Aktenzeichen B 4 K 19.31397
AsylG § 71a
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
AsylG § 13 Abs. 1
AsylG § 31 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz
Eine Änderung der Sachlage i.S.d. § 71a AsylG, § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG muss sich auf Umstände, die den Asylantrag i.S.d. § 13 Abs. 1 AsylG betreffen, beziehen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
I. Nr. 1 des Bescheides der Beklagten vom 01.10.2019 ist nicht aufzuheben, da die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes – AsylG) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Der Asylantrag des Klägers ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG unzulässig, da der Kläger keinen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71a AsylG hat.
Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur dann durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes – VwVfG – vorliegen (§ 71a Abs. 1 AsylG).
Die Italienische Republik ist als Mitgliedsstaat der Europäischen Union ein solcher Staat (vgl. § 26a Abs. 2 AsylG). Das Asylverfahren des Klägers in Italien ist nach Antwort der italienischen Behörden vom 06.08.2019 auf das Informationsersuchen der Beklagten auch erfolglos abgeschlossen. Erfolglos abgeschlossen ist ein Asylverfahren, wenn dem Ausländer nach einem Asylverfahren mit vollständiger Prüfung des internationalen Schutzes internationaler Schutz nicht zuerkannt wurde. Nicht erfolglos abgeschlossen ist ein Asylverfahren, wenn nur subsidiärer Schutz zuerkannt wurde oder wenn das im Drittstaat betriebene und ohne Sachentscheidung eingestellte Asylverfahren nach dessen Rechtsordnung in der Weise wieder aufgenommen werden kann, dass dort eine volle sachliche Prüfung des Antrages stattfindet (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG, § 71a Rn. 3). Der Asylantrag des Klägers in Italien wurde am 06.04.2016 abgelehnt. Der vom Kläger hiergegen erhobene Rechtsbehelf wurde am 17.07.2018 abgelehnt, womit das Asylverfahren in Italien abgeschlossen ist.
Die Bundesrepublik Deutschland ist auch für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Dublin III-VO -, da das Selbsteintrittsrecht ausgeübt wurde, indem die Beklagte nach erfolglosem Wiederaufnahmegesuch an Italien und erfolgloser Remonstration gegen die Entscheidung der italienischen Behörden entschieden hat, eine Entscheidung im nationalen Verfahren zu treffen.
Allerdings liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vor.
1. Es fehlt bereits ein Grund für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG i.V. m. § 51 Abs. 1 VwVfG. Die dem Asylverfahren des Klägers in Italien aufgrund des Asylantrags vom 16.11.2015 zugrunde gelegte Sachlage hat sich nicht im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nachträglich zugunsten des Klägers geändert.
Eine Änderung der Sachlage ist anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint (Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 21; vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – BVerwGE 133, 31 Rn. 10).
Eine solche Änderung der Sachlage muss sich dabei auf Umstände beziehen, die den Asylantrag des Klägers im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG betreffen, also den Antrag auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 des Grundgesetzes – GG -, den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG oder den Antrag auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz nach § 4 AsylG. Denn nur auf den Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG bezieht sich die Prüfung, ob ein weiteres Asylverfahren nach § 71a Abs. 1 AsylG i.V. m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG durchzuführen ist. Umstände, die lediglich eine günstigere Entscheidung in Bezug auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG möglich erscheinen lassen, führen hingegen nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Denn die Feststellung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG vorliegen, ist nach § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG auch im Falle eines unzulässigen Asylantrags, wenn also kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 VwVfG erforderlich (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – BVerwGE 157, 18 Rn. 20; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 31 AsylG Rn. 3).
Gemessen hieran ist eine Änderung der dem Asylverfahren des Klägers in Italien aufgrund seines Asylantrags vom 16.11.2015 zugrunde gelegten Sachlage nicht gegeben. Denn die Angaben des Klägers zu Vorgängen vor seiner Ausreise aus Nigeria beziehen sich auf die Zeit vor der Antragstellung dort sowie vor der letzten Entscheidung über den Asylantrag des Klägers in Italien am 17.07.2018. Der Umstand, dass der Kläger seit …2019 Vater eines neugeborenen Kindes ist, ist zwar nach Abschluss seines Asylverfahrens in Italien eingetreten, begründet aber ebenfalls keine Änderung der Sachlage in Bezug auf den Asylantrag des Klägers im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG, da dieser Umstand keine für den Kläger günstigere Entscheidung möglich erscheinen lässt, da hieraus keine Gefahr einer Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens durch einen Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3, § 3c AsylG droht.
2. Nachdem bereits ein Grund für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG i.V. m. § 51 Abs. 1 VwVfG fehlt, kommt es auf eine mögliche Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 51 Abs. 2 VwVfG oder eine Verfristung des Antrags nach § 51 Abs. 3 VwVfG bezüglich der geltend gemachten Gründe nicht an.
