Verwaltungsrecht

Nachträgliche Befristung einer Aufenthaltserlaubnis und Verlängerungsantrag

Aktenzeichen  B 6 S 21.532

Datum:
13.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31120
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2, § 8, § 30, § 31, § 81 Abs. 4 S. 1, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1
ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1, Art. 13

 

Leitsatz

1. Bei Entscheidung über die Verkürzung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 2 S. 2 AufenthG ist nicht inzident zu prüfen, ob der Ausländer einen Anspruch auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen hat; dies ist Gegenstand eines gleichzeitig zu bescheidenden Begehrens auf Verlängerung oder auch Neuerteilung der Aufenthaltserlaubnis. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auf türkische Arbeitnehmer ist die Anhebung der erforderlichen Mindestbestandszeit einer Ehe gem. § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG mit Wirkung zum 1.7.2011 wegen des assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbots auch dann nicht anwendbar, wenn sie erst nach diesem Zeitpunkt in das Bundesgebiet eingereist sind und hier ein Aufenthaltsrecht erhalten haben. (Rn. 31 – 33) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Landratsamts X vom 04.01.2021 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Hauptantrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner gegen die nachträgliche Befristung sowie auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gerichteten Klage. Hilfsweise begehrt er eine Fiktionsbescheinigung, weiter hilfsweise eine Duldung nebst Gestattung der Erwerbstätigkeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens.
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste am 09.02.2018 mit einem Visum zum Ehegattennachzug zu seiner im Bundesgebiet lebenden Ehefrau, die ebenfalls türkische Staatsangehörige ist, ein. Er meldete sich in der Wohnung seiner Ehefrau in X an. Die Stadt X erteilte ihm in der Folgezeit eine Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 30 AufenthG, die zuletzt am 08.05.2019 bis zum 07.05.2021 verlängert wurde.
Am 15.10.2020 meldete der Antragsteller seinen Wohnsitz nach Y um, während seine Ehefrau unter der bisherigen Meldeadresse in X gemeldet blieb.
Nachdem das Landratsamt X hiervon Kenntnis erlangt hatte, erließ es nach Anhörung des Antragstellers und seiner Ehefrau am 04.01.2021 folgenden Bescheid: Die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis, die am 08.05.2019 von der Ausländerbehörde der Stadt X erteilt worden und bis zum 07.05.2021 gültig ist, wird nachträglich befristet auf den Tag der Zustellung des Bescheides (1). Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb eines Monats ab Zustellung des Bescheids zu verlassen. Sollte durch die Erhebung einer Klage gegen diesen Bescheid die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ausgesetzt werden, beginnt die Ausreisefrist von einem Monat mit der Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (Ziffer 2). Für den Fall, dass der Antragsteller nicht oder nicht fristgerecht ausreist, wird ihm die Abschiebung in die Türkei angedroht und die Wirkung der Abschiebung auf die Dauer von zwei Jahren ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 3).
Zur Begründung wurde ausgeführt: Die wesentliche Voraussetzung für die Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG sei durch die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft entfallen. Dies rechtfertige nach pflichtgemäßer Ermessensausübung die nachträgliche Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gemäß § 31 AufenthG stehe dem Antragsteller nicht zu, weil er sich zum Zeitpunkt der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft noch keine drei Jahre im Bundesgebiet aufgehalten habe. Er könne ein Aufenthaltsrecht auch nicht aus Art. 6 oder 7 des sogenannten Assoziationsratsbeschlusses 1/80 (ARB 1/80) ableiten, da er in Deutschland nicht lange genug bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei bzw. die eheliche Lebensgemeinschaft nicht hinreichend lange bestanden habe.
Mit Schreiben vom 02.02.2021 stellte der Antragstellerbevollmächtigte beim Landratsamt X „vorsorglich bereits jetzt“ einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass der Antragsteller in die eheliche Wohnung zurückziehen werde.
