Aktenzeichen M 1 K 20.32014
Leitsatz
1. Eine getrennt lebende türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit mit drei Kindern, darunter ein schwerbehindertes, kann bei einer Rückkehr in die Türkei jedenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung das wirtschaftliche Existenzminimum ihrer Familie ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK sichern. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der Türkei sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet; die medizinische Versorgung ist hinreichend. Dies gilt auch für die Behandlung psychischer Erkrankungen. (Rn. 42 – 45) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Soweit die Klagen zurückgenommen wurden, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Mai 2017 wird, soweit er die Kläger zu 1 bis 3 betrifft, in Nr. 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kläger haben zu je 1/3 die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I.
Über die Klage konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten entschieden werden, weil die Beklagte mit der Ladung einen entsprechenden Hinweis nach § 102 Abs. 2 VwGO erhalten hat. Auf die Einhaltung der zweiwöchigen Ladungsfrist (§ 102 Abs. 1 Satz 2 VwGO) verzichtete die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017, die ausweislich der Prozesserklärung vom 20. Januar 2021 für vor dem 1. Januar 2021 eingegangene Verfahren fortgilt. Der Klägervertreter hat sich in der mündlichen Verhandlung rügelos auf die Nichteinhaltung der Ladungsfrist eingelassen, sodass dieser Mangel nach § 173 S. 1 iVm § 295 Abs. 1 ZPO geheilt worden ist (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 102 Rn. 20).
II.
Im Hinblick auf die Klageanträge zu 2. und 3. – die Asylanerkennung, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes – wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt. Die Klagepartei hat in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll insoweit die Rücknahme erklärt.
III.
Im Hinblick auf die Feststellung von Abschiebungsverboten ist die zulässige Klage unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung von zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts (Nr. 6) ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 – 23505/09, N./Schweden – HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 – 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien – HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 – 60367.10, S.H.K/Großbritannien – HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 – 2283.12, Mohammed/Österreich – HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 – 61204.09, 1./Schweden – HUDOC Rn. 56).
Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation regelmäßig davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet tatsächlich zusammenlebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 04.07.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 17 ff.; BayVGH, Urt. v. 21.11.2018 – Az. 13a B 18.30632 – juris Rn. 17 ff.). Hier ist angesichts der Inhaftierung des Ehemanns davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 ohne ihn und zusammen mit ihren Kindern, den Klägern zu 2 und 3 sowie dem nachgeborenen Sohn (vgl. M 1 K 18.30718) zurückkehren würde.
Es liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass die Kläger tatsächlich Gefahr laufen, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Kläger auch ohne den Ehemann bzw. Kindsvater jedenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr Existenzminimum in der Türkei werden sichern können.
aa) Die Klägerin zu 1 gibt an, dass sie lesen und schreiben kann, wobei ihre Angaben über die Dauer ihres Schulbesuchs variieren (zwei Jahre laut der Niederschrift der Anhörung beim Bundesamt, dort S. 3; fünf Jahre laut Angaben in der mündlichen Verhandlung). Gearbeitet hat sie nach eigenen Angaben nicht, sondern ist Hausfrau gewesen. Ihre Eltern, ihre Geschwister und die Großfamilie leben nach ihren Angaben in der Türkei. Zwar gibt die Klägerin zu 1 an, dass sie weder von ihren Eltern, noch ihrer Schwester oder ihrem Bruder Hilfe erwarte, weil diese sie weder unterstützen wollten noch könnten. Ungeachtet dessen geht das Gericht davon aus, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr auf familiäre Hilfe zurückgreifen und dort jedenfalls zu Beginn unterkommen können. Soweit die Klägerin zu 1 meint, dass ihre Familie schon vorher nicht willens gewesen sei, ihr zu helfen, bezog sich dies auf die Misshandlungen, die sie in ihrer Ehe erlitten hatte. Durch die Trennung und zu erwartenden Scheidung von ihrem Mann sowie dessen andauernde Inhaftierung in den weiteren Jahren haben sich die Verhältnisse insoweit jedoch geändert, sodass keine Anhaltspunkte bestehen für die Annahme, dass das Verhältnis der Kläger zu ihrer eigenen Familie zerrüttet ist. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass wie in vielen Fällen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, Stand 27. Januar 2021 – im Folgenden: BfA – S. 107) auch im Falle der Kläger die großfamiliären Strukturen die Grundversorgung sichert. Den Vortrag, dass die Eltern der Klägerin zu 1 sowie ihre Geschwister mittellos seien, vermag das Gericht zwar nicht zu widerlegen. Es bestehen jedoch Zweifel an dessen Richtigkeit insoweit, als die Klägerin zu 1 glauben machen möchte, dass sich vier Erwachsene von der Milchwirtschaft dreier Kühe ernähren und auch nicht erklärt wird, warum weder ihr Vater noch ihr Bruder arbeiten. Stellt sich die Sachlage jedoch so dar wie von der Klägerin geschildert, ist es ihr möglich und zumutbar, ihre Kinder in die Obhut ihrer Familie zu geben und ihrerseits einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das Gericht verkennt nicht die Schwierigkeiten des Zugangs zum Arbeitsmarkt für eine alleinstehende Frau, hält es aber für zumutbar und möglich, dass die Klägerin zu 1 eine Arbeitsstelle annimmt, bei der sie ungelernte Tätigkeiten verrichten kann, auch in Anbetracht der Tatsache, dass sie lesen und schreiben kann. Nach dem vom Klägervertreter vorgelegten Papier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 26. November 2015 (dort S. 6) lag im Jahr 2014 die Beschäftigungsquote geschiedener Frauen bei immerhin knapp 40%. Die Unterlage bietet – abgesehen von der Frage nach ihrer Aktualität – keinen Anhaltspunkt, im vorliegenden Fall zu einem anderen Urteil zu gelangen, weil das Gericht durchaus vom Bestehen eines sozialen Netzwerks zugunsten der Kläger ausgeht.
Ergänzend hierzu ist die staatliche Unterstützung in der Türkei in den Blick zu nehmen. In der Türkei existiert zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263 (Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität) gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. S. 25 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020 – im Folgenden: Lagebericht; BfA S. 108 f.; VG Aachen, U.v. 2.8.2019 – 6 K 2167/18.A – juris Rn. 59; VG Augsburg, U.v. 30.4.2019 – Au 6 K 17.33876 – juris Rn. 79; VG München, U.v. 22.2.2021 – M 1 K 17.41644 – Rn. 34; v. 22.2.2021 – M 1 K 17.41103 – Rn. 41, jeweils n.v.).
Ferner gibt es auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik 43 Sozialprogramme (2019) wie zum Beispiel Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet; Wohnprogramme; Einkommen für behinderte und altersschwache Menschen zwischen 567 und 854 TL je nach Grad der Behinderung. Zudem existiert eine Unterstützung in Höhe von 1544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern; Voraussetzung hierfür ist ein Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie der Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag (vgl. BfA, S. 108).
In Anbetracht dieser Auskunftslage ist das Gericht der Überzeugung, dass die Kläger jedenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr wirtschaftliches Existenzminimum ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK sichern können, auch unter Einbeziehung der Schwerbehinderung des Klägers zu 2.
bb) Soweit die Klägerin zu 1 vorträgt, dass sie Angst vor Bedrohung durch die Familie ihres Mannes habe, ist hieraus kein Abschiebungsverbot abzuleiten. Dies ist angesichts der ohne ihr Zutun erfolgten Inhaftierung des Mannes in Deutschland nicht nachvollziehbar, und die geäußerten Befürchtungen, auch vor den Folgen einer Ehescheidung, bleiben vage und unsubstantiiert. Nicht zuletzt hätte die Klägerin zu 1 gegebenenfalls auch die Möglichkeit, sich an die Polizei zu wenden und dort Hilfe zu suchen.
b) Es liegt auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
aa) Die von der Klägerin zu 1 vorgelegten Unterlagen sind für die Annahme eines Abschiebungsverbots bereits deshalb ungeeignet, weil sie angesichts ihres Erstellungszeitpunktes vor circa vier Jahren keine belastbare Aussage für die nach § 77 Abs. 1 Abs. 1 1. Halbsatz AsylG entscheidende aktuelle Situation treffen. Ferner erfüllen sie nicht die Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung in o.g. Sinne. Im Befundbericht vom *. August 2017 wird lediglich der Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), ferner eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert. Grundlage dessen ist u.a. die ärztliche Annahme, dass die Klägerin zu 1 in der Türkei von der Polizei gefoltert worden sei und sie mitansehen habe müssen, dass ihr Sohn von der Polizei misshandelt worden sei. Hiervon ist zwischenzeitlich nicht mehr auszugehen, weil dies die Klägerin zu 1 mittlerweile revidiert hat und angibt, die Gewalt, auch gegen die Kinder, sei von ihrem Ehemann ausgegangen. Insoweit ist der ärztlichen Beurteilung ihre tragende Grundlage entfallen. Durch die Trennung – bereits durch die Inhaftierung – und die nach Angaben der Klägerin zu 1 zu erwartenden Scheidung kann auch insoweit mit einer Änderung der Sachlage gerechnet werden. Der Arztbrief vom … August 2017 und die ärztlichen Atteste vom … August und *. Oktober 2017 genügen den o.g. Anforderungen auch deswegen nicht, weil schon die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist und die Methode der Tatsachenerhebung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, nicht oder nicht hinreichend enthalten sind. Auch die Stellungnahme des SOS-Kinderdorfs vom … Oktober 2020 durch die Dipl.-Psychologin und Psychol. Psychotherapeutin vermag kein Abschiebungsverbot zu begründen, allein schon deswegen, weil sie inhaltlich auf die innerhalb der Familie für wichtig erachtete Rolle des Bruders der Klägerin zu 1 abzielt und auch ansonsten die Kriterien von § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG nicht erfüllt.
Ferner wäre die Klägerin zu 1 auch im Hinblick auf die Behandlung psychischer Erkrankungen auf die zureichende Behandlung im türkischen Gesundheitssystem zu verweisen (vgl. hierzu BfA, S. 113).
bb) Ebensowenig ist im Hinblick auf die Erkrankungen des Klägers zu 2 von einem Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen auszugehen.
Die vorgelegten Unterlagen geben Aufschluss darüber, dass der Kläger zu 2 körperbehindert ist und insbesondere an einer spina bifida leidet. Er wird katheterisiert und hat ausweislich des aktuellsten ärztlichen Befundes vom 15. Februar 2021 medizinische Dysfunktionen u.a. im Bereich der Wirbelsäule, der Blase, der Harnröhre, der Nieren, der Vorhaut, der Bauchwand und der unteren Extremitäten. In der Vergangenheit sind einige Operationen erforderlich gewesen. Wenngleich es dem Gericht offenbar ist, dass der Kläger zu 2 auf erhebliche Unterstützung im persönlichen Umfeld wie auch von ärztlicher Seite angewiesen ist, ist gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG zu vermuten, dass einer Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Insbesondere ist nicht dargetan, dass sich die Erkrankungen durch die Abschiebung in die Türkei im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG wesentlich verschlechtern würden. Die medizinische Versorgung in der Türkei ist hinreichend; nicht erforderlich ist hingegen, dass sie der in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
In der Türkei sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet (vgl. Lagebericht, S. 25). Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde eine universelle Gesundheitsversicherung eingeführt. Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei (vgl. Lagebericht, S. 26). Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens. Überdies sind u.a. Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert – vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite – vor allem in ländlichen Provinzen – bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz, Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit (vgl. zum Vorstehenden: BfA, S. 112 f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu – SGK) anmelden. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (vgl. BfA, S. 113).
Es ist daher von einer Behandelbarkeit der Erkrankungen des Klägers zu 2 in der Türkei auszugehen und gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG zu vermuten, dass einer Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Dies gilt im übrigen auch unter dem Aspekt einer Verhaltensauffälligkeit des Klägers zu 2.
cc) Im Hinblick auf den Kläger zu 3 wurden Sprachentwicklungsstörungen, Trennungsängste und Verhaltensauffälligkeiten festgestellt, ferner, dass er nicht sauber ist. Hierbei ist schon nicht von einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG auszugehen, die sich im Falle der Abschiebung in die Türkei wesentlich verschlechtern würde.
dd) Ferner begründet die Covid-19-Pandemie nach aktuellem Stand kein Abschiebungsverbot für die Türkei. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Gefahr, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Die Kläger wären auch insoweit auf die medizinische Versorgung in der Türkei zu verweisen.
