Aktenzeichen B 9 K 18.30063
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1, § 117 Abs. 3 S. 2
GG Art. 16a Abs. 1
RL 2011/95/EU – QualifikationsRL Art. 4 Abs. 4
EMRK Art. 3, Art. 9
Leitsatz
Beruft sich ein Asylsuchender auf seine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst, die er glaubhaft machen kann, kann eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung regelmäßig nur angenommen werden, wenn der Betreffende dadurch in seinem Recht aus Art. 9 EMRK verletzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 10.9.1999 – 9 B 7.99; BayVGH, B.v. 13.1.2017 – 11 ZB 16.31051). (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Die zulässigen Klagen haben in der Sache keinen Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 4. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie haben im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), noch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, noch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
a) Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft muss sich das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals und der Wahrscheinlichkeit der Verfolgungsgefahr bilden. Eine bloße Glaubhaftmachung in der Gestalt, dass der Vortrag lediglich wahrscheinlich sein muss, ist nicht ausreichend (vgl. grundlegend BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180). Es ist vielmehr der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei darf das Gericht jedoch hinsichtlich der Vorgänge im Verfolgerland, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Feststellung eines Abschiebungsverbotes führen sollen, keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fragen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180). Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67). Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU – QualifikationsRL). Dies privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Damit wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus. Es obliegt aber dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 35; HessVGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 15).
b) Hieran gemessen sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben.
aa) Vorliegend kommt allein eine mögliche Verfolgung wegen der Zugehörigkeit der Kläger zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. in Betracht. Ein Eingriff in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QualifikationsRL nach den durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris) und des Europäischen Gerichtshofes (vgl. EuGH; U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – juris) entwickelten Maßstäben liegt jedoch nicht vor:
Das auch in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh) verankerte Recht auf Religionsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 57). Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit darstellen können, gehören gravierende Eingriffe in die Freiheit des Asylantragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, aber auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung kann danach nicht davon abhängig gemacht werden, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift. Maßgeblich sind vielmehr die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 62; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67). Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 1 AsylG handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in § 3c AsylG genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit setzt dabei nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine hinreichend gravierende Verfolgung darstellen, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr entsprechender Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Ansonsten blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten.
Kann eine Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen letztlich nicht an (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 u.a. – BayVBl 2013, 234, Rn. 69; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 45).
Ob die nach diesen Maßstäben erforderliche Schwere einer Verletzung der Religionsfreiheit vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EuGH von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab:
Als objektiver Gesichtspunkt wird insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei der Ausübung seiner Religion drohende Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben herangezogen. Dies gilt vor allem, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (vgl. insgesamt BVerwG U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
In subjektiver Hinsicht ist relevant, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Maßgeblich ist, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – juris). Ein entsprechender Verzicht muss nach der obergerichtlichen Rechtsprechung beim Betroffenen jedoch nicht dazu führen, dass dieser innerlich zerbricht oder einen schweren seelischen Schaden nimmt. Es reicht hingegen nicht aus, dass der Asylbewerber lediglich eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Dies muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (vgl. BVerwG a.a.O.)
Entscheidend ist, ob die Kläger berechtigterweise befürchten müssen, dass ihnen aufgrund einer öffentlichen religiösen Betätigung in der Russischen Föderation die ihnen zur Wahrung ihrer religiösen Identität besonders wichtig ist, eine schwere Rechtsgutsverletzung droht. Der für die Beurteilung zugrunde zu legende Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist auch hier eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihre Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen und nicht übertrieben furchtsamen Menschen in der Lage des Betroffenen eine Rückkehr in den Heimatstaat nicht zugemutet werden kann (vgl. VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1128/14; BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90; BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – alle juris). Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 v.H. für eine politische Verfolgung gegeben ist. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er beispielsweise lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Zudem gilt: je unabwendbare eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor (vgl. VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1128/14). Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt gewesen war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 QualifikationsRL gelten können.
bb) Die Kläger sind nicht individuell vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Der Vortrag der Kläger zu 1 und 2 bei der Anhörung vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung lässt eine zielgerichtete individuelle Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1, § 3a AsylG durch den russischen Staat oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Religion in Bezug auf sich oder ihren Sohn nicht erkennen. Die Kläger haben geschildert, dass ihre volljährige Tochter bereit einmal von der Polizei befragt worden sei und dabei auch die Personalien der Kläger zu 1 und zu 2 angegeben habe. Bei den Versammlungen, die nach dem Verbot der Zeugen J. in Privatwohnungen stattgefunden hätten, sei nichts passiert. Sie vermuteten lediglich, dass die Teilnehmer einer solchen Versammlung im August oder September 2017 beim Verlassen des Hauses von zwei Männer in zivil, die die Kläger für Geheimdienstmitarbeiter hielten, gefilmt worden wären. Der Kläger zu 1 gab zudem an, er sei einmal an einer Bushaltestelle ohne erkennbaren Grund von der Polizei kontrolliert worden. Beim Missionieren sei den Klägern ebenfalls nichts passiert, es sei aber vorgekommen, dass jemand die Polizei gerufen habe. Der Kläger zu 3 sei wegen seiner Weigerung, an einer Militärparade teilzunehmen, zum Schuldirektor zitiert worden. Er konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, ob er im Rahmen dieses Gesprächs überhaupt angegeben hatte, Zeuge J. zu sein. Seine Weigerung hatte auch lediglich zur Folge, dass der Kläger zu 3 zusehen musste, wie seine Mitschüler an der Parade teilnahmen. Die beschriebenen Sachverhalte reichen aber nicht aus, um die Intensitätsschwelle für eine flüchtlingsrelevante individuelle Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1 AsylG zu erreichen. Gegen eine Vorverfolgung der Kläger spricht auch, dass sie trotz Grenzkontrollen ohne Schwierigkeiten auf dem Landweg in die Ukraine ausreisen konnten.
