Verwaltungsrecht

in Deutschland geborenes Kleinkind

Aktenzeichen  Au 5 K 20.50088

Datum:
28.5.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 13048
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nrn. 2 bis 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. März 2020, Gz.: … , verpflichtet, festzustellen, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich U. vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.

Gründe

1. Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet und sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt haben.
2. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte unter insoweitiger Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 17. März 2020 zu verpflichten, für die Klägerin ein Asylverfahren in der Bundesrepublik D. durchzuführen, ist die Klage zulässig, aber nicht begründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Für die Eltern der Klägerin ist die Regelung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG einschlägig, nach der ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union – hier U. – dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
Demgegenüber enthält das Asylgesetz keine Regelung dazu, wie der Asylantrag der Klägerin zu behandeln ist, die in D. geboren ist, nachdem ihre Eltern hier Asyl beantragt haben, obwohl diesen zuvor in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union – hier U. – internationaler Schutz gewährt wurde. Diese ersichtlich planwidrige Regelungslücke ist im Wege der teleologischen Extension dadurch zu schließen, dass der Asylantrag der Klägerin in entsprechender Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig ist (BayVGH, B.v. 22.11.2018 – 21 ZB 18.32867 – juris Rn. 19).
§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt auch den das gemeinsame Europäische Asylsystem beherrschenden Grundsatz durch, nach dem der Asylantrag eines Drittstaatsangehörigen (nur) von einem einzigen Mitgliedsstaat zu prüfen ist, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Denn danach braucht sich kein weiterer Mitgliedsstaat sachlich mit dem Asylbegehren eines Drittstaatsangehörigen zu befassen, wenn diesem bereits durch einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union internationaler Schutz zugesprochen wurde. Damit sollen Drittstaatsangehörige letztlich von einer Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union abgehalten werden (BayVGH, B.v. 22.11.2018 – a.a.O. Rn. 20; EUGH, U.v. 10.12.2013 – C – 394/12 – juris Rn. 53). Dem liefe es zuwider, wenn mit dem Asylantrag eines minderjährigen Kindes, das in D. geboren wurde, anders zu verfahren wäre, als mit dem Asylantrag der Eltern, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bereits internationalen Schutz erhalten haben. Für eine entsprechende Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG spricht zudem, dass die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 einerseits die hier verfahrensgegenständliche Konstellation nicht regelt (vgl. VGH BW, B.v. 14.3.2018 – A 4 S 544/18 – juris Rn. 9), aber andererseits auch in ihrem Anwendungsbereich dem Grundsatz der Familieneinheit folgend Kinder, die nach der Ankunft der Antragsteller im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten geboren werden, untrennbar mit der Situation der Eltern verbunden sind und ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese Kinder nicht eingeleitet werden muss, Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO (BayVGH, B.v. 22.11.2018 – a.a.O. Rn. 20; a.A VG Düsseldorf, U.v. 2.4.2020 – 12 K 5861/19. A-juris Rn. 18; OVG Schleswig Holstein, U.v. 7. November 2019 – 1 LB5/19 – juris Rn. 72 ff.).
3. Das Gericht legt den Klageantrag der Klägerin nach ihrem erkennbaren Rechtsschutzziel dahingehend aus, dass mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin ein Asylverfahren in der Bundesrepublik D. durchzuführen hilfsweise beantragt ist, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich U. vorliegt.
