Verwaltungsrecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und/oder Aufnahmebedingungen in Italien

Aktenzeichen  M 8 S 16.51180

Datum:
11.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1
AsylG AsylG § 27a, § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
AufenthG 60a Abs. 2c S. 1

 

Leitsatz

Asylbewerber laufen in Italien nicht Gefahr, aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (ebenso OVG NRW BeckRS 2016, 49118; BeckRS 2016, 48798). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der nach seinen Angaben am … April 1997 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Nach seinen Angaben bei der Anhörung am 26. September 2016 reiste er im Frühjahr 2013 aus seinem Heimatland aus und gelangte über mehrere afrikanische Länder nach Italien, wo er sich ein Jahr und sieben Monate in einem Flüchtlingscamp aufgehalten habe; anschließend reiste er über Österreich im August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte hier am 26. August 2016 Asylantrag.
Ein Abgleich der Fingerabdrücke des Antragstellers ergab einen EURODAC-Treffer Nr. IT1* … für Italien.
Mit Bescheid vom 25. November 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag aufgrund des bereits in Italien gestellten Asylantrags nach § 27a AsylG unzulässig sei. Italien sei somit für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig, systemische Mängel des Asylverfahrens bestünden in Italien nicht.
Ein Nachweis der Zustellung des Bescheids an den Antragsteller bzw. dessen Bevollmächtigten liegt in den Akten nicht vor.
Mit einem am 5. Dezember 2016 beim Verwaltungsgericht München eingegangenen Schriftsatz vom gleichen Tage erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers gegen den Bescheid vom 25. November 2016 Klage (M 8 K 16.51181) und beantragte gleichzeitig, die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller könne bei einer Rückführung nach Italien nicht damit rechnen ein menschenwürdiges Verfahren zu durchlaufen. Er könne weder mit einer sozialen Betreuung noch mit einer ausreichenden Krankenversorgung rechnen. Dem Kläger sei es gelungen, sich in der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren und eine Berufsausbildung als Bäcker anzutreten, welche er noch nicht abgeschlossen habe.
Mit Schreiben vom 7. Dezember 2016 legte die Antragsgegnerin die elektronische Akte vor, stellte jedoch keinen Antrag.
Mit Schreiben vom 19. Dezember 2016 beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers, die Frist zur Einreichung einer weitergehenden Begründung sowie Vorlage weiterer Beweismittel wegen erheblicher Arbeitsbelastung und der anstehenden Weihnachtsfeiertage und des Jahreswechsels und einer damit verbundenen urlaubsbedingten Abwesenheit vom 22. Dezember 2016 – 7. Januar 2017 bis einschließlich 1. Februar 2017 zu verlängern.
Am 20. Dezember 2016 wurde dem Bevollmächtigten des Antragstellers telefonisch mitgeteilt, dass eine Fristverlängerung wegen der Eilbedürftigkeit im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur bis zum 10. Januar 2017 möglich sei.
Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2017 erläuterte der Bevollmächtigte des Antragstellers dessen Fluchthistorie und machte unter Vorlage eines Attestes des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. … … vom 21. Dezember 2016 eine psychische Erkrankung des Antragstellers geltend. Auch sei der Antragsteller gut in Deutschland integriert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und das Vorbringen der Beteiligten im Übrigen Bezug genommen.
II.
1. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen.
Da sich die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts vom 25. November 2016 nach der insoweit gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig erweist, führt die vorzunehmende Interessenabwägung im Fall des Antragstellers zu einem Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Italien ist als Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller ausweislich des erzielten EURODAC-Treffers einen Asylantrag gestellt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (Art. 3 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO). Nach Aktenlage hat Italien das gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO rechtzeitig gestellte Wiederaufnahmegesuch nach Art. 23 Abs. 1 Dublin-III-VO nicht beantwortet. Gemäß Art. 25 Abs. 2 der Dublin-III-VO ist davon auszugehen, dass von italienischer Seite dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffende Person wieder aufzunehmen.
Die Zuständigkeit liegt auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin-III-VO bei der Antragsgegnerin (oder einem anderen Mitgliedstaat), weil eine Überstellung an Italien als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO scheitern würde. Es sind keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Italien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EUGrdRCh – ausgesetzt wäre.
