Verwaltungsrecht

Kein zumutbarer interner Schutz wegen mangelnder Leistungsfähigkeit aufgrund schwerer Depression

Aktenzeichen  W 1 K 16.31028

Datum:
5.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 1, § 3e, § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1 Angehörige von Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bilden keine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2 Vom dem Kläger kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich außerhalb seiner Heimatregion andernorts in Afghanistan niederlässt, da er wegen einer schweren depressiven Episode nicht in der Lage sein wird, das zu seinem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche zu erlangen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennnen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juni 2016 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger und die Beklagte jeweils zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
II. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem der Kläger mit Schriftsatz vom 28. Juni 2017 und die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 dem zugestimmt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juni 2016 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit er diesem Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Hingegen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weshalb die Ablehnung derselben in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt. Die Ablehnung der Asylanerkennung (Ziffer 2) ist bereits unanfechtbar geworden.
I.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 6 Absatz 14 des Gesetzes vom 13. April 2017 (BGBl. I S. 872) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheitert bereits am Vorliegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG. Angehörige von Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bilden keine bestimmte soziale Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität hätte, da bereits völlig unklar ist, wie man den Begriff der Angehörigen bei den in Afghanistan häufig anzutreffenden Großfamilien und Clanstrukturen überhaupt fassen sollte. Zudem ist nicht ersichtlich, dass eine solche Gruppe von der sie umgebenden afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde. Es handelt sich letztlich nur um eine Berufsgruppe unter vielen und die Angehörigen von in dieser Berufsgruppe Tätigen. Darüber hinaus kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Taliban dem Kläger als Bruder von drei Soldaten, der sich selbst in keiner Weise am Kampf gegen die Taliban beteiligt hat, was den Taliban im Übrigen auch bewusst ist, eine abweichende politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG zuschreiben. Die Ziele der Taliban sind insoweit auch nicht eindeutig politischer Natur, sondern weisen eine diffuse Gemengelage aus politischen, religiösen und wirtschaftlich sozialen Motiven auf.
Der Kläger hat somit keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG, sodass die Klage im Hauptantrag nicht begründet ist.
II.
Dagegen hat der Kläger entsprechend seinem ersten Hilfsantrag einen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die zuletzt genannte Vorschrift der Umsetzung der QRL dient, ist dieser Begriff jedoch in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b QRL auszulegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt Art. 15b QRL wiederum in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK aus (z.B. EuGH, U.v. 17.2.2009 – Elgafaji, C-465/07 – juris Rn. 28; ebenso BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.). Danach ist eine unmenschliche Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden (EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – ZAR 2011, 395, Rn. 220 m.w.N.; Jarass, Charta der Grundrechte, Art. 4 Rn. 9; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylVfG Rn. 22 ff.), die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (EGMR, U.v. 11.7.2006 – Jalloh, 54810/00 – NJW 2006, 3117/3119 Rn. 67; Jarass a.a.O.; Hailbronner a.a.O.). Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylVfG Rn. 22 ff.). Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in der Bestrafungsmethode enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, wie z.B. bei bestimmten Strafarten wie Prügelstrafe oder besonders harten Haftbedingungen (Hailbronner, a.a.O., Rn. 24, 25).
1. Der Kläger hat vorliegend substantiiert, lebensnah und ohne Übertreibungen geschildert, dass er etwa 20 Tage vor seiner Ausreise aus Afghanistan abends von vier bewaffneten Talibanmitgliedern bei seinem Geschäft aufgesucht und von diesen zusammengeschlagen worden sei, so dass er im Krankenhaus habe behandelt werden müssen. Hintergrund sei gewesen, dass drei seiner Brüder bei den afghanischen Sicherheitskräften arbeiteten. Die Taliban hätten gewollt, dass die Brüder aufhörten, für die Streitkräfte zu arbeiten; wenn dies nicht geschehe, würde die Familie umgebracht. Der Kläger hat dieses Vorbringen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend und widerspruchsfrei vorgetragen; er hat zudem trotz fehlender Schulbildung auf alle Nachfragen stets ohne Zögern nachvollziehbare und authentische Antworten geben können. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung erstmals angegeben hat, dass seine Brüder nunmehr den Militärdienst verlassen hätten und geflohen seien, so erscheint es glaubhaft, dass ihm dies erst bekannt geworden sei, als er sich bereits in Deutschland aufgehalten habe, wie er auf Nachfrage des Gerichts angegeben hat – dies offensichtlich nach seiner Anhörung vor dem Bundesamt. Nachvollziehbar erscheint dies insbesondere auch deshalb, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung weiterhin erklärt hat, dass die Taliban immer wieder bei seinem Vater vorstellig geworden seien, nach den Söhnen gefragt und ihm gedroht hätten. Die Brüder hätten dann aufgrund dieser ständigen Bedrohungssituation Angst bekommen und hätten den Militärdienst aufgegeben, während seine Eltern mit dem kleinen Bruder in die Provinzhauptstadt Jalalabad umgezogen seien und dort nun versteckt lebten. Der Kläger hat überdies in der mündlichen Verhandlung auf den erkennenden Einzelrichter einen persönlich glaubwürdigen Eindruck gemacht, so dass das Gericht die Überzeugung gewonnen hat, dass der Kläger tatsächlich von ihm selbst in Afghanistan widerfahrenen Erlebnissen berichtet.