Insoweit ist die Klage zulässig und begründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Der Klägerin droht in U. aufgrund der dortigen Aufnahmebedingungen für anerkannte Flüchtlinge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK.
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S. gg. Griechenland und Belgien – juris Rn. 263 f. und 365 ff.).
Allerdings verpflichtet diese Norm nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, B.v 2.4.2013 – 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande – ZAR 2013, 336/337; U.v. 21.1.2011 – 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland – juris Rn. 249 m.w.N.). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725.10, …Italien und Niederlande – ZAR 2013, 336/337). Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann gegeben, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und – trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte – behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland – juris Rn. 250; siehe auch EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – juris Rn. 88 ff.). Bei der Prüfung einer Überstellung kommt es nicht nur auf die generellen Verhältnisse im Zielstaat an, sondern auch auf die individuellen Umstände des konkret Betroffenen.
Gemessen an diesem Maßstab besteht für die am 28. Juli 2019 in D. geborene Klägerin in U. die Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK. Die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse (Wohnraum, Nahrungsmittel und Zugang zu sanitären Einrichtungen) wäre für die Familie der Klägerin bzw. die Klägerin allenfalls für eine kurzfristige Übergangszeit gewährleistet. Den anerkannt schutzberechtigten Eltern der Klägerin und damit auch der Klägerin droht im Anschluss daran akute Obdachlosigkeit und Verelendung, zumal Rückkehrer in der Regel keinen Zugang mehr zur kostenfreien Krankenversicherung finden. Sie haben keine reelle Chance, sich in U. ein Existenzminimum aufbauen zu können.
Dies ergibt die Auswertung der hinreichend verlässlichen und auch ihrem Umfang nachzureichenden Erkenntnislage. Infolge von Gesetzesänderungen im April und Juni 2016 haben sich jedenfalls die Bedingungen für diejenigen anerkannten Schutzberechtigten, die nach dem 1. April 2016 ihren Status erhalten haben, signifikant verschlechtert. Für sie gibt es keinerlei staatliche Integrationsleistungen mehr. Die Möglichkeit zum Abschluss eines Integrationsvertrages wurde ersatzlos abgeschafft; damit entfallen sowohl die mit ihm verbundenen finanziellen Hilfen als auch die individuelle Begleitung des Integrationsprozesses für die Dauer von zwei Jahren. Wie sich aus dem Internetauftritt des Amts für Einwanderung und Asyl (… unter der Rubrik „Häufige Fragen – Als Flüchtlinge in U.“ ergibt, müssen anerkannt Schutzberechtigte nunmehr binnen 30 Tagen (zuvor 60 Tage) nach der Statusentscheidung die Aufnahmezentren verlassen. Der beitragsfreie Zugang zur Krankenversicherung wird nur noch für einen Zeitraum von sechs Monaten (zuvor: 12 Monate) ab Zuerkennung des Status gewährt (siehe auch: Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 94). Die Migrationsbehörde kann sogar rückwirkend Geld von ihnen zurückfordern (vgl. Ecre, Asylum in Hungary: Damaged beyond rep…, März 2017, S. 6; Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 85 ff.). Anerkannte Schutzberechtigte erhalten damit keine Unterstützung mehr bei der Wohnungssuche, finanzielle Hilfen, Sprachkurse oder sonstige staatliche Integrationshilfen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt steht anerkannten Schutzberechtigten zwar weiterhin offen, allerdings sind bestimmte Berufsfelder ungarischen Staatsbürgern bzw. Ausländern mit langem Aufenthalt vorbehalten (Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 93 f.).