Auch die von Klägerseite vorgetragenen weiteren Benachteiligungen wegen ihrer kasachischen Volkszugehörigkeit stellen keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG wegen der Nationalität der Kläger dar. Die Klägerin zu 2 hat in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich angegeben, es habe zwar Fälle gegeben, in denen die Kläger als Kasachen diskriminiert worden seien, deswegen hätten sie ihre Heimat aber nicht verlassen. Somit mangelt es bereits an einer Kausalität etwaiger Benachteiligungen für die Flucht der Kläger. Außerdem gehen die von Klägerseite geschilderten Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Beantragung von Kindergeld, der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und der Wohnungs- bzw. Arbeitssuche auch nicht über eine bloße Alltagsdiskriminierung hinaus und erreichen nicht die Intensität der in § 3a Abs. 1 AsylG beschriebenen Verfolgungshandlungen.
cc) Zudem droht den Klägern auch im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation zur Überzeugung der Kammer nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch russische Sicherheitsbehörden oder Gerichte wegen ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Zeugen J. im Sinne einer sogenannten Gruppenverfolgung. Eine systematische Verfolgung von bzw. strafrechtliche Konsequenzen für Zeugen J. in der Russischen Föderation, die die flüchtlingsrechtlich erforderliche Intensitätsschwelle des § 3a Abs. 1 AsylG überschreiten ist derzeit nicht feststellbar.
(1) Die Kammer hat vorliegend keine durchgreifenden Zweifel daran, dass es sich bei den Klägern tatsächlich um Mitglieder der Zeugen J. handelt. Sie haben dies vom Beginn des Verfahrens an vorgebracht und durch ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung untermauert. Sie schilderten anschaulich, wie sie ihren Glauben in der russischen Föderation gelebt hatten. So stellten sie dar, wie sie missionierten, was ihren Glauben ausmacht und wie die Versammlungen abliefen. Auch die Tatsache, dass in der mündlichen Verhandlung zahlreiche Glaubensbrüder und -schwestern anwesend waren, spricht dafür, dass die Kläger in der Bundesrepublik ihren Glauben fortleben.
(2) Die Gefahr einer eigenen Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unveränderliches Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13).
(3) Lediglich bei einer unmittelbaren Verfolgung im Rahmen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms kann hiervon im Hinblick auf die prinzipielle Überlegenheit staatlicher Machtmittel und eine Verfolgung durch staatliche Organe insoweit abgesehen werden, als eine staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein kann, wenn zwar „Referenz-„oder „Vergleichsfälle“ durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden „Wiederholungsgefahr“ nicht im erforderlichen Umfang oder überhaupt (noch) nicht festgestellt werden können, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht. Das kann etwa der Fall sein, wenn festgestellt werden kann, dass der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten physisch vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. In derartigen extremen Situationen bedarf es nicht erst der Feststellung einzelner Vernichtungs- oder Vertreibungsschläge, um die beachtliche Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgungsmaßnahmen darzutun. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.1994 – 9 C 158.94 – juris Rn. 20). „Referenzfälle“ entsprechender Verfolgung, die sich in der Vergangenheit häufiger ereignet haben, sowie ein „Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung“, in dem die Angehörigen der Gruppe leben müssen und das Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, können dabei Indizien darstellen (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – juris Rn. 41).
(4) Für eine derartige extreme Verfolgungssituation bestehen aber trotz des Verbotes der Organisation der Zeugen J. in der Russischen Föderation nach Überzeugung der Kammer keine Anhaltspunkte. Zwar können Zeugen J. in der Russischen Föderation für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Dezember 2018, S. 7). Ob eine Rechtsvorschrift eine Verfolgung darstellt, ist allerdings davon abhängig, ob sie in der Praxis auch angewandt wird (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 u.a. – juris Rn. 55). Die aus den Erkenntnismitteln ersichtlichen und von Klägerseite benannten „Referenzfälle“ sind – soweit bei ihnen tatsächlich eine Verfolgung wegen der Religion der oder des Betroffenen vorliegt – keine Fälle, aus denen sich eine planvolle Vernichtung oder Vertreibung der Zeugen J. durch staatliche Organe in der Russischen Föderation ergibt. Die russischen Behörden gehen zwar gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Dezember 2018, S. 7). In Einzelfällen wurden Zeugen J. verhaftet und ihre Wohnungen durchsucht; in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle sind die strafrechtlichen Verfahren aber noch nicht endgültig abgeschlossen. Die Situation der Zeugen J. in der Russischen Föderation mag im Alltag seit Jahren von Diskriminierungen und Anfeindungen geprägt sein. Durch das Verbot der Organisation im April 2017 hat sich daran aber nichts grundsätzlich, sondern allenfalls graduell geändert. Hieraus kann aber nicht darauf geschlossen werden, dass es wie oben dargestellt Ziel eines staatlichen Verfolgungsprogramms wäre, die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. als religiöser Minderheit in der Russischen Föderation zu vernichten oder aus dem Staatsgebiet zu vertreiben oder dass sie auch nur einer annähernd vergleichbaren intensiven staatlichen Verfolgung ausgesetzt wären. Es liegen auch keine Hinweise darauf vor, dass eine solche Verfolgung der Zeugen J. in der Russischen Föderation unmittelbar bevorstünde; vielmehr sind seit dem Verbot im April 2017, also in über zwei Jahren ersichtlich keine dahingehenden Schritte von staatlichen Stellen in der Russischen Föderation eingeleitet worden.
(5) Auch eine hinreichende „Verfolgungsdichte“ im Hinblick auf eine Verfolgung von Zeugen J. in der Russischen Föderation durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure ist nicht gegeben. Hierfür wäre eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13). Diese Verfolgungsdichte ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, 12. Auflage 2018, AsylG, § 3b, Rn. 3). Zur Ermittlung der Verfolgungsdichte muss die Gesamtzahl der Angehörigen der von den Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe herangezogen werden. Weiter müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungshandlungen gegen die betroffene Gruppe festgestellt werden, die an ein oder mehrere Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG anknüpfen. Alle danach gleich gearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen dann zur ermittelten Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden. Zur Ermittlung der Relation von Gruppengröße und gegen die Gruppe gerichteten Verfolgungsmaßnahmen ist es ausreichend, die ungefähre Größenordnung der Verfolgungsschläge zu ermitteln und sie in Beziehung zur Gesamtgruppe der von Verfolgung Betroffenen zu setzen. Bei unübersichtlicher Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einem Krisengebiet darf aus einer Vielzahl vorliegender Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung des ungefähren Umfangs der asylerheblichen Verfolgungsschläge und der Größe der verfolgten Gruppe vorgenommen werden. Bei besonders kleinen Gruppen kann die Feststellung ausreichend sein, Übergriffe seien „an der Tagesordnung“; eine weitere Quantifizierung der Verfolgungsschläge ist hier entbehrlich (vgl. BVerwG, U. v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 19 f.; OVG Saarl, U. v. 10.3.2010 – 2 A 401/08 – juris Rn. 32). Entscheidend ist, dass die Feststellungen zur Größenordnung der Gesamtheit der Anschläge in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise begründet werden.
Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten.
Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris Rn. 13, 23; BVerwG, U.v. 29.5.2008 – 10 C 11.07 – juris).
(6) Unter Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Gerichts in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fest, dass keine Gruppenverfolgung von zur Religionsgemeinschaft der Zeugen J. gehörenden Personen in der Russischen Föderation vorliegt. Die Kläger haben in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Verfolgung allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit zu befürchten. Es fehlt bereits an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Zudem können die Mitglieder der Zeugen J. ihren Glauben öffentlich ausleben, sodass noch nicht von einer umfassenden Durchsetzung des Verbotes aus Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches ausgegangen werden kann.
(a) Es fehlt bereits die erforderliche Verfolgungsdichte, um von einer Gruppenverfolgung der Zeugen J. in der Russischen Föderation ausgehen zu können.
In der Russischen Föderation leben mehr als 170.000 Zeugen J. (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 28.2.2019, S. 65). Nachdem einige regionale Gruppen der Zeugen J. bereits zuvor als eine „extremistische Organisation“ geschlossen wurden, hat das Oberste Gericht Russlands am 20. April 2017 die Organisationen der Religionsgemeinschaft der Zeugen J. landesweit verboten. Das Gericht billigte einen Antrag des Justizministeriums, in dem die Glaubensgemeinschaft als extremistische Gruppe eingestuft wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Dezember 2018, S.7). Die Zentrale der Gruppe, ihre 395 Regionalverbände und viele Königreichssäle der Zeugen J. in der Russischen Föderation wurden mittlerweile geschlossen und ihr Besitz beschlagnahmt. Laut russischem Justizministerium bedrohen die Zeugen J. die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Am 17. Juli 2017 hat der Apellationssenat beim Obersten Gericht Russlands die Berufung der Zeugen J. gegen die Verbote abgelehnt. Die Zeugen J. kündigten an, gegen das Verbot vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.
Seit dem Inkrafttreten der Entscheidung des Obersten Gerichts Russlands müssen Zeugen J. mit Strafverfolgung in Form von Geldstrafen in Höhe von bis zu 100.000 Rubel (ca. 14.000 €) oder Gefängnis rechnen. Rechtsgrundlage hierfür bildet Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuches. Die Vorschrift stellt bereits die bloße „Teilnahme an der Tätigkeit einer religiösen Gesellschaft“ unter Strafe – hierunter fällt auch die gemeinschaftliche Religionsausübung im privaten Rahmen. Daher erfolgt die Vergleichsbetrachtung anhand der Zahl der stattgefundenen Verfolgungsakte im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Zeugen J. in der Russischen Föderation. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine wertende Betrachtung handelt, die auch eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen hat. Aufgrund der Prognose im vorliegenden Fall besteht jedoch kein reales Verfolgungsrisiko, dass die Gruppe der Zeugen J. in Russland von Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise betroffen ist.
Die russischen Behörden gehen mittlerweile gezielt gegen spezifische Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor, sofern diese öffentlich erfolgt. Es existieren Berichte über Hausdurchsuchungen und polizeiliche Vernehmungen von Zeugen J. Es liegen hingegen keine Quellen vor, die darauf schließen lassen, dass einfache Gläubige der Zeugen J., die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären. (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 28.2.2019, S. 9).
Seit April 2017 haben Behörden mindestens 85 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. 27 Zeugen J. sitzen in Untersuchungshaft, 17 befinden sich im Hausarrest und 31 weitere dürfen ihren Wohnort nicht verlassen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Dezember 2018, S. 7). Zudem kam es zu einer „Vielzahl“ von Gewalttaten durch Unbekannte gegenüber Anhängern der Zeugen J., wie z. B. Brandstiftung und Vandalismus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand April 2018, S. 8).
Nach den von Klägerseite zuletzt unter dem Datum vom 4. April 2019 vorgelegten Zahlen befanden sich (Stand 15. Januar 2019) 22 Zeugen J. in Untersuchungshaft, 40 waren nach Inhaftierung wieder freigelassen worden, 25 standen unter Hausarrest und weitere 40 Zeugen J. wurden auf Grundlage von Anerkennungsvereinbarungen freigelassen; daneben seien 269 Hausdurchsuchungen durchgeführt worden und es würden 106 Zeugen J. verdächtigt oder angeklagt. Auch bei Zugrundelegung der von den Klägern selbst vorgelegten, teilweise höheren Zahlen und (zunächst) unter der Annahme, dass eine Hausdurchsuchung bzw. ein Hausarrest noch keine Verfolgungshandlung mit der erforderlichen Schwere darstellt, ergibt sich bei Zugrundelegung dieser Zahlen angesichts von mehr als 170.000 Zeugen J. in ganz Russland eine rechnerische Verfolgungsdichte (bezogen auf den höchsten absoluten Wert, der für eine Verfolgung nach § 3 AsylG relevant ist, die von Klägerseite angegebene Zahl der Verhaftungen) von maximal 0,036% innerhalb von knapp zwei Jahren. Demnach ist lediglich einer von 2.750 Zeugen J. von einer solchen Verfolgung betroffen gewesen (einige wurden zwischenzeitlich auch bereits aus der Haft entlassen). Selbst wenn jedoch die Zahl der Hausdurchsuchungen (als separate Verfolgungshandlung gewertet) und die Gesamtzahl der jemals inhaftierten und der aktuell unter Hausarrest stehenden Zeugen J. addiert würde (obwohl es hier sicher Personen gibt, die von mehreren dieser Maßnahmen betroffen waren) ergibt sich lediglich eine Verfolgungsdichte von 0,21%. Auch wenn man auf die auf der Homepage der Zeugen J. in Russland für den nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aktuellsten Zahlen vom 15. März 2019 (abrufbar unter https://www…org/en/infographic/352.html) abstellt, ergeben sich nur geringfügig höhere Werte (insgesamt 79 jemals inhaftierte Zeugen J., also 0,046% bzw. – unter Berücksichtigung von 269 Hausdurchsuchungen und 27 Personen unter Hausarrest – 0,22%). Zieht man alternativ die angegebenen Zahlen der verdächtigten oder angeklagten Zeugen J. heran, ergeben sich ebenfalls nur 0,062% (Stand 15. Januar 2019) bzw. 0,087% (Stand 15. März 2019). Dies genügt offensichtlich nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, dass jeder Angehörige der 170.000 Zeugen J. in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsse, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Hierfür spricht auch der im Verfahren berücksichtigte Lagebericht des Auswärtigen Amtes welcher nur davon spricht, dass „gezielt gegen Einzelpersonen“ vorgegangen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 7).