Nach dem vom Bundesverfassungsgericht zur Drittstaatenregelung entwickelten „Konzept der normativen Vergewisserung“ ist davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – sichergestellt ist (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181). Dieses vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept steht im Einklang mit dem der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zugrundeliegenden Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – Rs. C-411/10 und C-493/10 – juris). Unter diesen Bedingungen muss die nur in Ausnahmefällen widerlegbare Vermutung gelten, dass die Behandlung eines Asylbewerbers bzw. als schutzberechtigt anerkannten Ausländers in jedem einzelnen dieser Staaten im Einklang mit den genannten Rechten steht.
Hiervon kann nur dann nicht ausgegangen werden, wenn sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, der Ausländer sei von einem Sonderfall betroffen, der von dem Konzept der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens nicht aufgefangen wird (vgl. EuGH, U.v. 10.12.2013 – Rs. C-394/12 – juris, BVerfG, U.v. 14.5.1996 a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asyl-verfahren und/oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Personen implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O. Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m.w.N., B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Dies zugrunde gelegt, ist in Bezug auf Italien nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse nicht davon auszugehen, dass dem Antragsteller bei einer Überstellung dorthin eine menschenunwürdige Behandlung im vorgenannten Sinne droht. Es ist nicht hinreichend ersichtlich, dass in Italien systemische Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen vorliegen. Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials durch verschiedene Obergerichte und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an (s. hierzu statt vieler aktuell OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 41 ff. m.w.N., U.v. 7.7.2016 – 13 A 2302/15.A – juris Rn. 41). Es mag zwar immer wieder vorkommen, dass Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil auch obdachlos sind. Dies und auch die zum Teil lange Dauer der Asylverfahren sind darauf zurückzuführen, dass das italienische Asylsystem aufgrund der momentan hohen Asylbewerberzahlen stark ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze ist. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite sind aber weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen „Dublin-Rückkehrer“ nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad nahelegt. (vgl. OVG NRW, U.v. 18.7.2016 a.a.O.). Es ist im Grundsatz davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, völker- und unionsrechtskonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das trotz einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. In Italien bestehen ausdifferenzierte Strukturen zur Aufnahme von Asylbewerbern, auch speziell für „Dublin-Rückkehrer“. Diese befinden sich in staatlicher, in kommunaler, kirchlicher oder privater Trägerschaft und werden zum Teil zentral koordiniert (vgl. VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris Rn. 24 m.w.N.). Das italienische Recht gewährt den Asylsuchenden ab dem Zeitpunkt des Asylantrags Zugang zu Unterbringungsmöglichkeiten. In der Praxis wird zwar der Zugang zu den Aufnahmezentren häufig erst von der formellen Registrierung des Asylantrags abhängig gemacht, so dass hierdurch eine Zeitspanne ohne Unterbringung entstehen kann. Die Behörden sind jedoch darum bemüht, diese zu verringern (vgl. VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 a.a.O.). Auch „Dublin-Rückkehrer“ haben bei ihrer Ankunft in Italien nach Kapazität sofort Zugang zu bestimmten Unterkünften; es ist auch gewährleistet, dass sie nach ihrer Rückkehr ihr ursprüngliches Asylverfahren weiterbetreiben bzw. – wenn sie das noch nicht getan haben – einen Asylantrag oder – falls das Asylverfahren in Italien mit negativem Ergebnis bereits abgeschlossen sein sollte – einen Folgeantrag stellen können (s. OVG NRW, U.v. 19.5.2016 – 13A 516/14.A – juris Rn. 65 ff.).
Auch die Lage der Personen, die in Italien einen internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben, begründet keine systemischen Mängel. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass Italien kein mit dem in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen kennt, sondern vielmehr nur im originären Kompetenzbereich der Regionen und Kommunen ein sehr unterschiedliches und in weiten Teilen von der jeweiligen Finanzkraft abhängiges Leistungsniveau besteht (VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind nicht gegeben. Das nunmehr vorgelegte Attest vom 21. Dezember 2017 rechtfertigt keine andere Beurteilung. Der Gesetzgeber geht mit dem, seit dem 17. März 2016 (Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren v. 11.3.2016 – BGBl I S. 390) neu eingeführten § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, davon aus, dass nur lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, die Abschiebung des Ausländers hindern. Eine solche wurde durch das Attest vom 21. Dezember 2016 nicht belegt (vgl. BayVGH, B.v. 23.8.2016 – 10 CE 15.2784 – juris). Das gilt auch für inlands- oder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.

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