Zudem ist nach dem Rückzug des ungarischen Staates aus dem Integrationsprogramm ungewiss, ob anerkannte Schutzberechtigte in anderer Weise Unterstützung bei ihrer Integration und der Einforderung ihnen zustehender Rechte erhalten können. Im Lichte des Art. 3 EMRK kommt es hierauf jedoch an. Die spezifischen Hilfsbedürfnisse international Schutzberechtigter verlangen, dass ihnen zumindest in einer ersten Übergangsphase ein Mindestmaß an Fürsorge und Unterstützung bei der Integration zukommt. Die – möglicherweise garantierte – Inländergleichbehandlung muss auch faktisch und nicht nur formalrechtlich gewährleistet sein (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 21; HessVGH, U.v. 4.11.2016 – 3 A 1322/16.A – juris Rn. 25). Anerkannte Schutzberechtigte können nicht ohne weiteres die Rechtspositionen, die die Rechtsordnung des Zielstaates formal gewährt, effektiv einfordern. Sie müssen erst in eine der einheimischen Bevölkerung vergleichbare tatsächliche Position einrücken, die ihnen die Teilhabe an den gewährten Rechten ermöglicht (vgl. VGH BW, B.v. 15.3.2017 – A 11 S 2151/16 – juris Rn. 25).
Nichtregierungsorganisationen wie das Ungarische Rote Kreuz oder das Ungarische Helsinki Komitee sind offenbar vor allem damit befasst, Asylantragstellern im ungarischen Asylsystem beizustehen. Zu ihrer Arbeit mit anerkannten Schutzberechtigten gibt es nur wenige Erkenntnisse (vgl. hierzu VG Berlin, B.v. 17.7.2017 – 23 l 507.17 A – juris Rn. 15 m.w.N.). So heißt es zwar im Bericht des Ungarischen Helsinki Komitees vom März 2017, Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Einrichtungen leisteten Integrationsarbeit und seien bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Arbeitsmöglichkeit behilflich, ebenso bei der Familienzusammenführung oder dem Erlernen der ungarischen Sprache (siehe HHC, Under Destruction, S. 3). Migrant Solidarity Group of Hungary Migszol versteht sich primär als politische Plattform, bewirbt eigene Sprachkurse und betont, sonst keine humanitäre Hilfe zu leisten (siehe: http:// … “We do not do humanitarian work [there are many great voluntary organizations who do], but political activism”). Soweit ersichtlich ist im Bereich der Integration vor allem die Hungarian Association for Migrants Menedék tätig (vgl. http:// …  In einzelnen Projekten, die teilweise vom Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union unterstützt werden, leistet Menedék in mehreren Städten U.s Integrationsarbeit beispielsweise durch soziale und rechtliche Beratungen oder Hilfe bei der Suche nach einer Beschäftigung. Außerdem werden Kindergarten- und Schulplätze vermittelt (zu den aktuellen Projekten im Einzelnen siehe: http:// …  Insofern scheinen damit vereinzelte Angebote in einigen Städten U.s verfügbar zu sein, wobei einige Unterstützungsleistungen offensichtlich nur zeitlich befristet angeboten werden konnten (siehe: http:// …
Selbst kirchliche Organisationen folgen inzwischen mehrheitlich der staatlichen Flüchtlingspolitik oder schweigen zumindest (siehe etwa Bericht in Spiegel Online, Warum Orbán alle Asylbewerber inhaftieren will, v. 14.1.2017, http://www.spiegel. de/politik/ausland/fluechtlinge-in-ungarn-viktor-orbans-offensive-a-1129919.html). Anhaltspunkte dafür, dass sie gegenwärtig über Einzelfälle hinaus aktiv in die Integration anerkannter Schutzberechtigter eingebunden sind, sind nicht ersichtlich. Neben stärkerer Kontrolle droht deren Mitarbeitern zudem die Ausweisung (http://… https:// …  jeweils v. 18.1.2018).
Unter diesen Umständen wird inzwischen abgeraten, sowohl Dublin-Überstellungen als auch Rückführungen anerkannter Schutzberechtigter nach U. vorzunehmen (vgl. Ecre, Asylum in Hungary: Damaged beyond rep…, März 2017, S. 7). Zumindest bei besonders schutzbedürftigen Personen wie Familien mit (Klein) Kindern ist es unter den aktuellen Umständen als unzumutbar zu erachten, nach U. zurückzukehren.
Nach alledem war die Beklagte deshalb unter insoweitiger Aufhebung des Bescheids vom 17. März 2020 zu verpflichten, festzustellen, dass bei der Klägerin das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich U. vorliegt.
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach entsprach es dem Obsiegen bzw. Unterliegen der Parteien, dass diese die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte zu tragen haben.

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