Eine Quantifizierung der Übergriffe nichtstaatlicher Akteure auf Zeugen J. wegen deren Religion ist nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht möglich. Der Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand April 2018 spricht lediglich pauschal von einer „Vielzahl“ solcher Vorkommnisse; in den aktuelleren Berichten (Stand Dezember 2018 und Februar 2019) wird dies gar nicht mehr erwähnt. Auch sonst spielen entsprechende Vorfälle in der Berichterstattung über die Situation der Zeugen J. in der Russischen Föderation gegenüber der Darstellung staatlicher Maßnahmen stets eine untergeordnete Rolle und werden nur am Rande erwähnt. Es kann daher nicht angenommen werden, dass solchen Übergriffe nichtstaatlicher Akteure in flüchtlingsrechtlicher Hinsicht ein größeres Gewicht zukommt als den Einschränkungen, denen Zeugen J. durch staatliche Organe der Russischen Föderation ausgesetzt sind. Nach alledem sind nach der Überzeugung der Kammer die Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung auch mangels hinreichender Verfolgungsdichte nicht erfüllt.
(b) Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch möglicherweise nur unter Vorsichtsmaßnahmen stattfindendes religiöses Leben der Zeugen J. in der Russischen Föderation gibt, wird vor allem durch die eigenen Angaben der Kläger deutlich. Anders als von Klägerseite dargelegt, lag ein Verzicht auf das aktive Mitwirken für und innerhalb der Religionsgemeinschaft – zumindest bezogen auf die Gemeinde der Kläger – gerade nicht vor. Es war den Klägern bzw. ist den Mitgliedern der Zeugen J. in Russland möglich, ihren Glauben öffentlich auszuleben, ohne mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung befürchten zu müssen.
Die Kläger gaben hierzu an, dass nach dem erfolgten Verbot und der Schließung des Königreichsaals die Gemeinde in kleine Gruppen aufgeteilt worden sei. Die Gottesdienste bzw. Versammlungen hätten zweimal die Woche heimlich in privaten Räumlichkeiten, auch in denen der Kläger, später auch in einem Bus eines Glaubensbruders stattgefunden. Bei den Gottesdiensten in den privaten Räumlichkeiten seien die Kläger und andere Glaubensmitglieder besonders leise und vorsichtig gewesen. Die Kläger zu 1 und 2 gaben weiter an, bis kurz vor ihrer Ausreise weiter missioniert zu haben, wobei bestimmte Sicherheitsvorkehrungen eingehalten wurden.
Gerade am Beispiel der Kläger und deren Darstellungen wird deutlich, dass die Mitglieder der Zeugen J. in Russland auch nach dem Verbot offensichtlich ihren Glauben weiterhin leben und praktizieren. Es mag sein, dass sich die Mitglieder „heimlich“ in privaten Wohnungen treffen, da die Königreichsäle geschlossen wurden. Am Fall der Kläger, bei denen sogar die Nachbarn und die Polizei wussten, dass sie den Zeugen J. angehören und es trotzdem zu keiner Verfolgung durch staatliche Stellen gekommen ist, ist ersichtlich, dass dennoch keine generelle und flächendeckende Durchsetzung des Verbots der Zeugen J. erfolgt. Auch die Missionierungen wurden von den Gemeindemitgliedern unstreitig fortgesetzt. Mithin erfolgte augenscheinlich kein Verzicht auf die öffentliche Glaubensbetätigung. Trotz des Verbotes klingelten die Kläger – so wie auch ihre Glaubensschwestern und -brüder in der Gemeinde – laut eigener Angaben noch in Mehrfamilienhäusern bei fremden Menschen, um diesen ihren Glauben zu vermitteln und sprachen Menschen, die sie nicht kannten bei zufälligen Treffen an. Das Verbot und dessen Vollzug erreichen nach der Bewertung der erkennenden Kammer daher nicht die Qualität einer schwerwiegenden Rechtsverletzung des Art. 10 Abs. 1 EU-GR-Charta, die die Betroffenen erheblich beeinträchtigt und welche in ihrer Qualität einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommt.
Aus der mündlichen Verhandlung wurde zwar deutlich, dass die Kläger in ihrem subjektiven Empfinden tatsächlich sehr große Angst haben, in die Russische Föderation zurückzukehren und dort aus religiösen Gründen verfolgt oder strafrechtlich belangt zu werden. Maßstab für das Gericht ist jedoch, wie bereits dargestellt, der „vernünftig denkende, besonnene Mensch“ – und nach der hierfür relevanten qualifizierenden Betrachtungsweise erscheint es der Kammer für die Kläger aufgrund der obigen Ausführungen nicht unzumutbar, zurückzukehren. Hierfür spricht auch, dass die Argumentation der Kläger dem Gericht (teilweise wortgleich) aus einer Vielzahl sehr ähnlich gelagerter, anhängiger Verfahren weiterer russischer Zeugen J. bekannt ist. Dennoch macht in diesen Fällen keiner der Kläger geltend, aufgrund des Verbots und trotz der zumeist vorliegenden Kenntnis der Behörden über die Mitgliedschaft bei den Zeugen J., die Versammlungen gemieden oder das Missionieren eingestellt zu haben. Es erscheint lebensfremd, dass sich die russischen Behörden, wären sie tatsächlich daran interessiert, das gesetzliche Verbot konsequent durchzusetzen, von den „Tarnmaßnahmen“ der Versammlungen hätten täuschen lassen, zumal die Zugehörigkeit der Kläger zu den Zeugen J. der Polizei und Nachbarn bekannt war.