Demnach ist ein weiteres Asylverfahren nach § 71a Abs. 1 AsylG nicht durchzuführen und die Ablehnung des Zweitantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
II. Nr. 2 des Bescheides der Beklagten vom 01.10.2019 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 AsylG) hat der Kläger weder einen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben ist, noch einen Anspruch auf Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG gegeben ist. Insoweit wird zunächst auf die zutreffenden Feststellungen und die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für den Kläger bezüglich einer Abschiebung in die Bundesrepublik Nigeria besteht nicht. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Durch diesen allgemeinen Verweis auf die EMRK sind die Normen der EMRK unmittelbar anwendbar. Bei der Prüfung der Voraussetzungen ist auf den gesamten Abschiebezielstaat abzustellen.
Vorliegend ist im Wesentlichen Art. 3 EMRK zu prüfen. Gemäß Art. 3 EMRK darf Niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Eine dem widersprechende Behandlung im Zielstaat kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung aus beiden ergeben (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146,12 Rn. 25). Im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es jedenfalls in Abgrenzung zu § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG – der wegen seiner Formulierung „Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ ebenfalls auf den Geltungsbereich von Art. 3 EMRK abzielt und nach § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG, der die §§ 3c bis 3e AsylG für entsprechend anwendbar erklärt, einen Akteur voraussetzt – keines Akteurs im Sinne von § 3c AsylG; auch wenn die Begriffe „Folter“, „Behandlung“ oder „Strafe“ einen Akteur regelmäßig voraussetzen.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – EGMR – kann die Behandlung auch durch Umstände im Empfangsstaat hervorgerufen werden, die weder unmittelbar noch mittelbar die Verantwortung der staatlichen Behörden dieses Staates auslösen (EGMR, U.v. 2.5.1997 – Nr. 146/1996/767/964 – NVwZ 1998, 161 Rn. 49; BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 Rn. 25). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Zielstaat nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene dort wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe zwingend sind (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 278; vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 Rn. 25; BayVGH, U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153 – juris Rn. 21; U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 19; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 -juris Rn. 16 f.).
Solche zwingenden humanitären Gründe können sich aus der allgemeinen wirtschaftlichen Lage, der Versorgungslage betreffend Nahrung, Hygiene, Unterkunft und Gesundheitsversorgung ergeben (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146,12 Rn. 25; U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 12). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere aufweisen (EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Nr. 41738/10 – juris Rn. 174); es kann erreicht sein, wenn er seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 12; B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 11).
Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt zu Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GRCh -, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie Art. 3 EMRK, darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 f.; U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f.; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 12 f.).
Dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei schlechten humanitären Verhältnissen auch nach Auffassung des EGMR nur in ganz außergewöhnlichen Fällen gegeben sein kann (s. o.), hebt den Ausnahmecharakter eines derartigen Abschiebungsverbots hervor (Haderlein in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 2016, A. Das materielle Asylrecht Rn. 119).
Auch wenn keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG erforderlich ist (BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13), müssen bei der Prüfung, ob eine entsprechende Gefahr i. S. d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V. m. Art. 3 EMRK vorliegt, notwendig strenge Maßstäbe angelegt werden (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 214; U.v. 15.11.1996 – Nr. 70/1995/576/662 – NVwZ 1997, 1093 Rn. 96; EGMR (GK), U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330 Rn. 128). Erforderlich ist, dass die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung bzw. der zwingenden humanitären Gründe besteht. Dabei ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377 Rn. 22). Grundsätzlich muss der Asylbewerber ernsthafte Gründe für die Annahme darlegen, dass er im Fall der Durchführung einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 214). Hierbei ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles anzustellen (vgl. EGMR, U.v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 213).
Für die Prognose der bei Rückkehr nach Nigeria drohenden Gefahren ist von einer Rückkehr des Klägers gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter auszugehen. Denn für die Prognose der bei Rückkehr in das Herkunftsland drohenden Gefahren ist in Bezug auf die einzubeziehenden Personen zu berücksichtigen, unter welchen Voraussetzungen es überhaupt zu einer Rückkehr kommen kann und wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz eines bestehenden Kernfamilienverbandes nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK wirkt auf diese Rückkehrkonstellation ein und lässt eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zu, da Art. 6 GG und Art. 8 EMRK einer Trennung einer in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie entgegenstehen und es daher zur Rückkehr nur im Familienverband kommen wird (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 21). Dass der Kläger sich derzeit nicht bei seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter aufhält und auch zur mündlichen Verhandlung persönlich nicht erschienen ist, steht dem nicht entgegen. Eine in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie ist weiter gegeben, da der Kläger nach Angabe seiner Lebensgefährtin in der mündlichen Verhandlung den gemeinsamen Wohnort lediglich verlassen hat, um einer Rückkehr nach Nigeria zu entgehen. So gibt die Lebensgefährtin des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, der Kläger habe ihr mitgeteilt, er habe einen Brief bekommen, dass er in sein Land zurücksolle, deshalb sei er nicht mehr zu ihr gekommen. Er habe sie mit unterdrückter Rufnummer angerufen, wenn er sie kontaktiert habe.
Gemessen an diesen Maßstäben ergibt sich aus der EMRK, insbesondere aus Art. 3 EMRK, nicht, dass eine Abschiebung des Klägers in die Bundesrepublik Nigeria unzulässig ist. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 AsylG) lassen die Erkenntnisse nicht den allgemeinen Schluss zu, in Nigeria stünde jedem Bewohner oder Rückkehrer – insbesondere aufgrund der infolge der Auswirkungen der Corona-Pandemie zugespitzten wirtschaftlichen und humanitären Situation – vor Ort unabhängig von eigenem Zutun unausweichlich eine Situation extremer materieller Not oder ein Zustand der Verelendung bevor.
Nigeria verfügt über die größte Volkswirtschaft Afrikas, ist größter Ölproduzent des Kontinents und zählt mit einem pro-Kopf-Einkommen von 2.230 USD (2019, Worldbank, Data, GDP per capita, https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD, Abruf am 07.04.2021) zur Gruppe der Länder mit mittlerem Einkommen / untere Einkommenskategorie. Die nigerianische Wirtschaft wies im letzten Quartal 2019 ein Wachstum von 2,6% auf. Das Bruttoinlandsprodukt expandierte damit erstmals seit den Rezessionsjahren 2016/17 auf Höhe des Bevölkerungswachstums. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23%, bei Menschen bis 35 Jahren jedoch bei 35%. Die Einkommen in Nigeria sind höchst ungleich verteilt. Die extreme Armut (weniger als 1,90 USD/Tag) ist in der Bevölkerung sehr hoch (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 05.12.2020, S. 23; vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, 23.11.2020, S. 69 ff.). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, 23.11.2020, S. 69).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als „self-employed“ suchen. Beschäftigungslose Angehörige werden in der Regel von der Großfamilie unterstützt. Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Wirtschaftssektor getragen. Auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, gelangt in keine lebensbedrohliche Situation. Sie kann ihre existentiellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, 23.11.2020, S. 71).
Aus dieser Lage und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ergibt sich nicht, dass der Kläger bei einer Rückkehr gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter einer Situation ausgesetzt wäre, bei der zwingende humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen würden. In der Gesamtschau ist nach Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter bei einer Rückkehr nach Nigeria in extreme materielle Not oder einen Zustand der Verelendung gerät. Der Einzelrichter geht vielmehr davon aus, dass der Kläger zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter nach Nigeria zurückkehren kann und dort den gemeinsamen Lebensunterhalt sichern können wird. Der Kläger hat in Nigeria zumindest die Grundschule besucht. Zwar hat er dort nicht gearbeitet, dass er aber arbeitsfähig und in der Lage ist, mehr als nur seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften, zeigt sich daran, dass der Kläger in Libyen, wo er sich ein Jahr und einige Monate aufgehalten habe, als eine Art Dachdecker und als Maler und Lackierer gearbeitet hat, was nicht nur zur Sicherung seines Lebensunterhaltes, sondern auch zur Finanzierung seiner Weiterreise genügte.
Soweit der Kläger den Lebensunterhalt der Familie nicht sofort sichern kann, kann er auf Hilfe durch seine in Nigeria lebende Mutter zurückgreifen. Dass er den Kontakt zu seiner Mutter verloren habe und dass er nicht wisse, ob sie noch lebe, ist nicht glaubhaft. Denn die diesbezüglichen Äußerungen des Klägers stehen in Widerspruch zu der Angabe seiner Lebensgefährtin im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt am 23.05.2019 (Bl. 67 der Akte des Bundesamtes zum Az. …*). So gab seine Lebensgefährtin auf Frage, ob sie wisse, ob ihr Freund Familie in Nigeria habe, an, er habe eine Mutter in Nigeria, sie telefonierten oft mit ihr.
2. Es besteht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für den Kläger bezüglich einer Abschiebung in die Bundesrepublik Nigeria. Nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebungsstopp nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG erhalten, da nach § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
Anhaltspunkte für das Vorliegen einer (individuellen) Gefahr im Sinne dieser Vorschrift in Bezug auf den Kläger wurden weder vorgetragen noch sind sie sonst ersichtlich.
III. Die auf Grundlage von § 34 Abs. 1 AsylG i.V. m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung mit Ausreisefrist von einer Woche nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V. m. § 36 Abs. 1 AsylG sowie das nach § 75 Nr. 12 AufenthG, § 11 Abs. 1, 3 AufenthG angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie dessen Befristung begegnen im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 AsylG) keinen rechtlichen Bedenken (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V. m. § 708 Nr. 11 der Zivilprozessordnung – ZPO.