Die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvortrages ergibt sich über die nachvollziehbaren und – unter Berücksichtigung der fehlenden formalen Bildung des Klägers – substantiierten Ausführungen hinaus auch aus den dem Gericht vorgelegten zahlreichen Unterlagen betreffend die Tätigkeit von Brüdern des Klägers beim afghanischen Militär bzw. Polizeieinheiten. Es handelt sich dabei nach Überzeugung des Gerichts um echte Nachweise. Hieraus ergeben sich unter anderem die Teilnahme zumindest zweier seiner Brüder an Trainingsprogrammen der afghanischen Grenzpolizei, welche zudem in Kooperation mit den amerikanischen Streitkräften durchgeführt wurden, einem Kampfausbildungs- und Schießtraining bei der Anti-Drogen-Polizei, die Beteiligung an Spezialeinsätzen von Einsatzkräften im Rahmen der Operation Enduring Freedom, die Teilnahme an einem Trainingsprogramm der Afghan National Police, einem Kommandokurs sowie einem Kurs für die berufliche Ausbildung von Soldaten. Ist durch den Vortrag des Klägers, bekräftigt durch die vorbenannten Unterlagen, für das Gericht nachgewiesen, dass Brüder des Klägers bei den afghanischen Sicherheitskräften arbeiteten, so deckt sich eine hieraus ergebende Gefährdung des Klägers auch mit der aktuellen Erkenntnismittellage. Denn es ist insbesondere den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 zu entnehmen, dass regierungsfeindliche Kräfte Familienangehörige von Personen, welche für den afghanischen Staat arbeiten, als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen hätten. Insbesondere seien Verwandte von Regierungsmitarbeitern und Mitgliedern der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen geworden (vgl. dort S. 47). Ein solcher Fall liegt unter Berücksichtigung obiger Ausführungen nach der Überzeugung des Gerichts hier vor, wobei vorliegend zusätzlich ins Gewicht fällt, dass sich hier sogar drei Angehörige durch ihren aktiven Kampf gegen die Taliban weit gegenüber diesen exponiert haben, was wiederum auch die Gefahr für die anderen Angehörigen erhöht.
Aufgrund des glaubhaft geschilderten schweren körperlichen Angriffs gegenüber dem Kläger sowie der ausgesprochenen Todesdrohung ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist; die körperlichen Misshandlungen sowie die Androhung der Tötung stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG dar. Von einer Vorverfolgung geht im Übrigen auch die Beklagte im angegriffenen Bescheid vom 29. Juni 2016 selbst aus (vgl. S. 2 des Bescheides vorletzter Absatz). Es sind darüber hinaus keine stichhaltigen Gründe i.S.d. § 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ersichtlich, die dagegen sprechen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in sein Heimatland erneut von den Taliban bedroht würde. Insbesondere ergibt sich ein solcher Grund nicht aus dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung genannten Umstand, dass die Brüder mittlerweile aus Angst den Militärdienst verlassen hätten. Zwar entsprach dies der unmittelbaren Forderung der Taliban. Jedoch hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar erklärt, dass die Taliban immer wieder zu seinem Vater gekommen seien und nach dem Verbleib der Söhne gefragt und diesen bedroht hätten. Dies legt es nahe, dass die Taliban weiterhin ein Interesse daran haben, der Brüder habhaft zu werden, um diese für ihre Tätigkeit für den afghanischen Staat zu bestrafen. Die Brüder seien – so der Kläger – jedoch geflohen; zwei von ihnen hielten sich in Indien auf und über den Verbleib des weiteren Bruders wisse die Familie aktuell nichts. Wenn die Brüder angesichts dieser Sachlage also für die Taliban nicht erreichbar sind, so erscheint es realistisch, dass diese sich auch nach dem Verlassen des Militärdienstes durch die Brüder im Falle einer Rückkehr des Klägers in seine Heimatregion an diesem rächen würden. Auf Schutz vor Verfolgung nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. Oktober 2016, S. 5, 17).