Die gemeinschaftliche Ausübung des Glaubens mit den Glaubensbrüdern und – schwestern als zentraler Bestandteil des Glaubens der Zeugen J. ist demzufolge nach wie vor möglich.
dd) Hinsichtlich des Klägers zu 3 ist führt auch die Tatsache, dass er aufgrund seines Alters inzwischen in der Russischen Föderation der Wehrpflicht unterliegen würde, nicht zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Ihm droht in Russland wegen der grundsätzlich auch für ihn bestehenden Wehrpflicht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG.
(1) Jeder souveräne Staat hat grundsätzlich das Recht, seine Staatsangehörigen zum Wehr- und Militärdienst heranzuziehen. Die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst und die damit zusammenhängenden Sanktionen stellen weder schlechthin eine politische Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG dar noch ist eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung stets als unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung nach § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG anzusehen. Dahin schlagen derartige Maßnahmen nur dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, die dadurch gerade wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen. Beruft sich der Betreffende auf eine Gewissensentscheidung, kann eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung regelmäßig nur angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung in seinem Recht aus Art. 9 EMRK verletzt wird. Dabei kommt es insbesondere auch darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (BVerwG, B.v. 10.9.1999 – 9 B 7.99 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 13.1.2017 – 11 ZB 16.31051 – juris Rn. 4).
(2) Alle männlichen russischen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren unterliegen der Wehrpflicht. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr. Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden, sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte. Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden, in der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten. Im Allgemeinen sinken die Zahlen der Einberufenen. Im Frühling 2018 wurden nur noch 128.000 Personen einberufen. Die geringe Zahl hat damit zu tun, dass die derzeitigen Kohorten extrem niedrige Geburtenraten aufweisen. Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, bzw. durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind weit verbreitet. So sollen 2016 rund 3.800 Personen nicht den Ladungen der Militärkommissariate gefolgt sein (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 28.2.2019, S. 38; Gutachten von Dr. M1. M2., Wien, vom 2.2.2015, S. 7 und 12 ff.).
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird durch Art. 59 Abs. 3 der russischen Verfassung garantiert. Dieser alternative Zivildienst kann abgeleistet werden, falls der Wehrdienst gegen die Überzeugung bzw. Glaubensvorschriften einer Person spricht oder falls diese Person zu einem indigenen Volk gehört, dessen traditionelle Lebensweise dem Wehrdienst widerspricht. Die Zivildienstzeit beträgt 18 Monate in den russischen Streitkräften bzw. 21 Monate in anderen staatlichen Einrichtungen. In der Regel soll der Zivildienst außerhalb der Region absolviert werden, in der der Staatsangehörige lebt. Die Möglichkeit zum alternativen Zivildienst wird in der Praxis auch genutzt. So absolvierten mit Stand vom August 2017 laut Angaben der Föderalen Agentur für Arbeit und Beschäftigung über 1.000 Personen alternativen Zivildienst. Vereinzelt kommt es zu gerichtlichen Verfahren, etwa wenn die pazifistische Gesinnung eines Wehrpflichtigen in Zweifel steht. In den Jahren 2004 bis 2010 wurden 80,5% der Anträge auf Zivildienst positiv verbeschieden. Insgesamt blickt der Zivildienst in Russland bereits auf eine lange historische Tradition zurück (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 28.2.2019, S. 40 f.; Gutachten von Dr. M1. M2., Wien, vom 2.2.2015, S. 7 ff.).
Es gibt in Russland weitere, weit verbreitete Möglichkeiten, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Ein Großteil der Wehrpflichtigen macht von den Regelungen zur Aufschiebung des Wehrdienstes Gebrauch, die in der Praxis oftmals zu einer Annullierung der Wehrpflicht führen. Wehrpflichtige nutzen häufig auch illegale Praktiken (meist in Form von Zahlung von Bestechungsgeldern an Ärzte), um sich von der Wehrpflicht zu befreien. Es kommt auch vor, dass sich Wehrpflichtige auf ihr Hochschulstudium berufen, um eine Aufschiebung des Wehrdienstes zu erlangen. Es ist auch möglich, mittels Zahlung von Bestechungsgeldern an gefälschte Dokumente zu kommen, aus denen hervorgeht, dass der Wehrpflichtige die Voraussetzungen für einen Aufschub oder eine Befreiung vom Wehrdienst erfüllt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 28.2.2019, S. 41). In ganz Russland haben sich Juristen, nichtstaatliche Organisationen und Anwaltskanzleien auf (angeblich oder tatsächlich) legale, teilweise aber auch illegale Methoden spezialisiert, ihre Klienten vom Wehrdienst fernzuhalten oder ihnen zumindest einen Aufschub zu verschaffen (Gutachten von Dr. M1. M2., Wien, vom 2.2.2015, S. 17).
