solche persönlichen Umstände, aufgrund derer eine Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte, etwa wegen ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, ausgesetzt ist. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Macht eine Zivilperson nicht nur zusätzlich neben der willkürlichen Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts, sondern ausschließlich die Gefahr gezielter Gewaltakte geltend, liegt kein gefahrerhöhender Umstand vor. Allenfalls kann damit ein ernsthafter Schaden iSv § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG begründet werden. (Rn. 8 – 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 2 K 17.33905 2018-03-29 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg ist unbegründet, da die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht vorliegt.
Der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass für die angefochtene Entscheidung des Verwaltungsgerichts die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit) (Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).
Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob individuelle gefahrerhöhende Umstände im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darin zu sehen sind, dass ein somalischer Staatsangehöriger von der al-Shabaab-Terrormiliz rekrutiert werden sollte, er sich diesem Ruf aber verweigert hat und stattdessen aus dem Land floh.
Diese Frage ist jedoch nicht klärungsbedürftig. Die Antwort darauf ergibt sich bereits aus dem Gesetz und der hierzu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 38).
§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt als Tatbestandsvoraussetzung für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (ebenso wie Art. 2 Buchst. f der zugrundeliegenden Richtlinie 2011/95/EU) einen dem Ausländer in seinem Herkunftsland drohenden ernsthaften Schaden voraus. Als solcher gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (bzw. Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU) entweder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1 bzw. Art. 15 Buchst. a der Richtlinie), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Handlung oder Bestrafung (Nr. 2 oder Art. 15 Buchst. b der Richtlinie) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3 bzw. Art. 15 Buchst. c der Richtlinie). Der Europäische Gerichtshof hat in seinem zu dieser Vorschrift ergangenen Urteil vom 17. Februar 2009 (C-465/07 – Elgafaji – NVwZ 2009, 705) ausgeführt, dass die Begriffe in Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95/EU Situationen erfassen, in denen der den subsidiären Schutz Beantragende spezifisch der Gefahr ausgesetzt sei, einen Schaden ganz bestimmter Art zu erleiden (Rn. 32). Hingegen umfasse der in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie definierte Schaden eine Schadensgefahr allgemeinerer Art (Rn. 33). Die infrage stehende Gewalt, der die Bedrohung in diesem Fall entspringe, werde als „willkürlich“ gekennzeichnet, was impliziere, dass es sich auf Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation erstrecken könne (Rn. 34). Das Adjektiv „individuell“, mit dem die Bedrohung des Lebens oder die Unversehrtheit der Zivilperson beschrieben wird, sei dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe beziehe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richteten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreiche, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestünden, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie ausgesetzt zu sein (Rn. 35). Eine solche Situation habe jedoch Ausnahmecharakter (Rn. 37). Auch wenn kollektive Gesichtspunkte für die Anwendung des Art. 15 Buchst. c der Richtlinie eine bedeutende Rolle spielten, ändere dies nichts daran, dass die Vorschrift systematisch im Verhältnis zu den beiden anderen Tatbeständen des Art. 15 der Richtlinie und deshalb in enger Beziehung zu dieser Individualisierung auszulegen sei (Rn. 38). Dies sei dahin zu präzisieren, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen müsse, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz habe, umso geringer sein werde, je mehr er möglicherweise zu belegen vermöge, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände spezifisch betroffen sei (Rn. 39). Mit der Nennung dieser „seiner persönlichen Situation innewohnenden Umstände“ hat der EuGH die Rechtsgrundlage für die Rechtsfigur der Gefahr erhöhenden Umstände des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG gelegt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 27. April 2010 (10 C 4/09 – BVerfGE 136, 360) dahingehend konkretisiert, dass zu den Gefahr erhöhenden Umständen in erster Linie solche persönlichen Umstände gehörten, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen ließen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen sei, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Dazu könnten aber nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch solche persönlichen Umstände gerechnet werden, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich (Hervorhebung durch den Senat) der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt sei, sofern deswegen nicht schon eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht komme (a.a.O., Rn. 33).
Während in der ersten vom Bundesverwaltungsgericht dargestellten Fallgruppe die Gefahrerhöhung daraus resultiert, dass aus bestimmten, etwa beruflichen Gründen, eine gesteigerte Nähe zu der willkürlichen Gewalt und daher eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit, davon betroffen zu werden, Grundlage für die Annahme eines Gefahr erhöhenden Umstands ist, kommen in der zweiten Fallgruppe neben der Gefahr von willkürlicher Gewalt, die nach dem Verständnis des EuGH die Personen ungeachtet ihrer persönlichen Situation betrifft, auch eine Gefahr gezielter Gewaltakte hinzu. Diese gezielte Gewalt kann an eine religiöse oder ethnische Zugehörigkeit oder ein anderes Merkmal nach § 3b AsylG anknüpfen, ohne dass aber bereits die Gefahr einer Gruppenverfolgung in Anknüpfung an dieses Merkmal besteht. Zusätzlich muss der ernsthafte Schaden weiterhin als Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erscheinen. Ein Gefahr erhöhender Umstand liegt jedoch nach der dargestellten Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG nicht vor, wenn die jeweilige Zivilperson nicht nur zusätzlich, neben der willkürlichen Gewalt, sondern ausschließlich die Gefahr gezielter Gewaltakte geltend macht bzw. machen kann.
Die im vorliegenden Fall vom Kläger geltend gemachte Bedrohung stellt sich ausschließlich als gezielte Gewalt von Seiten der al-Shabaab dar. Denn der Kläger macht allein geltend, dass ihm wegen seiner Weigerung, bei der al-Shabaab mitzuwirken, von dieser bei einer Rückkehr nach Somalia ein Schaden für Leib oder Leben droht. Diese Gewalt ist keine willkürliche Gewalt, die sich im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „ungeachtet der persönlichen Situation“ gegen den Kläger richten kann, wie z.B. bei willkürlicher Gewalt in Bürgerkriegssituationen, die sich gegen besonders Schutzbedürftige wie Frauen oder gesellschaftlich gering geachtete Gruppen oder Minderheiten richtet. Der Vortrag des Klägers kann daher allenfalls einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG begründen, stellt sich aber nicht als Gefahr erhöhender Umstand im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG dar.
Aus diesem Grunde würde sich die formulierte Frage in einem Berufungsverfahren auch nicht entscheidungserheblich stellen (vgl. Happ in Eyermann, § 124 VwGO, Rn. 37).
Der Antrag auf Zulassung der Berufung war daher als unbegründet abzulehnen. Daran ändert es auch nichts, dass das Verwaltungsgericht mangels Ausführungen zur Glaubwürdigkeit des klägerischen Vortrags offenbar von dessen Wahrheit ausging und Ausführungen zu dem hier grundsätzlich einschlägigen § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AsylG nicht gemacht hat. Denn der Berufungszulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung) steht dem Antragsteller im Asylrechtsstreit nicht zur Verfügung. Ein Verfahrensfehler nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG wurde nicht geltend gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der vorliegenden Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig, § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG.

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