2. Ebenso kann der Kläger auch nicht auf internen Schutz nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen.
Das Gericht geht – unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – davon aus, dass der aus der Provinz Nangarhar stammende Kläger im vorliegenden Fall weder in der afghanischen Hauptstadt Kabul noch andernorts in Afghanistan internen Schutz erlangen kann. Hierbei kann dahinstehen, ob der Kläger in einer anderen Region seines Heimatlandes keine begründete Furcht vor Verfolgung haben müsste oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hätte, da von ihm zumindest vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass er sich andernorts niederlässt.
Erforderlich wäre hierfür, dass am Ort des internen Schutzes die entsprechende Person durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt erforderliche erlangen kann. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zweiweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Bausektor ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind hingegen jedenfalls die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht. Der Zumutbarkeitsmaßstab geht im Rahmen des internen Schutzes über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 6.62016 – 13 A 18182/15.A – juris).
Die diesbezügliche aktuelle Lage in Afghanistan und in der Hauptstadt Kabul stellen sich wie folgt dar:
Das Auswärtige Amt führt in seinem Lagebericht vom 19. Oktober 2016 (a.a.O. S. 21 ff.) aus, dass Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt sei und trotz Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, erheblicher Anstrengungen der Regierung und kontinuierlicher Fortschritte im Jahr 2015 lediglich Rang 171 von 187 im Human Development Index belegt habe. Die afghanische Wirtschaft ringe in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 nicht nur mit der schwierigen Sicherheitslage, sondern auch mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90%. So seien ausländische Investitionen in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits um 30% zurückgegangen, zumal sich die Rahmenbedingungen für Investoren in den vergangenen Jahren kaum verbessert hätten. Die wirtschaftliche Entwicklung bleibe durch die schwache Investitionstätigkeit geprägt. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum scheine kurzfristig nicht in Sicht. Rund 36% der Bevölkerung lebe unterhalb der Armutsgrenze. Die Grundversorgung sei für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, was für Rückkehrer naturgemäß verstärkt gelte. Dabei bestehe ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren wie z.B. Kabul und ländlichen Gebieten Afghanistans. Das rapide Bevölkerungswachstum stelle eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen den Jahren 2012 und 2015 werde das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4% pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkomme. Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibe eine zentrale Herausforderung. Nach Angaben des afghanischen Statistikamtes sei die Arbeitslosenquote im Oktober 2015 auf 40% gestiegen. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die afghanische Regierung maßgeblich in ihren Bemühungen, die Lebensbedingungen der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Aufgrund kultureller Bedingungen seien die Aufnahme und die Chancen außerhalb des eigenen Familien- bzw. Stammesverbandes vor allem in größeren Städten realistisch.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage vom 30. September 2016, Seite 24 ff.) führt aus, Afghanistan bleibe weiterhin eines der ärmsten Länder weltweit. Die bereits sehr hohe Arbeitslosenrate sei seit dem Abzug der internationalen Streitkräfte Ende 2014 wegen des damit zusammenhängenden Nachfrageschwundes rasant angestiegen, das Wirtschaftswachstum betrage nur 1,5%. Die Analphabetenrate sei noch immer hoch und der Pool an Fachkräften bescheiden. Die Landwirtschaft beschäftige bis zu 80% der Bevölkerung, erziele jedoch nur etwa 25% des Bruttoinlandprodukts. Vor allem in Kabul gehöre wegen des dortigen großen Bevölkerungswachstums die Wohnraumknappheit zu den gravierendsten sozialen Problemen. Auch die Beschäftigungsmöglichkeiten hätten sich dort rapide verschlechtert. Nur 46% der afghanischen Bevölkerung verfüge über Zugang zu sauberem Trinkwasser und lediglich 7,5% zu einer adäquaten Abwasserentsorgung. Unter Verweis auf den UNHCR sähen sich Rückkehrende beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Geschätzte 40% seien verletzlich und verfügten nur über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwere die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr. Gemäß UNHCR verließen viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut. Sie wichen dann in die Städte aus, insbesondere nach Kabul.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs sowie weiterer Oberverwaltungsgerichte, der sich das erkennende Gericht anschließt, ergibt sich aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan derzeit nicht, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Der Betroffene wäre selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (st.Rspr., z.B. BayVGH, B.v. 6.4.2017 – 13a ZB 17.30254 – juris; BayVGH, B.v. 23.1.2017 – 13a ZB 17.30044 – juris; B.v. 27.7.2016 – 13a ZB 16.30051 – juris; B.v. 15.6.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris; U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 17 m.w.N..; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; OVG NW, U.v. 3.3.2016 – 13 A 1828/09.A – juris Rn. 73 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 21.10.2015 – 1 A 144/15.A – juris; NdsOVG, U.v. 20.7.2015 – 9 LB 320/14 – juris).
Diese Rechtsprechung deckt sich auch mit der Auffassung des UNHCR – auf den die Schweizerische Flüchtlingshilfe hinsichtlich der Situation der Rückkehrenden Bezug nimmt -, wonach bei alleinstehenden leistungsfähigen Männern eine Ausnahme vom Erfordernis der externen Unterstützung in Betracht kommt (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016, S. 9). An dieser Einschätzung des Gerichts ändert sich auch durch die Anmerkungen des UNHCR zur Situation in Afghanistan vom Dezember 2016 grundsätzlich nichts. Der UNHCR weist in seiner Stellungnahme jedoch darauf hin, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe, was damit einher gehe, dass sich der Konflikt in Afghanistan im Laufe des Jahres 2016 weiter ausgebreitet habe und die Zahl der zivilen Opfer im ersten Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere 4% gestiegen sei. Die Zahl der intern Vertriebenen habe im Jahr 2016 auf Rekordniveau gelegen; zudem sei auch aus den Nachbarländern Pakistan und Iran eine große Zahl von Menschen nach Afghanistan zurückgekehrt, was zu einer extremen Belastung der ohnehin bereits überstrapazierten Aufnahmekapazitäten in den wichtigsten Städten der Provinzen und Distrikte in Afghanistan geführt habe. Dies gelte auch für die Stadt Kabul, wo nur begrenzte Möglichkeiten der Existenzsicherung, eine extrem angespannte Wohnraumsituation sowie mangelnder Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen bestehe, sodass die Verfügbarkeit einer internen Schutzalternative im Umfeld eines dramatisch verschärften Wettbewerbs um den Zugang zu knappen Ressourcen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände jedes einzelnen Antragstellers geprüft werden müsse.
Vorstehende Ausführungen zugrunde gelegt kann von dem Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich außerhalb seiner Heimatregion andernorts in Afghanistan niederlässt, da er nicht in der Lage sein wird, das zu seinem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche zu erlangen. Entscheidend ins Gewicht fällt hierbei, dass es sich bei dem Kläger nicht um einen gesunden und im erforderlichen Umfang arbeitsfähigen Mann handelt, wie sich für das Gericht insbesondere aus den im Verfahren eingeholten fachärztlichen Stellungnahmen des Arztes für Neurologie und Psychiatrie, Herrn …, insbesondere vom 29. Mai 2017 sowie 22. Juni 2017 ergibt. Danach leidet der Kläger vor dem Hintergrund des erhobenen psychopathologischen Befundes an einer schweren depressiven Episode, ICD 10: F32.2, die mit einer hochgradigen Schlafstörung, erheblichen Konzentrationsschwierigkeiten und psychomotorischer Unruhe einhergehe; der Kläger komme innerlich kaum noch zur Ruhe. Der Kläger bedürfe einer antidepressiv-medikamentösen Behandlung. Diese müsse in der Regel längerfristig durchgeführt werden; zum jetzigen Zeitpunkt handele es sich um eine medikamentöse Akuttherapie, die noch nicht ausdosiert sei und keine ausreichende Rückbildung der derzeitigen depressiven Episode gezeigt habe; der Kläger bedürfe einer konsequenten Akutbehandlung. Die Erkrankung des Klägers bewirke eine hochgradige psychische und körperliche Leistungsminderung. Auch könne im Rahmen einer schweren depressiven Episode ohne entsprechende Behandlung eine Suizidalität nicht ausgeschlossen werden, sodass bei nicht erfolgreich behandelten Patienten immer die Gefahr einer Selbstgefährdung bestehe. Das Gericht hat vorliegend keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieser fachärztlichen Darlegungen; es sieht diese auch dadurch bestätigt, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf den erkennenden Einzelrichter einen schwerwiegend und ernsthaft belasteten Eindruck gemacht hat, welcher nach Überzeugung des Gerichts auch nicht asyltaktischen Erwägungen geschuldet war. Die mündliche Verhandlung musste dann auch kurzzeitig wegen entsprechender gesundheitlicher Probleme des Klägers unterbrochen werden. Auch hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung das Antidepressivum Doxepin vorgelegt, welches er regelmäßig einnehme. Auch wenn der Kläger jüngst in einem Restaurant gearbeitet hat, so ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger unter den Bedingungen des afghanischen Arbeitsmarktes nicht in der Lage sein wird, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Insofern wird sich die fachärztlicherseits bescheinigte durch die Erkrankung hervorgerufene hochgradige psychische und körperliche Leistungsminderung auf seine Arbeitsfähigkeit in Afghanistan signifikant negativ auswirken. Dies wirkt dort besonders schwer, da es dem Kläger angesichts des enormen Drucks auf den – zudem von hoher Arbeitslosigkeit geprägten – Arbeitsmarkt durch eine große und wachsende Zahl von uneingeschränkt leistungsfähigen jungen Männern voraussichtlich nicht gelingen wird, in dem harten Wettbewerb um häufig anstrengende körperliche Arbeiten gegen diese Personen zu bestehen. Hinzukommt vorliegend, dass der Kläger Analphabet ist und keinen Beruf erlernt hat, was seine Erwerbschancen weiter verringert. Desweiteren müsste der Kläger über den allgemein üblichen Lebensunterhalt hinaus noch finanzielle Mittel für das fachärztlicherseits für erforderlich gehaltene Antidepressivum (akutell Doxepin) erwirtschaften, was die wirtschaftliche Situation des Klägers noch aussichtsloser erscheinen lässt. Zwar hat gemäß afghanischer Verfassung jeder Bürger ein Anrecht auf eine freie medizinische Versorgung durch die vorhandenen staatlichen Einrichtungen, jedoch halten Krankenhausapotheken oftmals nur eine sehr limitierte Auswahl und Anzahl an Medikamenten kostenfrei vor. Aus diesem Grund muss in der täglichen Praxis oftmals der behandelnde Krankenhausarzt ein Rezept ausstellen, das in privaten Apotheken kostenpflichtig eingelöst werden muss (vgl. Auskunft der deutschen Botschaft in Kabul vom 29.4.2009; Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung vom 5. 4.2017. S. 5, 10). Darüber hinaus wird der Kläger auch nicht auf finanzielle Unterstützung durch seine Familie zurückgreifen können. Zwar hat sein Vater ihn bei der Finanzierung der Fluchtkosten unterstützt, indem er Kühe aus seiner Landwirtschaft sowie die Ernte des Jahres verkauft habe. Nachdem der Vater nunmehr jedoch in der Stadt lebt, kann er die ehemalige Landwirtschaft nicht mehr betreiben. Der Kläger hat insoweit angegeben, dass er nicht wisse, was der Vater derzeit beruflich in Jalalabad mache; die Lage sei nun schlecht. Dies erscheint aufgrund des durch die geschilderten Rahmenbedingungen erzwungenen Umzugs der Eltern auch nachvollziehbar. Jedenfalls ist nichts dafür ersichtlich, dass der Vater den Kläger weiterhin finanziell unterstützen könnte. Dies gilt auch für im Heimatland verbliebene weitere Verwandte, zumal der Kläger zu diesen keinen Kontakt hat und er nicht weiß, wo diese derzeit wohnen. Ob die nachgewiesene Erkrankung des Klägers bereits die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt, kann vorliegend dahinstehen, da der Kläger aufgrund der diesbezüglichen Auswirkungen im vorliegenden Einzelfall aufgrund einer Gesamtschau jedenfalls nicht in der Lage sein würde, einen im Rahmen des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG ausreichenden Lebensunterhalt selbst zu erwirtschaften oder von dritter Seite zu erhalten.
Nach alledem hat die Klage hinsichtlich des gestellten Hilfsantrages auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes Erfolg. Das Gericht geht hinsichtlich der Kostenaufteilung nach § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon aus, dass der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit 1/2 und der Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes und auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote mit je 1/4 zu gewichten sind. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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