(3) Zwar mag es für den Kläger zu 3 wegen seiner Glaubensüberzeugung als Zeuge J. unzumutbar sein, seinen Wehrdienst abzuleisten. Allerdings stehen ihm vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, einen Dienst an der Waffe zu vermeiden, so er angesichts der stetig sinkenden Einberufungsquoten überhaupt zum Wehrdienst herangezogen werden sollte. Nach dem Verbot der Organisation der Zeugen J. kann der Kläger zu 3 einen Antrag auf Zivildienst zwar nicht mehr mit seiner Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft begründen (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27.12.2017 an das VG Augsburg, Az. 508-516.80/48990). Allerdings gilt das Recht auf Zivildienst nach der Rechtsprechung des russischen Verfassungsgerichtshofes unabhängig von der formalen Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft (Gutachten von Dr. M1. M2., Wien, vom 2.2.2015, S. 7). Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb der Kläger zu 3 einen Antrag auf Zivildienst ganz unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu den Zeugen J. nicht mit seiner Gewissensentscheidung gegen den Militärdienst begründen können sollte. Selbst wenn dieser Weg nicht erfolgreich sein sollte, bleiben dem Kläger zu 3 weitere Alternativen zur Vermeidung des Wehrdienstes. Insoweit wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
(4) Auch wenn danach die Einberufung des Klägers zu 3 zum Wehrdienst unabwendbar sein sollte, er diesen aber schlicht nicht antritt, führt dies nicht zu einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung i.S.d. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Nach Art. 328.1 des russischen Strafgesetzbuches macht sich strafbar, wer sich der Einberufung zum Militärdienst entzieht, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von diesem Dienst nicht vorliegen. Dabei kann bereits eine Ausreise aus der Russischen Föderation ohne Aufhebung der militärischen Erfassung die Erfüllung des Tatbestands der Militärdienstentziehung darstellen. Die Erfassung für den Militärdienst erfolgt regelmäßig in dem Jahr, in dem das 17. Lebensjahr vollendet wird (BayVGH, U.v. 7.1.2015 – 11 B 12 30471 – juris Rn. 27 m.w.N.). Im Zeitpunkt der Ausreise aus der Russischen Föderation war der Kläger zu 3 bereits über 16 Jahre alt. Nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung wurde er noch vor der Ausreise militärisch erfasst. Es erscheint jedenfalls nicht gänzlich ausgeschlossen, dass der Kläger zu 3 bereits der militärischen Erfassung unterlag. Allerdings setzt Art. 328.1 des russischen Strafgesetzbuches auf der subjektiven Seite direkten Vorsatz voraus. Nach Art. 25.2 des russischen Strafgesetzbuches bedeutet dies, dass die Person die Gesellschaftsgefährlichkeit ihrer Handlung erkennt, die Möglichkeit oder Unvermeidbarkeit des Eintritts gesellschaftsgefährlicher Folgen vorhergesehen und ihren Eintritt gewollt hat. Selbst wenn ein solcher direkter Vorsatz hinsichtlich einer Wehrdienstentziehung beim Kläger zu 3 bejaht werden sollte und er sich nach Auffassung der russischen Behörden einer Wehrdienstentziehung schuldig gemacht haben sollte, wäre nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Freiheitsstrafe zu rechnen. Art. 328.1 des russischen Strafgesetzbuches sieht für den Tatbestand der Wehrdienstentziehung Geldstrafen von bis zu 200.000 Rubel oder in Höhe von 18 Monatslöhnen des Verurteilten sowie Freiheitsentzug von sechs Monaten bis zu zwei Jahren vor. In der Praxis wird nach der Auskunftslage aber nur ein kleiner Anteil der Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen, bestraft und die Strafen für Wehrdienstverweigerung fallen sehr gering aus. Weil der Freiheitsentzug in der Russischen Föderation nicht verhängt wird, falls ein nicht schweres Vergehen zum ersten Mal ohne erschwerende Umstände begangen wird, werden wegen Wehrdienstentziehung tatsächlich nur Geldstrafen verhängt. 2014 wurden gemäß offizieller gerichtlicher Statistik in der ganzen Russischen Föderation von allen Gerichten 790 Personen gemäß Art. 328 des russischen Strafgesetzbuches verurteilt. Eine Freiheitsstrafe wurde dabei über niemanden verhängt. 512 Personen erhielten Geldstrafen bis 25.000 Rubel, 248 Personen Geldstrafen zwischen 25.000 und 100.000 Rubel und nur fünf Personen Geldstrafen über 100.000 Rubel. Dass für Wehrdienstverweigerung keine Zwangsarbeit verhängt wird, wird auch durch den Erlass Nr. 3 der Vollversammlung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation zur einheitlichen Auslegung des Art. 328 des russischen Strafgesetzbuches durch die Gerichte vom 3. April 2008 gestützt, wonach die Verhängung von Zwangsarbeit der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht und daher verboten ist (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, 7.5.2018, S. 47 f.). Insgesamt erscheint eine flüchtlingsrechtlich relevante Menschenrechtsverletzung bei einer Rückkehr des Klägers zu 3 in sein Heimatland sehr unwahrscheinlich.
ee) Die in der mündlichen Verhandlung bedingt gestellten Beweisanträge der Klägerbevollmächtigten mit den Ziffern 1, 2, 3 und 8 werden abgelehnt. Es wurde beantragt, für den Fall der Klageabweisung eine Auskunft des Auswärtigen Amtes zu folgenden Fragen einzuholen:
1. Dass es den Anhängern der Zeugen J. in der Russischen Föderation seit April 2017 nicht mehr möglich ist, zentrale Glaubensinhalte (Missionstätigkeit, Abhaltung von Versammlungen, Umgehung des Wehrdienstes) für die Öffentlichkeit nach außen erkennbar auszuleben, ohne hierfür strafrechtlich belangt zu werden.
2. Dass die russischen Behörden gezielt Informationen bzw. Personalien der aktiven Zeugen J. sammeln, um strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten.
3. Dass die Ermittlungsbehörden vor den Durchsuchungen bzw. Verhaftungen der Zeugen J. lange Zeit im Voraus ermitteln.
8. Dass die zivile Bevölkerung verpflichtet ist, jegliche Kenntnisse über eine extremistische Organisation unverzüglich an die staatlichen Behörden mitzuteilen.
Die Anträge sind unsubstantiiert, die Bevollmächtigte legt nicht dar, welche Relevanz hinsichtlich der rechtlichen Bewertung einer entsprechenden Beweiserhebung zukommen soll. Die Kläger sind nach den vorstehenden Ausführungen unverfolgt ausgereist, die Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikations-RL ist deshalb nicht gegeben. Soweit es der Bevollmächtigten mit den Anträgen auf die Untermauerung einer Verfolgung in Form der Gruppenverfolgung bzw. eines Eingriffs in die Religionsfreiheit ankommt, ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dass eine solche gerade nicht beachtlich wahrscheinlich ist. Wie bereits dargestellt geht der russische Staat laut der Auskunftslage gerade nur gegen Einzelpersonen vor. Für diese Beurteilung steht dem Gericht mit den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln, der persönlichen Angaben der Kläger und aufgrund der gleichzeitig anhängigen Verfahren anderer russischen Zeugen J. eine hinreichende Tatsachengrundlage zur Verfügung, soweit dies für das hiesige Verfahren von Bedeutung ist. Insbesondere wurden mit der in das Verfahren eingeführten Auskunftsliste Russische Föderation, Stand: März 2019 verschiedene hier relevante aktuelle Erkenntnismittel zum Gegenstand des Verfahrens gemacht, z.B. die aktuellen Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 21. Mai 2018 und 13. Februar 2019, Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Dezember 2017, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26. September 2017 und die Länderinformationsblätter Russische Föderation der Staatendokumentation vom 21. Juli 2017 (Stand: 7. Mai 2018) sowie 31. August 2018 (Stand: 28. Februar 2019). Der Beweisantrag verdeutlicht nicht im Ansatz, inwieweit die beantragte weitergehende Beweiserhebung überhaupt nochmals neuere, bessere oder detailliertere Erkenntnisse bringen soll. Überdies wird das Ergebnis der Beweiswürdigung jeweils im Kern vorweggenommen. Soweit es um die rechtliche Beurteilung einschließlich der rechtlichen Einschätzung von Gefahren und damit zusammenhängenden Wahrscheinlichkeiten geht, obliegt diese dem Gericht, wobei freilich die tatsächliche Lage hinsichtlich der Zeugen J. in Russland zugrunde zu legen ist, die sich aus der oben genannten Tatsachengrundlage ergibt. Der unter Ziffer 1 zum Beweis gestellte Vortrag ist außerdem in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich. Die Kläger selbst teilten mit, dass sie auch nach Inkrafttreten des Verbots noch missioniert und an Versammlungen teilgenommen haben. Selbst Kongresse haben noch stattgefunden. Dass die Versammlungen „heimlich“ in Wohnungen stattfanden ist unschädlich – denn zumindest im Falle der Kläger wussten die Nachbarn und die Polizei, dass die Kläger Mitglieder der Zeugen J. sind. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Kläger kam es dennoch nicht. Soweit Beweis hinsichtlich der Umgehung des Wehrdienstes erhoben werden soll, ist diese Tatsache nach den obigen Ausführungen unerheblich, da auf Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon auszugehen ist, dass dem Kläger zu 3 wegen des Umstandes, dass er in der Russischen Föderation der Wehrpflicht unterliegt, keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht. Auch insoweit ist nicht erkennbar, wie die mit dem Beweisantrag begehrte Auskunft nochmals neuere, bessere oder detailliertere Erkenntnisse bringen soll.