Mit Schreiben vom 04.02.2021 teilte das Landratsamt X dem Antragstellerbevollmächtigten mit, dass über den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bereits mit dem Bescheid vom 04.01.2021 entschieden worden sei. Es gebe keine Veranlassung, die getroffene Entscheidung rückgängig zu machen bzw. eine andere Entscheidung zu treffen.
Ebenfalls am 04.02.2021 ließ der Kläger Klage gegen den Bescheid vom 04.02.2021 erheben mit dem Antrag, den Bescheid des Landratsamts X vom 04.01.2021 aufzuheben.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsteller sei assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, sodass für das eigenständige Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG eine bloß zweijährige eheliche Lebensgemeinschaft ausreiche. Im Übrigen hätten sich die Eheleute gar nicht dauerhaft getrennt; es habe sich nur um eine vorübergehende Trennung gehandelt. Zwischenzeitlich seien die Eheleute wieder zusammengezogen. Dem Antragsteller stehe auch ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zu, insbesondere verkenne der Antragsgegner, dass der Antragsteller zwar den Arbeitgeber gewechselt habe, jedoch bei der gleichen Firmengruppe weiter beschäftigt worden sei.
Am 03.05.2021 ließ der Antragsteller zudem beantragen,
„1. Der Freistaat Bayern bzw. die Beigeladene werden verpflichtet, dem Kläger über den Zeitraum der Befristung hinaus eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.“
Mit Schriftsatz vom 25.06.2021 erweiterte der Antragstellerbevollmächtigte das einstweilige Rechtsschutzbegehren „hilfsweise auch auf § 123 VwGO gestützt“ mit dem hilfsweise gestellten Antrag,
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragssteller bis zum Abschluss des Klageverfahrens eine Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 4 AufenthG über das Fortbestehen des Aufenthaltsrechts einschließlich Beschäftigungserlaubnis zu erteilen, höchsthilfsweise, den Antragsteller bis zum Abschluss des Klageverfahrens unter Fortbestehen einer Beschäftigungserlaubnis zu dulden und hierüber eine Bescheinigung auszustellen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei mit Schriftsatz vom 02.02.2021 und damit vor Ablauf des Aufenthaltstitels gestellt worden, weshalb ihm Fiktionswirkung zukomme und deshalb der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft sei. Über den Verlängerungsantrag habe das Landratsamt nicht entschieden. Selbst wenn man aber in der nachträglichen Befristungsentscheidung auch eine Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sehe, wäre jedenfalls die aufschiebende Wirkung der Verpflichtungsklage anzuordnen. Im Übrigen habe das Landratsamt eine Bescheinigung gem. § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG erteilt. Entgegen der Auffassung des Landratsamts folge aus § 81 Abs. 4 AufenthG aber ein rechtmäßiger Aufenthalt und nicht nur der Fortbestand der Beschäftigungsfiktionswirkung. In der Sache verkenne der Antragsgegner, dass sich der Antragsteller als türkischer Arbeitnehmer auf das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 berufen könne. Ohnehin bestünden keine Zweifel an der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft, zumal die Ehefrau des Antragstellers mit Versicherung an Eides statt vom 15.06.2021 erklärt habe, dass die eheliche Lebensgemeinschaft fortbestehe. Der Umstand, dass der Antragsteller bei der zuvor von ihm bewohnten Wohnung in Y zuletzt noch gesehen worden sei, erkläre sich dadurch, dass er in Absprache mit der derzeit auslandsabwesenden Vermieterin weiterhin die Leerung des Briefkastens übernommen habe. Da der Antragsteller nunmehr im Zuständigkeitsbereich der Stadt X wohne, sei wohl ein Fall der notwendigen Beiladung gegeben. Das Bleibeinteresse überwiege fraglos ein ohnehin zu verneinendes Interesse an der Aufenthaltsbeendigung.
