Aktenzeichen Au 8 K 17.35672
Leitsatz
1 Anerkannt Schutzberechtigte erhalten in Ungarn weder Unterstützung bei der Wohnungssuche noch finanziellen Hilfen, Sprachkurse oder sonstige staatliche Integrationshilfen. Zwar steht anerkannt Schutzberechtigten der Zugang zum Arbeitsmarkt offen, bestimmte Berufsfelder sind ungarischen Staatsbürgern vorbehalten. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für anerkannt Schutzberechtigte, jedenfalls aber für eine als besonders vulnerabel anzusehende Familie mit mehreren minderjährigen Kindern besteht in Ungarn die Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, bei den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Ungarn festzustellen. Der Bescheid vom 8. Dezember 2017 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Über die Klage konnte aufgrund des übereinstimmenden Einverständnisses der Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
1. Die Klage ist unbegründet, soweit mit ihr die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids begehrt wird. Diese erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen unstreitig vor. Den Klägern wurde bereits am 25. September 2017 in Ungarn der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Der Asylantrag ist damit in Deutschland unzulässig. Für die Rechtmäßigkeit der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist die Frage, ob das Asylsystem des schutzgewährenden Staats in Bezug auf die Behandlung anerkannter Flüchtlinge an systemischen Mängeln leidet, unerheblich (vgl. VG Bayreuth, B.v. 2.5.2017 – B 3 S 17.50490 – juris Rn. 18 ff.; VG Freiburg, U.v. 17.3.2017 – A 5 K 853.16 – juris Rn .18 ff. m.w.N.). Eine weitergehende Prüfung, insbesondere der Frage, ob die Kläger im Fall einer Überstellung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden, sehen weder das nationale Recht noch das Unionsrecht als Voraussetzung für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vor. Ungeachtet dessen, wie die tatsächlichen Verhältnisse für international Schutzberechtigte in Ungarn sind, haben die Kläger als subsidiär Schutzberechtigte keinen Anspruch auf erneute Zuerkennung internationalen Schutzes durch die Beklagte (vgl. OVG NW, U.v. 24.8.2016 – 13 A 63/16.A – juris Rn. 41).
2. Den Klägern steht jedoch ein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu. Ihnen droht in Ungarn aufgrund der dortigen Aufnahmebedingungen für anerkannte Flüchtlinge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK.
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S. gg. Griechenland und Belgien – juris Rn. 263 f. und 365 ff.).
Allerdings verpflichtet diese Norm nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, B.v 2.4.2013 – 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande – ZAR 2013, 336 f.; U.v. 21.1.2011 – 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland – juris Rn. 249 m.w.N.). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725.10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande – ZAR 2013, 336/337). Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und – trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte – behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696.09, M.S.S./Belgien und Griechenland – juris Rn. 250; siehe auch EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – juris Rn. 88 ff.). Bei der Prüfung einer Überstellung kommt es nicht nur auf die generellen Verhältnisse im Zielstaat an, sondern auch auf die individuellen Umstände des konkret Betroffenen. Wenn etwa mit Blick auf bestimmte Erkrankungen ernstliche Zweifel über die Folgen einer Abschiebung bestehen, müssen individuelle und ausreichende Zusicherungen des Zielstaates eingeholt werden (vgl. auch OVG NW, B.v. 8.12.2017 – 11 A 585/17.A – juris Rn. 15). Jedenfalls ist es erforderlich, dass die dort gewährleisteten Rechte praktisch sowie effektiv und nicht nur theoretisch und illusorisch zur Verfügung stehen (zum hierzu: EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10, Paposhvili/Belgien –juris Rn. 182, 187, 191 m.w.N.).
Im Einklang hiermit sieht das Bundesverfassungsgericht bisher bei belastbaren Anhaltspunkten für Kapazitätsengpässe bei der Unterbringung ebenfalls keine Verletzung von Art. 3 EMRK. Vielmehr wird bei drohender Obdachlosigkeit im Zielstaat der Abschiebung in besonderen Einzelfällen – etwa bei Familien mit Kleinstkindern – lediglich ein inländisches Abschiebungshindernis wegen Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne angenommen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 11, 13 f.; siehe auch EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12, Tarakhel/Switzerland – juris Rn. 116 ff.: Garantieerklärung für Unterbringung zusammen als Familie und in einer dem Alter der Kinder entsprechenden Weise).