Auch den Beweisanträgen mit den Ziffern 5, 6 und 7 war nicht nachzukommen. Hier wurde beantragt, eine Auskunft zu folgenden Fragen einzuholen:
5. Dass sich die strafrechtlichen Ermittlungen nicht nur gegenüber den Zeugen J. mit einer gehobenen Stellung innerhalb der Gemeinde, beispielsweise das Amt eines Ältesten richten, sondern gegen alle Gläubigen.
6. Dass keine offizielle Statistik über die strafrechtliche Verfolgung der Zeugen J. geführt wird.
7. Dass durch die staatlichen Medien ein gezielt negatives Bild über die Zeugen J. vermittelt wird.
Das Gericht hat keine Zweifel an den angesprochenen Darstellungen und unterstellt die darin enthaltenen Tatsachen als wahr. Hinsichtlich des Antrags unter Ziffer 6 wird wiederum nicht deutlich, welche rechtliche Relevanz der zu beweisenden Tatsache zukommen soll. Schlussendlich führt jedoch auch die Wahrunterstellung, wie aus den vorigen Ausführungen bereits hinreichend deutlich wird, nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung einschließlich der Einschätzung von Gefahren und damit zusammenhängenden Wahrscheinlichkeiten durch das Gericht. Überdies wird auch bei diesen Beweisanträgen das Ergebnis im Kern vorweggenommen.
Der Beweisantrag mit der Ziffer 9 in welchem die Einholung einer Auskunft zur Frage
9. Dass verhaftete Zeugen J. erhöhte Gefahr laufen, bei den Vernehmungen durch Ermittlungsbehörden gefoltert zu werden wird ebenfalls abgelehnt.
Es handelt sich um einen unzulässigen Beweisermittlungsantrag bzw. kommt es auf die Beweiserhebung im vorliegenden Fall nicht an. Die Kläger sind nach den vorstehenden Ausführungen unverfolgt ausgereist – die Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 EU-Qualifikations-RL ist deshalb nicht gegeben. Wie sich aus Vorstehendem ergibt, besteht jedoch gerade keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kläger bei einer Rückkehr in die Russische Föderation verhaftet werden. Ferner nimmt die Bevollmächtigte das Ergebnis der Beweiserhebung im Kern vorweg und unterstellt, dass die erhöhte Gefahr einer Folter im Falle einer Verhaftung für Zeugen J. besteht. Auch in diesem Fall ist aber vor allem auch darauf hinzuweisen, dass die Beurteilung von (beachtlichen) Wahrscheinlichkeiten und/oder Gefahreinschätzungen im Einzelfall nicht auf externe Gutachter verlegt werden können, sondern kraft Gesetzes dem Gericht zur rechtlichen Würdigung und Entscheidung zugewiesen sind.
Schließlich beantragte die Bevollmächtigte für den Fall der Klageabweisung zudem die Einholung einer Auskunft zu der Frage
10. Dass es zu einer Vielzahl von Gewalttaten durch Unbekannte gegenüber Anhängern der Zeugen J. (beispielsweise Brandstiftung, Gewaltandrohungen, Vandalismus) kommt.
Auch diesem Beweisantrag war nicht nachzukommen. Soweit mit dem Beweisantrag die allgemeinen Verhältnisse in der Russischen Föderation betreffend Übergriffe (durch nichtstaatliche Akteure) angesprochen werden, verfügt das Gericht zur Beurteilung der in Rede stehenden allgemeinen Fragen bereits über eine ausreichende Basis, da verschiedene Erkenntnismittel zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind. So z.B. die aktuellen Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 21. Mai 2018 und 13. Februar 2019, Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 27. Dezember 2017, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 26. September 2017 und die Länderinformationsblätter Russische Föderation der Staatendokumentation vom 21. Juli 2017 (Stand: 7. Mai 2018) sowie 31. August 2018 (Stand: 28. Februar 2019). Die zum Beweis gestellte Tatsache ergibt sich außerdem nahezu wörtlich aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21. Mai 2018, S. 8. Die zum Beweis gestellte Tatsache ergibt sich außerdem nahezu wörtlich aus dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21. Mai 2018, S. 8. Der Beweisantrag verdeutlicht nicht im Ansatz, inwieweit die beantragte weitergehende Beweiserhebung überhaupt nochmals neuere, bessere oder detailliertere Erkenntnisse bringen soll. Überdies wird das Ergebnis der Beweiswürdigung jeweils im Kern vorweggenommen. Soweit es um die rechtliche Beurteilung einschließlich der rechtlichen Einschätzung von Gefahren und damit zusammenhängenden Wahrscheinlichkeiten geht, obliegt diese dem Gericht, wobei freilich die tatsächliche Lage hinsichtlich der Zeugen J. in Russland zugrunde zu legen ist, die sich aus der oben genannten Tatsachengrundlage ergibt.
ff) Weiterhin besteht auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Form der zwangsweisen Entziehung des Sorgerechts.