IV.
Soweit sich die Klage gegen die in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheides festgesetzte Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG richtet, ist die Klage zulässig und begründet.
Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids ist aufzuheben, weil sie rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt; ferner ist die Beklagte zu verpflichten, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Zwar haben die Kläger keinen ausdrücklichen Antrag auf Verpflichtung zu einer erneuten Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gestellt. Es ist jedoch vom uneingeschränkten Aufhebungsbegehren bezogen auf den streitigen Bescheid und somit auch von dessen Nr. 6 umfasst, sodass das Gericht sich veranlasst sieht, von Amts wegen auch die Befristungsentscheidung zu überprüfen.
2. Nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Dabei sind von der zuständigen Behörde unter anderem die im Hinblick auf Art. 6 GG, Art. 8 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685 – EMRK) schutzwürdigen familiären Belange des Ausländers sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 22). Für die gerichtliche Überprüfung ist dabei auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, sodass das Bundesamt auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit seiner Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung seiner Ermessenserwägungen trifft (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 11.10.2018 – 21 B 18.30691 – juris Rn. 22 f.). Die danach fortlaufend zu aktualisierende Ermessensentscheidung ist gerichtlich nur eingeschränkt daraufhin überprüfbar, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen in seiner Reichweite erkannt, ihre Erwägungen am Zweck der Ermessensermächtigung ausgerichtet und die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens nicht überschritten hat (§ 114 S. 1 VwGO).
Nach diesem Maßstab erweist sich die Ermessenentscheidung der Beklagten als fehlerhaft, weil sie die Umstände des Einzelfalls nicht vollständig einbezieht und die zum Zeitpunkt der Entscheidung vorhandenen persönlichen Bindungen der Kläger im Bundesgebiet nicht ausreichend berücksichtigt.
Die Beklagte hat – zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung in nicht zu beanstandender Weise – das Einreise- und Aufenthaltsverbot für alle Mitglieder der Familie einheitlich auf dreißig Monate festgesetzt. Der Ehemann der Klägerin zu 1 und der Vater der Kläger zu 2 und 3 ist nach rechtskräftiger Abweisung seines Asylbegehrens (M 1 K 17.33445) vollziehbar ausreisepflichtig, dabei ist auch die auf ihn bezogene dreißigmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbotsfrist rechtskräftig geworden. In Bezug auf die Kläger berücksichtigt das Festhalten an der dreißigmonatigen Frist jedoch den Umstand nicht, dass er in Deutschland inhaftiert ist. Ein persönlicher Kontakt, der nur über Besuche bei ihm im Gefängnis in Deutschland denkbar sind, wären innerhalb der dreißig Monate nicht möglich. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist die Ehe zwischen ihm und der Klägerin zu 1 noch nicht geschieden und genießt daher grundrechtlichen Schutz. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass (jedenfalls derzeit) kein Interesse der Klägerin zu 1 zu bestehen scheint, ihren Ehemann zu sehen. Schutzbedürftig ist grundsätzlich auch die Beziehung zwischen dem Vater und seinen Kindern. Im Hinblick auf die Kinder verkennt das Gericht nicht, dass ausweislich der vorgelegten sozialpädagogischen Stellungnahmen ein Kontakt der Kinder zum Vater als der Entwicklung und dem Gemütszustand hinderlich eingestuft wird. Doch es steht damit nicht hinreichend sicher fest, dass dies jeglichem Umgang der Kläger zu 2 und 3 mit ihrem Vater entgegenstünde. Aus diesen Gründen ist eine Neuentscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Einbeziehung der genannten Aspekte erforderlich.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 2 VwGO sowie auf § 155 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO. Gegenüber der Klage auf Feststellung von Abschiebungsverboten betrifft das Obsiegen der Kläger hinsichtlich der Neuentscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG nur einen untergeordneten Gegenstand, sodass die Kosten den Klägern ganz aufzuerlegen sind (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 155 Rn. 5 m.w.N.). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
VI.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.