Gemessen an diesem Maßstab besteht für anerkannte Schutzberechtigte, jedenfalls für solche, die wie die Kläger als Familie mit sechs minderjährigen Kindern im Alter zwischen fünf und 15 Jahren als besonders vulnerabel einzuschätzen sind, in Ungarn die Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK. Die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse (Wohnraum, Nahrungsmittel und Zugang zu sanitären Einrichtungen) wäre allenfalls für eine kurzfristige Übergangszeit gewährleistet. Den anerkannten Schutzberechtigten droht im Anschluss daran akute Obdachlosigkeit und Verelendung, zumal Rückkehrer in der Regel keinen Zugang mehr zur kostenfreien Krankenversicherung finden. Sie haben keine reelle Chance, sich in Ungarn ein Existenzminimum aufbauen zu können.
Dies ergibt die Auswertung der hinreichend verlässlichen und auch ihrem Umfang nach zureichenden Erkenntnislage, die sich erheblich von den im streitgegenständlichen Bescheid zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnissen unterscheidet. Infolge von Gesetzesänderungen im April und Juni 2016 haben sich jedenfalls die Bedingungen für diejenigen anerkannten Schutzberechtigten, die nach dem 1. April 2016 ihren Status erhalten haben, signifikant verschlechtert. Für sie gibt es keinerlei staatliche Integrationsleistungen mehr. Die Möglichkeit zum Abschluss eines Integrationsvertrages – worauf das Bundesamt aber entscheidend abstellte (siehe Bescheid v. 8.12.2017, S. 5 und 7) – wurde ersatzlos abgeschafft; damit entfallen sowohl die mit ihm verbundenen finanziellen Hilfen als auch die individuelle Begleitung des Integrationsprozesses für die Dauer von zwei Jahren. Wie sich aus dem Internetauftritt des Amts für Einwanderung und Asyl (www.bmbah.hu) unter der Rubrik „Häufige Fragen – Als Flüchtlinge in Ungarn“ ergibt, müssen anerkannt Schutzberechtigte nunmehr binnen 30 – statt zuvor 60 – Tagen nach der Statusentscheidung die Aufnahmezentren verlassen. Der beitragsfreie Zugang zur Krankenversicherung wird nur noch für einen Zeitraum von sechs Monaten (zuvor: 12 Monate) ab Zuerkennung des Status gewährt (siehe auch: Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 94). Die Migrationsbehörde kann sogar rückwirkend Geld von ihnen zurückfordern (vgl. Ecre, Asylum in Hungary: Damaged beyond rep…, März 2017, S. 6; Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 85 ff.). Anerkannte Schutzberechtigte erhalten damit keine Unterstützung mehr bei der Wohnungssuche, finanzielle Hilfen, Sprachkurse oder sonstige staatliche Integrationshilfen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt steht anerkannten Schutzberechtigten zwar weiterhin offen, allerdings sind bestimmte Berufsfelder ungarischen Staatsbürgern bzw. Ausländern mit langem Aufenthalt vorbehalten (Aida, Country Report: Hungary, Februar 2017, S. 93 f.).
Zudem ist nach dem Rückzug des ungarischen Staates aus dem Integrationsprogramm ungewiss, ob anerkannte Schutzberechtigte in anderer Weise Unterstützung bei ihrer Integration und der Einforderung ihnen zustehender Rechte erhalten können. Im Lichte des Art. 3 EMRK kommt es hierauf jedoch an. Die spezifischen Hilfsbedürfnisse international Schutzberechtigter verlangen, dass ihnen zumindest in einer ersten Übergangsphase ein Mindestmaß an Fürsorge und Unterstützung bei der Integration zukommt. Die – möglicherweise garantierte – Inländergleichbehandlung muss auch faktisch und nicht nur formalrechtlich gewährleistet sein (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 21 unter Verweis auf HessVGH, U.v. 4.11.2016 – 3 A 1322/16.A – juris Rn. 25). Anerkannte Schutzberechtigte können nicht ohne weiteres die Rechtspositionen, die die Rechtsordnung des Zielstaates formal gewährt, effektiv einfordern. Sie müssen erst in eine der einheimischen Bevölkerung vergleichbare tatsächliche Position einrücken, die ihnen die Teilhabe an den gewährten Rechten ermöglicht (vgl. VGH BW, B.v. 15.3.2017 – A 11 S 2151/16 – juris Rn. 25).
Nichtregierungsorganisationen wie das Ungarische Rote Kreuz oder das Ungarische Helsinki Komitee sind offenbar vor allem damit befasst, Asylantragstellern im ungarischen Asylsystem beizustehen. Zu ihrer Arbeit mit anerkannten Schutzberechtigten gibt es nur wenige Erkenntnisse (vgl. hierzu VG Berlin, B.v. 17.7.2017 – 23 l 507.17 A – juris Rn. 15 m.w.N.). So heißt es zwar im Bericht des Ungarischen Helsinki Komitees vom März 2017, Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Einrichtungen leisteten Integrationsarbeit und seien bei der Suche nach einer Unterkunft und einer Arbeitsmöglichkeit behilflich, ebenso bei der Familienzusammenführung oder dem Erlernen der ungarischen Sprache (siehe HHC, Under Destruction, S. 3). Migrant Solidarity Group of Hungary Migszol versteht sich primär als politische Plattform, bewirbt eigene Sprachkurse und betont, sonst keine humanitäre Hilfe zu leisten (siehe: http://www.migszol.com/what-we-do.html: “We do not do humanitarian work [there are many great voluntary organizations who do], but political activism”). Soweit ersichtlich ist im Bereich der Integration vor allem die Hungarian Association for Migrants Menedék tätig (vgl. http://menedek.hu/en/about-us). In einzelnen Projekten, die teilweise vom Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union unterstützt werden, leistet Menedék in mehreren Städten Ungarns Integrationsarbeit beispielsweise durch soziale und rechtliche Beratungen oder Hilfe bei der Suche nach einer Beschäftigung. Außerdem werden Kindergarten- und Schulplätze vermittelt (zu den aktuellen Projekten im Einzelnen siehe: http://menedek.hu/en/projects). Insofern scheinen damit vereinzelte Angebote in einigen Städten Ungarns verfügbar zu sein, wobei einige Unterstützungsleistungen offensichtlich nur zeitlich befristet angeboten werden konnten (siehe: http://menedek.hu/en/projects/closed).
Selbst kirchliche Organisationen folgen inzwischen mehrheitlich der staatlichen Flüchtlingspolitik oder schweigen zumindest (siehe etwa Bericht in Spiegel Online, Warum Orbán alle Asylbewerber inhaftieren will, v. 14.1.2017, http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-ungarn-viktor-orbans-offensive-a-1129919.html). Anhaltspunkte dafür, dass sie gegenwärtig über Einzelfälle hinaus aktiv in die Integration anerkannter Schutzberechtigter eingebunden sind, sind nicht ersichtlich. Zuletzt soll die Regierung Orbán die Einführung einer Strafsteuer für Flüchtlingshelfer erwogen haben. Neben stärkerer Kontrolle droht deren Mitarbeitern zudem die Ausweisung (http://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/viktor-orban-ungarn-fluechtlinge-helfer-strafsteuer; https://www.tagesschau.de/ausland/ungarn-fluechtlinge-179.html, jeweils v. 18.1.2018).
Unter diesen Umständen wird inzwischen abgeraten, sowohl Dublin-Überstellungen als auch Rückführungen anerkannter Schutzberechtigter nach Ungarn vorzunehmen (vgl. Ecre, Asylum in Hungary: Damaged beyond rep…, März 2017, S. 7). Hinsichtlich des ungarischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen wird ohnehin jedenfalls bei Dublin-Rückkehrern von systemischen Mängeln ausgegangen (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – juris, Leitsatz; HessVGH, B.v. 24.8.2017 – 4 A 2986/16.A – juris, Leitsatz; OVG NW, B.v. 8.12.2017 – 11 A 585/17.A – juris). Zumindest bei besonders schutzbedürftigen Personen wie Familien mit mehreren (Klein) Kindern ist es unter den aktuellen Umständen als unzumutbar zu erachten, nach Ungarn zurückzukehren.
Nach alledem war die Beklagte deshalb unter insoweitiger Aufhebung des Bescheids vom 8. Dezember 2017 zu verpflichten, festzustellen, dass bei den Klägern das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Ungarn vorliegt. Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
4. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.