Der Antragsgegner nahm hierzu wie folgt Stellung: Die Anfechtungsklage gegen die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis habe gemäß § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung. Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO sei daher überflüssig. Das Begehren des Antragstellers, über das Datum der nachträglichen Befristung hinaus eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, sei unverständlich. Denn mit dem Bescheid vom 04.01.2021 sei ein weiteres Aufenthaltsrecht auch unter Berücksichtigung des ARB 1/80 gerade verneint worden. Der Vortrag zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft sei unglaubhaft. Eine Ortseinsicht und Befragung anderer Hausbewohner durch das Landratsamt deute vielmehr darauf hin, dass der Antragsteller weiterhin in Y wohne. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG stehe dem Antragsteller auch unter Berücksichtigung des Verschlechterungsverbots des ARB 1/80 nicht zu. Denn die gesetzliche Verschärfung des § 31 AufenthG (Verlängerung der erforderlichen Bestandszeit der ehelichen Lebensgemeinschaft von zwei auf drei Jahre) sei bereits im Jahr 2011 erfolgt, der Antragsteller sei jedoch erst im Jahr 2018 nach Deutschland eingereist. Die Stadt X habe der Fortführung des Verfahrens durch das Landratsamt X gemäß Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG zugestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Eine Beiladung der Stadt X war nicht veranlasst, weil das Landratsamt X jedenfalls gem. Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG weiterhin zuständige Ausländerbehörde und der Freistaat Bayern damit richtiger Antragsgegner ist (vgl. BVerwG, U.v. 24.05.1995 – 1 C 7/94 – NVwZ 1995, 1131).
1. Der Hauptantrag ist gem. §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anzusehen und als solcher statthaft. Wie sich aus §§ 80, 123 Abs. 5 VwGO ergibt, setzt der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO grundsätzlich voraus, dass in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft ist und diese keine aufschiebende Wirkung i.S.d. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat. Im Ausländerrecht kann darüberhinaus der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auch bei einer in der Hauptsache zu erhebenden Verpflichtungsklage statthaft sein, wenn durch die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis die Fiktionswirkung eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis gem. § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG beseitigt wird. Denn in der Beseitigung der Fiktionswirkung ist ein belastender, gem. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbarer Verwaltungsakt zu sehen (vgl. zum Ganzen z.B. Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 47, 50; Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 3. Aufl. 2020, Rn. 210).
Soweit die Klage gegen die in Ziffer 1 des Bescheids vom 04.01.2021 ausdrücklich ausgesprochene nachträgliche Verkürzung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG gerichtet ist, hat sie aufschiebende Wirkung, weil § 84 Abs. 1 AufenthG insofern keine abweichende Regelung enthält (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 74; Axer in BeckOK MigR, Stand 01.01.2021, § 7 AufenthG Rn. 15). Auch der Antragsgegner ist dieser Auffassung. Aufgrund der kraft Gesetzes bestehenden aufschiebenden Wirkung ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO insoweit nicht statthaft.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist jedoch ungeachtet dessen statthaft, weil das Landratsamt nach Auffassung der Kammer mit der nachträglichen Verkürzungsentscheidung zugleich auch über einen Antrag des Antragstellers auf Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis ablehnend entschieden hat, so dass insofern ein Fall des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt. Im Einzelnen:
Die Beteiligten streiten darüber, ob das Landratsamt über einen Antrag des Antragstellers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bereits entschieden hat. Keine der von den Beteiligten vertretenen Positionen ist indes in rechtlicher Hinsicht widerspruchsfrei:
Der Antragstellerbevollmächtigte ist der Auffassung, dass der Verlängerungsantrag mit Schriftsatz vom 02.02.2021 (Bl. 151 f. d. Behördenakte) gestellt und noch nicht verbeschieden sei, weshalb die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zugunsten des Antragstellers greife. Ausgehend von diesem Standpunkt macht jedoch der im Hauptantrag gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO keinen Sinn, weil kein belastender, sofort vollziehbarer Verwaltungsakt vorläge, sondern der Antragsteller allenfalls eine Fiktionsbescheinigung beanspruchen könnte. Hinzu kommt, dass dann auch der Eintritt der Fiktionswirkung rechtlichen Zweifeln unterläge: Wäre der Verlängerungsantrag erst am 02.02.2021 gestellt worden, so wäre die bisherige Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis zu diesem Zeitpunkt bereits mit Bescheid vom 04.01.2021 auf den Tag der Zustellung dieses Bescheids, also auf den 07.01.2021 (Bl. 141R d. Behördenakte) verkürzt worden. Diese Verkürzung ist nach umstrittener, aber verbreiteter Auffassung – ungeachtet der aufschiebenden Wirkung der gegen die nachträgliche Verkürzung erhobenen Klage – gem. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG aufenthaltsrechtlich wirksam und auch für die Frage der Fiktionswirkung gem. § 81 Abs. 4 AufenthG maßgeblich, so dass demzufolge keine Fiktionswirkung hätte eintreten können (sehr strittig, vgl. einerseits: Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 81 AufenthG Rn. 20; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Mai 2021, § 81 AufenthG Rn. 35; VG München, B.v. 20.09.2005 – M 23 S 05.2470 – juris Rn. 30; andererseits: VGH BW, B.v. 11.05.2021 -11 S 2891/20 – juris Rn. 10 ff.).
Das Landratsamt vertritt demgegenüber die Auffassung, über den Verlängerungsantrag bereits im Bescheid vom 04.01.2021 (mit-)entschieden zu haben und hat dies dem Antragstellerbevollmächtigten mit Schreiben vom 04.02.2021 (Bl. 154 d. Behördenakte) auch mitgeteilt. Im Bescheid vom 04.01.2021 wurde ausdrücklich aber nur die nachträgliche Verkürzung tenoriert. Sofern das Landratsamt zudem ausführt, dass der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die nachträgliche Befristung „überflüssig“ sei, steht dem entgegen, dass zwischenzeitlich auch der ursprüngliche Gültigkeitszeitraum der Aufenthaltserlaubnis (bis 07.05.2021) abgelaufen ist und der Antragsteller daher unabhängig von der gerichtlichen Entscheidung über die Klage gegen die nachträgliche Verkürzung – also selbst bei gerichtlicher Aufhebung der nachträglichen Befristungsentscheidung – derzeit keinen gültigen Aufenthaltstitel hätte.
Die komplexe rechtliche Thematik ist unter Berücksichtigung von §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO und der Rechtsprechung zum Zusammenwirken von nachträglicher Verkürzung gem. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG und Verlängerung i.S.v. § 8 AufenthG wie folgt aufzulösen: Gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zu einem bestimmten Zweck erteilt. Das Bundesverwaltungsgericht hat hieraus abgeleitet, dass nachträgliche Verkürzung und Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis unterschiedliche Regelungsgegenstände sind. Im Rahmen einer Verkürzungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist daher nicht inzident zu prüfen, ob der Ausländer einen Anspruch auf Verlängerung oder Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen hat. Das bedeutet, dass die Frage, ob dem Antragsteller im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG (oder auch nach anderen in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen) zusteht, rechtssystematisch nicht bei § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu prüfen ist, sondern dass dies Gegenstand eines gleichzeitig zu bescheidenden Begehrens auf Verlängerung oder auch Neuerteilung der Aufenthaltserlaubnis ist (BVerwG, U.v. 09.06.2009 – 1 C 11/08 – NVwZ 2009, 1432/1433 Rn. 13 f.). Ein entsprechender Antrag des Ausländers auf Verlängerung oder Neuerteilung wird regelmäßig bereits in dem Vorbringen im Rahmen der Anhörung zu der beabsichtigten nachträglichen Verkürzung gem. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu sehen sein (BVerwG, a.a.O., Rn. 14; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 7 AufenthG Rn. 75 ff.; vgl. auch BayVGH, B.v. 14.09.2017 – 10 ZB 17.925 – BeckRS 2017, 128046 RN. 7 f.).
Unter Berücksichtigung dessen kann hier davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller bereits im Rahmen der Anhörung zur nachträglichen Befristung jedenfalls konkludent auch die Verlängerung der ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis für den Fall beantragt hat, dass sich die Verkürzungsentscheidung als rechtmäßig erweisen sollte. Der Antragsteller hat am 11.12.2020 in Begleitung seiner Ehefrau persönlich bei der Ausländerbehörde vorgesprochen und dabei zum Ausdruck gebracht, dass er mit der vom Landratsamt geplanten Entscheidung nicht einverstanden sei (Niederschrift vom 11.12.2020, Bl. 113 d. Behördenakte). Den konkludent gestellten Verlängerungsantrag hat das Landratsamt im Bescheid vom 04.01.2021 zwar nicht im Tenor, so doch in den Bescheidsgründen abgelehnt: Diese enthalten ausdrücklich und über die Frage der Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach § 30 AufenthG hinaus Ausführungen zum eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach § 31 AufenthG sowie zum Aufenthaltsrecht nach Art. 6 und 7 ARB 1/80. Dies ist für eine Ablehnung des Verlängerungsantrags ausreichend (so auch BVerwG, U.v. 09.06.2009 – 1 C 11/08 – NVwZ 2009, 1432/1434 Rn. 18).
Liegt demnach eine ablehnende Entscheidung über einen Verlängerungsantrag, dem Fiktionswirkung gem. § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zukam, vor, so ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft. Diesem Antrag kann auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis nicht abgesprochen werden. Insbesondere ist die Ablehnungsentscheidung nicht bestandskräftig geworden: Der Antragsteller hat gegen den Bescheid vom 04.01.2021 fristgerecht i.S.d. § 74 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 VwGO Klage erhoben. Dass im Schriftsatz vom 04.02.2021 dabei zunächst nur ein Aufhebungsantrag und erst im Schriftsatz vom 03.05.2021 ein Verpflichtungsantrag formuliert wurde, steht dem nicht entgegen (vgl. BayVGH, B.v. 28.05.2008 – 11 C 08.889 – juris Rn. 66 f.).
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung, bei der die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage maßgeblich zu berücksichtigen sind, fällt zugunsten des Antragstellers aus. Denn jedenfalls unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des eigenständigen Aufenthaltsrechts nach § 31 AufenthG begegnet der Bescheid vom 04.01.2021 nach aktuellem Sachstand ernstlichen rechtlichen Bedenken, so dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das behördliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass sich der Antragsteller aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtiger türkischer Arbeitnehmer auf die bis zum 30.06.2011 geltende Gesetzesfassung des § 31 AufenthG berufen kann, wonach bereits eine zweijährige Ehebestandszeit das eigenständige Aufenthaltsrecht des Ehegatten begründet. Der Antragsgegner hat das Aufenthaltsrechts des Antragsstellers im Bescheid vom 04.01.2021 nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Ehegattennachzugs nach § 30 AufenthG und der Aufenthaltsberechtigung nach Art. 6 und 7 ARB 1/80 geprüft, sondern auch ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG verneint (S. 5/6 der Bescheidsgründe). Letzteres hält der gerichtlichen Prüfung im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes nicht stand:
Der Antragsteller kann sich auf das Verschlechterungsverbot des Art. 13 ARB 1/80 – oder jedenfalls des insofern inhaltsgleichen Art. 7 ARB 2/76 (vgl. dazu BayVGH, B.v. 18.08.2020 – 10 CS 20.1632 – BeckRS 2020, 24605 Rn. 15) – berufen. Dem steht – anders als der Antragsgegner meint – nicht entgegen, dass der Antragsteller bisher keine Rechtstellung nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erworben hat. Zwar ist in der Tat davon auszugehen, dass der Antragsteller die Voraussetzungen der letztgenannten Norm nicht erfüllt. Denn die dort in drei Stufen genannten Rechte bauen aufeinander auf, d.h. das im zweiten Spiegelstrich genannte Recht wird erst erworben, wenn der türkische Arbeitnehmer drei Jahre bei demselben Arbeitnehmer gearbeitet hat (EuGH, U.v. 10.01.2006 – Sedef, C-230/03 – NVwZ 2006, 315/317 Rn. 37; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 17). Dies trifft auf den Antragsteller offensichtlich nicht zu – selbst dann nicht, wenn man die Tätigkeit ab dem 09.12.2019 bei zwei Firmen des gleichen Unternehmensverbundes insofern als Einheit betrachten würde. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist jedoch geklärt, dass Art. 13 ARB 1/80 unabhängig von den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 anzuwenden ist (vgl. EuGH, U.v. 21.10.2003 – Abatay, C-317/01 u.a. – BeckRS 2004, 76304 Rn. 79 ff.; U.v. 09.12.2010 – Toprak, C-300/09 u.a. – NVwZ 2011, 349/350 Rn. 45; Gerstner-Heck in BeckOK MigR, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 10).
Art. 13 ARB 1/80 enthält ein unmittelbar anzuwendendes Verschlechterungsverbot. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung in dem Mitgliedstaat gelten. Maßgeblich für diesen Vergleich ist jedenfalls die am 01.12.1980 geltende Rechtslage. Unzulässig ist darüber hinaus aber auch die Verschärfung einer nach diesem Stichtag in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeführten Bestimmung, die eine Erleichterung der damals geltenden Bestimmungen vorsah, auch wenn diese Verschärfung nicht die Bedingungen für die Erteilung der Erlaubnis im Vergleich zu den bei Inkrafttreten geltenden Bedingungen verschlechterte. Das bedeutet, dass für den Vergleich der Rechtslage auf die jeweils günstigste Regelung abzustellen ist, die seit dem Inkrafttreten der Stillhalteklausel eingeführt wurde (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 06.11.2014 – 1 C 4/14 – NVwZ 2015, 373/374 Rn. 17 m.N. zur Rspr. des EuGH).
Für türkische Arbeitnehmer hat dies zur Folge, dass auf sie die Anhebung der erforderlichen Mindestehebestandszeit gem. § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG durch Gesetz vom 23.06.2011 (BGBl. I S. 1266) mit Wirkung zum 01.07.2011 nicht anwendbar ist und es daher bei der bis zum 30.06.2011 geltenden Mindestbestandszeit von zwei Jahren bleibt (vgl. BayVGH, B.v. 14.09.2017 – 10 ZB 17.925 – BeckRS 2017, 128046 Rn. 10; B.v. 18.08.2020 – 10 CS 20.1632 – BeckRS 2020, 24605 Rn. 16 ff.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 31 AufenthG Rn. 30).
Entgegen der Auffassung des Landratsamts steht der Anwendung des Art. 13 ARB 1/80 hier nicht entgegen, dass der Antragsteller erst nach Änderung des § 31 AufenthG zum 01.07.2011, nämlich im Jahr 2018, in das Bundesgebiet eingereist ist und hier ein Aufenthaltsrecht erhalten hat. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist geklärt, dass eine einschränkende Auslegung des Verschlechterungsverbots dahingehend, dass es nur diejenigen türkischen Staatsangehörigen schütze, die bei der Einführung der Beschränkung bereits eine ordnungsgemäße Beschäftigung ausübten und über ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat verfügten, nicht zulässig ist (EuGH, U.v. 21.10.2003 – Abatay, C-317/01 u.a. – BeckRS 2004, 76304 Rn. 75, Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Mai 2021, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 5 ff.). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichthof geht davon aus, dass sich auch türkische Staatsangehörige, die erst nach der vorgenannten Änderung des § 31 AufenthG ins Bundesgebiet eingereist sind, auf das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot berufen können: So hat der Verwaltungsgerichthof in jüngerer Zeit im Fall eines im Jahr 2016 ins Bundesgebiet eingereisten Antragstellers die Auffassung vertreten, dass die bis zum 30.06.2011 geltende Gesetzesfassung des § 31 AufenthG anzuwenden ist (B.v. 18.08.2020 – 10 CS 20.1632 – BeckRS 2020, 24605 Rn. 2 und 15 ff.).
Der Verweis des Antragsgegners auf die Allgemeinen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum ARB 1/80 vom 26.11.2013 (AAH-ARB 1/80) rechtfertigt keine andere Beurteilung. Zum einen binden diese Anwendungshinweise das Verwaltungsgericht nicht. Zum anderen lässt sich nach Auffassung der Kammer auch aus der vom Landratsamt in Bezug genommenen Ziffer 8.5.2 der AAH-ARB 1/80 keine den vorstehenden Ausführungen widersprechende Bewertung entnehmen. Die Anwendungshinweise thematisieren unter dieser Ziffer die Frage, ob Art. 13 ARB 1/80 auch auf türkische Staatsangehörige Anwendung findet, die noch gar keine Aufnahme in einem Mitgliedstaat gefunden haben (d.h. sich noch in der Türkei aufhalten). Darum geht es im vorliegenden Fall nicht: Der Antragsteller beruft sich nicht vom Ausland aus auf das Verschlechterungsverbot, sondern ist bereits im Jahr 2018 legal ins Bundesgebiet eingereist. Seine Einreise und sein bisheriger Aufenthalt waren auch „ordnungsgemäß“ i.S.d. Art. 13 ARB 1/80. Erforderlich ist insofern, dass der türkische Arbeitnehmer oder sein Familienangehöriger die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaates auf dem Gebiet der Einreise, des Aufenthalts und gegebenenfalls der Beschäftigung beachtet hat, so dass seine Lage im Hoheitsgebiet dieses Staates rechtmäßig ist (EuGH, U.v. 21.10.2003 – Abatay, C-317/01 u.a. – BeckRS 2004, 76304 Rn. 84; BayVGH, B.v. 18.08.2020 – 10 CS 20.1632 – BeckRS 2020, 24605 Rn. 17). Dies trifft auf den Antragsteller zu, weil er mit dem erforderlichen Visum zum Ehegattennachzug ins Bundesgebiet eingereist ist, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und in der Folgezeit eine ihm erlaubte (vgl. § 4a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.
Nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller die Voraussetzungen des § 31 AufenthG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung nicht erfüllen würde. Die Antragsgegner hat insofern, auch auf ausdrückliche gerichtliche Nachfrage (gerichtliches Schreiben vom 01.06.2021, S. 3), nichts Substantiiertes vorgetragen. Insbesondere ist bisher nicht ersichtlich, dass die eheliche Lebensgemeinschaft bereits deutlich vor der Ummeldung des Antragstellers nach Y zum 15.10.2020 beendet worden wäre. Soweit der Antragsgegner dies im Schriftsatz vom 02.06.2021 für „durchaus möglich“ hält, fehlt es dafür an belastbaren Anhaltspunkten.
Ist demnach bereits unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 31 AufenthG ein überwiegendes Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu bejahen, kommt es auf die zwischen den Beteiligten – im Hinblick auf § 30 AufenthG bzw. Art. 7 ARB 1/80 – in tatsächlicher Hinsicht strittige Frage, ob die eheliche Lebensgemeinschaft nur vorübergehend „auf Probe“ aufgehoben und inzwischen wiederhergestellt wurde, nicht an. Angesichts der Ermittlungen des Landratsamts einerseits und der andererseits nun vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Ehefrau des Antragstellers, dass die eheliche Lebensgemeinschaft fortbestehe, könnte dies im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch nicht hinreichend geklärt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

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