Russische Behörden haben angeordnet, dass der Staat Zeugen J. ihre Kinder zur Resozialisierung entziehen kann. Das Plenum des Obersten Gerichts hatte im November 2017 bestimmt, dass ein Gericht den Eltern das Sorgerecht entziehen kann, wenn sie ihre Kinder mit einer religiösen Organisation in Kontakt bringen, die als extremistisch eingestuft und verboten wurde. Im selben Monat hat das Ministerium für Bildung und Wissenschaft daraufhin die landesweite Empfehlung ausgesprochen, Kinder, die religiös-extremistischen Ideologien ausgesetzt waren, zur resozialisieren. Das Ministerium erwähnt dabei nur zwei Gruppen – Kinder von ISIS-Angehörigen und Zeugen J.
In der mündlichen Verhandlung berichtete die Klägerin zu 2 lediglich vage, sie habe von Fällen gehört, in denen Behörden Zeugen J. ihre Kinder entzogen hätten, dies sei aber nicht in ihrer Gemeinde passiert. Dem Auswärtigen Amt ist bisher kein derartiger Fall bekannt geworden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 7). Angesichts dieser Auskunftslage und auch aufgrund der Angaben der Kläger, hält es die Kammer nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern zu 1 und 2 das Sorgerecht für den im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gerade noch minderjährigen Kläger zu 3 (die weitere Tochter ist bereits volljährig) entzogen wird (so auch VG Stuttgart, U.v. 15.3.2019 – A 14 K 16637/17 – juris). Die bloße gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, Eltern wegen ihrer Zugehörigkeit zu den Zeugen J. das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen, die so in der Praxis allerdings (aktuell) nicht angewendet wird, genügt hierfür nicht. Auch aus den – nicht näher präzisierten – Angaben der Kläger ergeben sich keine Hinweise auf eine flächendeckende Umsetzung dieser Rechtslage. Aufgrund der äußerst guten und engen Vernetzung der Mitglieder der Zeugen J. ist ferner davon auszugehen, dass die Kläger es wüssten, wenn es gehäufte Fälle von Sorgerechtsentzug gäbe.
Dem Beweisantrag mit der Ziffer 4 der Bevollmächtigten, dass Schulleitungen aufgefordert wurden, über Kinder der Zeugen J. die Ermittlungsbehörden oder andere staatliche Behörden zu informieren, war daher ebenfalls nicht nachzukommen. Die Bevollmächtigte legt nicht dar, welche Relevanz hinsichtlich der rechtlichen Bewertung einer entsprechenden Beweiserhebung zukommen soll. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen und den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ist für das gerichtliche Verfahren eine hinreichende Grundlage vorhanden, um die Situation eines möglichen Sorgerechtsentzuges zu eruieren und daraus rechtliche Bewertungen abzuleiten. Mit dem Beweisantrag wird nicht deutlich, inwieweit sich mit der beantragten Beweiserhebung nochmals aktuellere bzw. bessere und/oder detailliertere Erkenntnisse bezüglich eines Kindesentzuges zum Zwecke der Resozialisierung ergeben sollten. Selbst wenn die im Antrag enthaltene Tatsache als wahr unterstellt wird, ergibt sich daraus – wie oben dargestellt – dennoch nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern zu 1 und 2 das Sorgerecht für die Klägerin zu 3 entzogen würde.
gg) Das Gericht konnte auch nicht die Überzeugung gewinnen, dass den Klägern im Hinblick auf ihre Ausreise und Asylantragstellung im Ausland eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt, in denen russische Staatsangehörige bei ihrer Rückkehr nach Russland allein deshalb staatlich verfolgt wurden, weil sie zuvor im Ausland einen Asylantrag gestellt hatten (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 13.2.2019, S. 22).
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Danach ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die Gefahr eines ernsthaften Schadens kann nicht nur vom Staat drohen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings scheidet die Gewährung subsidiären Schutzes aus, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keiner Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt ist, weil er dort Zugang zu Schutz vor einem solchen ernsthaften Schaden i.S.d. § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG).
Hieran gemessen sind die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach obigen Ausführungen ebenfalls nicht gegeben. Insoweit wird nach § 77 Abs. 2 AsylG auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen, der sich das Gericht anschließt.
3. Die Voraussetzungen der Asylanerkennung gemäß Art. 16a Abs. 1 GG und der Zuerkennung des internationalen Schutzes gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unterscheiden sich lediglich dadurch, dass der Schutzbereich des internationalen Schutzes weiter gefasst ist. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigte liegen somit nach Ablehnung des internationalen Schutzes ebenfalls nicht vor.
4. Die Kläger können sich schließlich auch nicht auf das Bestehen von Abschiebungsverboten i.S.d. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen. Auch insoweit schließt sich das Gericht den zutreffenden Ausführungen in den Gründen des streitgegenständlichen Bescheids insbesondere auch zu den humanitären Bedingungen in der Russischen Föderation im Hinblick auf Art. 3 EMRK an, auf die Bezug genommen wird, § 77 Abs. 2 AsylG.
Auch der Umstand, dass die Klägerin zu 2 nach ihren Angaben an Blutarmut leidet, führt nicht zur Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche krankheitsbedingte Gefahr setzt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG voraus, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers in seiner Heimat wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, wobei eine konkrete Gefahr besteht, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Heimatstaat in diese Lage geriete, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58/96 – BVerwGE 105, 383).
Abgesehen davon, dass für die angebliche Erkrankung der Klägerin zu 2 keinerlei ärztliche Atteste o.ä. als Nachweis bzw. nähere Angaben zum Schweregrad und der Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung vorgelegt wurden, ist auch nicht ersichtlich, weshalb eine Anämie, an der die Klägerin zu 2 nach eigenen Angaben bereits vor der Ausreise aus ihrem Herkunftsland erkrankt war, zu einer erheblichen krankheitsbedingten Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei einer Rückkehr in die Russische Föderation führen sollte.
5. Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten festgesetzten Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sprechen, sind nicht ersichtlich.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten richtet sich nach § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO bedurfte es angesichts der – wenn überhaupt anfallenden – dann allenfalls geringen vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen der Beklagten nicht, zumal diese auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eventuell eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen.