Aktenzeichen 10 B 18.2464
ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1
StGB § 68f
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8 Abs. 1
VwGO § 42 Abs. 1, § 108 Abs. 1, § 113 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
1. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (Rn. 34). (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (Rn. 34). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 25 K 16.1374 2018-03-14 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 14. März 2018 und der Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2016 (in der in der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2019 geänderten Fassung) werden aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung der Kläger ist begründet. Im für die Beurteilung der Ausweisung und Abschiebungsandrohung sowie der hilfsweise angegriffenen Befristungsregelung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. zuletzt BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 22 m.w.N.; BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 16) erweisen sich die Ausweisung und demgemäß auch die weiteren Verfügungen der Beklagten als rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Daher sind das erstinstanzliche Urteil und der streitbefangene Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2016 in seiner in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juli 2019 geänderten Fassung aufzuheben.
Die im Bescheid der Beklagten vom 24. Februar 2016 verfügte Ausweisung des Klägers ist gemessen an der Rechtsgrundlage des § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG rechtswidrig. Zwar sind die erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen dieser mit Assoziationsrecht vereinbaren Rechtsgrundlage (stRspr, BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 60 ff.; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28) insoweit erfüllt, als das persönliche Verhalten des assoziationsberechtigten (1.) Klägers auch gegenwärtig noch eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (2.). Seine Ausweisung ist jedoch für die Wahrung des in § 53 Abs. 3 AufenthG normierten Ausweisungsinteresses nicht (mehr) unerlässlich, weil die dem öffentlichen Ausweisungsinteresse (3.1.) gegenüberstehenden gewichtigen Bleibeinteressen des Klägers (3.2.) unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und vor allem mit Blick auf die nach dem Verhalten des Klägers seit der Anlasstat inzwischen geminderte Gefährdung des Schutzgutes letztlich überwiegen (3.).
1. Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers zu Recht an dem gegenüber dem Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erhöhten Ausweisungsvoraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen, weil dieser als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu den nach dieser Bestimmung privilegierten Personengruppen gehört. Dem Kläger steht – auch aktuell – ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (ARB 1/80) zu. Ungeachtet eines vom Verwaltungsgericht ohne nähere Prüfung angenommenen Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 hat der dem regulären Arbeitsmarkt in Deutschland angehörende Kläger aufgrund seiner langjährigen beruflichen Tätigkeiten zuletzt als Bademeister bei der Stadt München – zwischen den Beteiligten unstreitig – ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Diese Rechtsstellung ist durch die zweieinhalbjährige Haft des Klägers ab August 2015 nicht erloschen, weil der Kläger alsbald nach Haftende wieder ein Beschäftigungsverhältnis im Gewerbebetrieb seines Bruders gefunden hat und damit nur eine zeitlich begrenzte Zeit vom Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland abwesend war (vgl. EuGH, U.v. 7.7.2005 – C-383/03, Dogan – juris Rn. 18 ff.).
2. Der Senat hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere auch den in der mündlichen Verhandlung getroffenen tatsächlichen Feststellungen die Überzeugung gewonnen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats muss noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass der Kläger künftig erneut vergleichbar gravierende Straftaten, insbesondere Körperverletzungsdelikte, begehen wird (2.1.). Allerdings ist zur Überzeugung des Senats ebenfalls zu konstatieren, dass unter Berücksichtigung der Zeit, die seit der Begehung der Anlassstraftaten vergangen ist, und des Verhaltens des Klägers seither die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und daher auch das Gewicht dieses besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses – wenn auch nicht in einer schon bei der Gefährdungsprognose ausschlaggebenden Weise – abgenommen hat (2.2.).
2. 1. Bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisungsentscheidung haben die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei dieser Gefahrenprognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Gemessen hieran ist die von der Beklagten und dem Verwaltungsgericht angestellte Gefahrenprognose, dass der Kläger erneut Straftaten insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikte begehen wird, auch im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und Entscheidung des Senats noch berechtigt.
Der Kläger ist – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – ein Serienstraftäter, der seit seinem 16. Lebensjahr insgesamt siebzehnmal strafrechtlich verurteilt worden ist und sich auch von mehreren ausländerrechtlichen Verwarnungen, Bewährungsstrafen und Freiheitsentzug (Jugendarrest, Ersatzfreiheitsstrafe) nicht hat beeindrucken lassen. Vielmehr ist bei ihm im Laufe seiner strafrechtlichen „Karriere“ eine erhebliche Steigerung der begangenen Straftaten, vor allem der Körperverletzungsdelikte in seinem engeren persönlichen Umfeld (gegenüber Freundinnen bzw. der außerehelichen Lebensgefährtin), zu verzeichnen. Dabei hat der Kläger ein hohes Maß an Unbeherrschtheit und Aggressivität gezeigt. Der Senat teilt die auf psychologischen Gutachten basierende Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung aufweist, die Schuld häufig bei anderen sucht und sich selbst bemitleidet. Der Kläger gibt zwar an, durch die erstmalige längere Strafhaft seit August 2015 sei es bei ihm zu einem Umdenkungsprozess gekommen, und verweist auf seine bisherigen erfolgreichen Therapiebemühungen bei der Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter und Condrobs sowie auf die positive Stellungnahme seiner Bewährungshilfe über den Verlauf der Führungsaufsicht zuletzt vom 9. Juli 2019 (Bl. 47 der VGH-Akte). Diese anzuerkennenden positiven Bewährungsansätze, die auch die Bewährungshilfe in ihrer Stellungnahme nochmals hervorhebt, lassen nach Auffassung des Senats derzeit aber noch nicht den hinreichend sicheren Schluss zu, dass der Kläger etwa bei wieder auftretenden Problemen in seinem nicht einfachen Beziehungsumfeld keine erneuten Straftaten insbesondere gegen das besonders hochwertige Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit (s. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) begehen wird. Zum einen befindet sich der Kläger noch in einer recht frühen Phase seiner – nicht verkürzten – fünfjährigen Unterstellung unter die Führungsaufsicht (zum Fehlen einer positiven Sozialprognose als materielle Voraussetzung der Führungsaufsicht nach § 68f StGB: vgl. Heuchemer in BeckOK StGB, Stand 1.5.2019, § 68f Rn. 5). Zum anderen hat der Kläger bisher nicht nachgewiesen, dass die bei ihm durch die Strafvollstreckungskammer festgestellte Gewalt- und Persönlichkeitsproblematik (vergleiche Führungsaufsichtsbeschluss des LG A. – auswärtige Strafvollstreckungskammer beim AG L. vom 6.12.2017, Bl. 90 ff. der VG-Akte) abschließend erfolgreich behandelt worden ist. Von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Bewährung in Freiheit auch ohne den Druck und die Unterstützung der Führungsaufsicht kann demgemäß aktuell noch nicht ausgegangen werden. Die vollständige Erfüllung der Auflage (Nr. 4 d) im Führungsaufsichtsbeschluss des Landgerichts A. – auswärtige Strafvollstreckungskammer beim AG L. – vom 6. Dezember 2017, wonach der Kläger bei einer Suchtberatungsstelle von Condrobs mindestens zehn suchttherapeutische Beratungsgespräche (bezogen auf Alkohol und Drogen) mindestens im Monatsturnus regelgerecht durchführen muss, ist ebenfalls noch nicht nachgewiesen.
2. 2. Auch wenn der Senat nach alledem unter Berücksichtigung des besonderen Gewichts und der Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit im maßgeblichen Zeitpunkt noch von einer gegenwärtigen und schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG durch den Kläger ausgeht, ist bei der Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit festzuhalten, dass sich der Kläger seit seiner letzten Straftat (zulasten der Zeugin S. C.) nicht ohne Erfolg bemüht hat, seine Beziehungen zu ordnen und dadurch besonders konfliktträchtige Situationen wie in der Vergangenheit zu vermeiden bzw. zu bereinigen. Während das Verwaltungsgericht noch davon ausgegangen ist, dass von stabilen persönlichen Verhältnissen (bezüglich der Ehefrau und der außerehelichen Beziehungen) beim Kläger nicht die Rede sein könne, lebt dieser zur Überzeugung des Senats inzwischen in einer wieder gefestigten ehelichen Lebensgemeinschaft mit der Klägerin zusammen und hat zur Mutter seiner beiden Söhne ein für die Vater-Kind-Beziehung tragfähiges sachliches Verhältnis aufgebaut, sodass es auch zu keinen neuen Vorfällen mehr gekommen ist. Die Gefahr weiterer, insbesondere körperlicher Auseinandersetzungen hat daher zur Überzeugung des Senats abgenommen.
3. Auf der Grundlage dieser Feststellungen führt die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet dazu, dass die Ausweisung für die Wahrung des in § 53 Abs. 3 AufenthG normierten Ausweisungsinteresses nicht (mehr) unerlässlich ist.
3. 1. Das Verwaltungsgericht hat beim Kläger zu Recht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1, Abs. 3 und § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG festgestellt; auch der Tatbestand eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG ist insoweit erfüllt. Die vom Kläger danach ausgehende Gefahr besteht – wie oben unter 2. ausgeführt – im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt noch fort.
3. 2. Diesem öffentlichen Ausweisungsinteresse stehen allerdings gewichtige Bleibeinteressen des Klägers und seiner Familie gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit § 55 AufenthG gegenüber.
Zwar hat das Verwaltungsgericht das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zutreffend bejaht. Die Bedeutung der familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seiner deutschen Ehefrau, der Klägerin (3.2.1.), und des Umgangsrechts mit seinen beiden minderjährigen deutschen Kindern (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, Art. 6 Abs. 1 und 2 GG; 3.2.2.) hat es bei seiner Gesamtwürdigung aller den Einzelfall prägenden Umstände letztlich aber nicht in einer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügenden Weise eingestellt und gewürdigt.
3. 2.1. Entgegen der Einschätzung des Erstgerichts ist der Senat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger nach einer zwischenzeitlichen Trennung (wieder) eine dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallende eheliche Lebensgemeinschaft führen, die über das rein formale Band der Ehe hinausgeht. Der Kläger ist nach Beendigung seiner Haft am 26. Januar 2018 zu seiner Ehefrau, der Klägerin, in die gemeinsame Wohnung zurückgekehrt und lebt seither – wie im Übrigen auch bereits vor dem Haftantritt am 10. August 2015 – mit seiner Ehefrau zusammen. Diese unterstützt den Kläger nicht nur finanziell mit ihrem deutlich höheren Einkommen, sondern gibt ihm in der gegenwärtigen Situation auch sonst Halt und fördert insbesondere seine Kontakte zu den beiden minderjährigen Kindern, die in die Familie der Kläger inzwischen soweit wie möglich integriert sind. Dass die eheliche Gemeinschaft möglicherweise über einen längeren Zeitraum (des Zusammenlebens mit der Zeugin S. C.) nur noch formal bestanden hat, vermag entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts das Gewicht dieser familiären Lebensgemeinschaft ebenso wenig entscheidend zu mindern wie der Umstand, dass der Kläger einen Großteil seiner Straftaten während der Ehe begangen hat.
3. 2.2. Weitaus gewichtiger ist im Rahmen der Gesamtabwägung allerdings die gemäß Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK schutzwürdige Vater-Kind-Beziehung des Klägers zu seinen beiden minderjährigen deutschen Söhnen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind – wie hier – nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen und das Kind beide Elternteile braucht. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13 f. m.w.N.; vgl. auch B.v. 22.5.2018 – 2 BvR 941/18 – juris Rn. 8).
Die Kläger und die Mutter der Kinder, die Zeugin S. C., haben in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend und glaubhaft geschildert, wie sich die Kontakte des Klägers zu seinen Kindern entwickelt haben. Danach hat der Kläger von Anfang an den Kontakt zu seinen Söhnen gesucht und pflegt diesen bis heute regelmäßig. Er hat seine Kinder während der Zeit ihres Aufenthalts bei einer Pflegefamilie (ca. eineinhalb Jahre) regelmäßig, zumindest alle 14 Tage – wenn auch unter Aufsicht – besucht. Während des anschließenden Aufenthalts von Mutter und Kindern in einem Mutter-Kind-Heim in der Nähe von Rosenheim (Halfing) und auch nach dem Umzug der Zeugin und ihrer Kinder nach München hat er die regelmäßigen Besuchskontakte fortgeführt. Auch während der Haft ist dieser Kontakt nicht abgerissen, weil die Zeugin den Kläger mit den Kindern monatlich bzw. alle zwei Monate in der Haftanstalt besucht hat. Seit seiner Haftentlassung hat der Kläger alle zwei Wochen regelmäßigen Umgang mit seinen Kindern, wobei er nach einem Beschluss des Amtsgerichts M. – Abteilung für Familiensachen – vom 11. April 2018 entsprechend einem Vergleich zwischen den Beteiligten verpflichtet und berechtigt ist, mit seinen Kindern jedes zweite Wochenende von Freitag, ab dem Kindergartenende, bis Sonntag, 17:00 Uhr, Umgang zu pflegen und die Kinder vom Kindergarten abzuholen und sie am Sonntag zur Wohnung der Mutter zurückzubringen. Von diesem Umgangsrecht macht der Kläger regelmäßig Gebrauch und holt die Kinder, die nach Angaben seiner Ehefrau, der Klägerin, im Übrigen auch schon während der Haftzeit an diese Umgebung gewöhnt wurden (vgl. Bl. 6 des Sitzungsprotokolls), übers Wochenende zu sich in die eheliche Wohnung. Zwar steht der Mutter das Sorgerecht für die beiden Kinder allein zu, was ihrer Auffassung nach künftig auch so bleiben soll. Andererseits hat die Zeugin S. C. glaubhaft bestätigt, dass die beiden Kinder ihren Vater brauchen, insbesondere ein Sohn ein sehr enges Verhältnis zu seinem Vater hat, beide gerne bei ihm übers Wochenende sind und glücklich zu ihr zurückkommen sowie umgekehrt, dass die Kinder für den Kläger sehr wichtig sind und er sich liebevoll um sie kümmert (vgl. Bl. 9 f. des Sitzungsprotokolls).
Vor diesem Hintergrund ist von der Schutz- und Förderungswürdigkeit dieser elterlichen Beziehung des Klägers zu seinen Kindern sowie weiter davon auszugehen, dass der Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen der Söhne zum Vater (Kläger) der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder dienen (vgl. BVerfG, B.v. 22.5.2018 – 2 BvR 941/18 – juris Rn. 8). Dies gilt zur Überzeugung des Verwaltungsgerichtshofs umso mehr, als die beiden Kinder bisher unter schwierigen Bedingungen (zunächst längerer Aufenthalt bei einer Pflegefamilie, dann zeitweilige Unterbringung in einem Mutter-Kind-Heim, aktuell Wohnen mit der Mutter in einer Obdachlosenunterkunft) aufgewachsen sind und gerade bei noch relativ kleinen Kindern in einer solchen Situation die Kontinuität der Bindungen zu beiden Elternteilen besonders wichtig ist. Der tatsächlich gelebten Elternverantwortung des Klägers für seine Kinder kommt demnach im Hinblick auf das Kindeswohl seiner beiden Söhne ein besonderes Gewicht zu, auch wenn der Kläger bisher nur sehr eingeschränkt in der Lage war, seine Verantwortung auch in finanzieller Hinsicht (Unterhalt) wahrzunehmen (vgl. dazu die Angaben der Zeugin, Bl. 9 des Sitzungsprotokolls). Der Hinweis des Verwaltungsgerichts, die Trennung vom Vater sei für die Kinder bereits bisher gelebte Realität, weshalb es zumutbar sei, den Kläger auf verschiedene Formen moderner Kommunikation (aus der Türkei) und gegebenenfalls Betretenserlaubnisse zu verweisen, wird der dargelegten Bedeutung der gelebten Vater-Kind Beziehung für das Kindeswohl daher nicht gerecht.
Zusammen mit dem auch vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Umstand, dass der Kläger ein „faktischer Inländer“ ist, der seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat, seit 1988 ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet besitzt, hier enge persönliche und wirtschaftliche Bindungen hat, während die Bindungen zu seinem Herkunftsstaat als eher lose zu bewerten sind, wiegen die familiären Bleibeinteressen des Klägers und vor allem das Kindeswohl seiner minderjährigen deutschen Söhne im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats so schwer, dass sie das in seinem Fall (noch) bestehende besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse überwiegen. Seine Ausweisung erweist sich somit im hier maßgeblichen Zeitpunkt als unverhältnismäßig.
Ist nach alledem die Ausweisungsverfügung der Beklagten (mit den weiteren Verfügungen des angefochtenen Bescheids) rechtswidrig und verletzt sie den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat auch die Klage seiner Ehefrau (Klägerin), die sich (ebenfalls) auf den Schutz der Ehe gemäß Art. 6 Abs. 1 GG berufen kann, aus denselben Gründen Erfolg.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.