Verwaltungsrecht

Rechtmäßige Ausweisung eines straffälligen türkischen Asylbewerbers

Aktenzeichen  10 ZB 15.837

Datum:
11.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ARB 1/80 ARB 1/80 Art. 7, Art. 13, Art. 14
VwGO VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3
AufenthG AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
EMRK EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. (redaktioneller Leitsatz)
Mit der Einführung des zum 1. Januar 2016 anwendbaren Ausweisungsrechts geht keine grundsätzliche Verschlechterung der Rechtsposition eines unter dem Schutz von Art. 14 ARB 1/80 stehenden türkischen Staatsangehörigen einher. (redaktioneller Leitsatz)
Die Gefahrenprognose bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers kann grundsätzlich von den Gerichten ohne Zuziehung eines Sachverständigen vorgenommen werden. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 14.1731 2016-03-11 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 19. November 2014 weiter. Mit diesem Bescheid wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung aus der Haft in die Türkei angeordnet und die Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung auf zehn Jahre befristet.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 1.) noch wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; 2.) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, die die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigen könnten, lägen nur vor, wenn der Kläger einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
1.1 Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers, der vom Landgericht M. mit Urteil vom 27. September 2012 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten wegen schweren sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen in zwei Fällen verurteilt wurde, auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG in der bis 31. Dezember 2015 geltenden Fassung (a. F.) in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bei Vorliegen eines zwingenden Ausweisungsgrundes nach § 53 Nr. 1 AufenthG und unter der Annahme eines assoziationsrechtlich begründeten Aufenthaltsrechts nach Ausübung von Ermessen als rechtmäßig erachtet. Der Beklagte sei zutreffend von einer konkreten Wiederholungsgefahr ausgegangen, die er zum Anlass für die ausschließlich spezialpräventiv motivierte Ausweisung genommen habe. Die Ausweisung erweise sich auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der 2001 geborene Sohn des Klägers im Bundesgebiet lebe, als verhältnismäßig, zumal dessen Mutter schon seit 2004 vom Kläger geschieden sei und das alleinige Sorgerecht besitze.
Im Zulassungsverfahren trägt der Kläger vor, das Verwaltungsgericht habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass er erstmals eine Haftstrafe verbüße und die bisherige Führung in der Haft sowie seine persönliche Entwicklung die Annahme zuließen, dass ein Rückfallrisiko des Klägers als gering einzustufen sei. Das Urteil verletze auch das Recht des Klägers auf Achtung seines Familien- und Privatlebens, da er Vater eines deutschen Kindes sei, dessen Wohl im Hinblick auf die bestehende starke emotionale Bindung die weitere Anwesenheit des Klägers im Bundesgebiet erfordere; zwar bestehe derzeit nur postalischer Kontakt zwischen Vater und Sohn, was jedoch auf die Ablehnung entsprechender Besuchsanträge zurückzuführen sei. Das Verwaltungsgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass bei einer Haftentlassung nach 2/3 der Haftzeit das Kind immer noch minderjährig sein werde. Die Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung ergebe sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch daraus, dass der Kläger schon seit 2001 im Bundesgebiet lebe und in der Türkei keinerlei Perspektive habe. So seien in einem Fall einem im Alter von 23 Jahren eingereisten Ausländer nach einem Aufenthalt von lediglich zehn Jahren zur Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung führende gefestigte Bindungen zugebilligt worden. Auch das Bundesverwaltungsgericht stelle bei Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden seien und denen ein Leben im Land ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug mehr hätten, nicht zugemutet werden könne, eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fest. Das Verwaltungsgericht habe die besonderen Umstände in der Person des Klägers und das Allgemeininteresse im Ergebnis fehlerhaft abgewogen; dies folge bereits aus dem Umstand, dass weder die Mutter des deutschen Sohnes des Klägers als Zeugin vom Verwaltungsgericht vernommen worden sei noch das Gutachten des Landratsamts N. – Amt für Jugend und Familie – vom 8. September 2014 hinreichend gewürdigt worden sei.
1.2 Diese Ausführungen begründen aber – gemessen an den nunmehr maßgeblichen Regelungen der §§ 53 ff.. AufenthG in der ab 1. Januar 2016 gültigen Fassung des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl I S. 1386), zuletzt geändert durch das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl I S. 394), – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.
1.2.1 Die Beurteilung, ob ein Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 VwGO vorliegt, richtet sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung ist daher zu berücksichtigen. Die Änderung der Sach- und Rechtslage ist allerdings grundsätzlich nur in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen relevant (BayVGH, B. v. 24.2.2016 – 10 ZB 15.2080 – juris; Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2014, § 124a Rn. 57). Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts (vgl. z. B. BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), also hier der Entscheidung über den Zulassungsantrag.
Der Senat hat daher die streitbefangene Ausweisung (und das angefochtene verwaltungsgerichtliche Urteil) unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens in Ermangelung einer entgegenstehenden Übergangsregelung anhand der §§ 53 ff. AufenthG in der aktuell gültigen Fassung (s. 1.2) zu überprüfen. Seit der Rechtsänderung zum 1. Januar 2016 differenziert das Aufenthaltsgesetz nicht mehr zwischen der zwingenden Ausweisung, der Ausweisung im Regelfall und der Ermessensausweisung, sondern verlangt für eine Ausweisung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die für ein Ermessen der Ausländerbehörde keinen Raum mehr lässt. Die Ausweisungsentscheidung ist durch das Gericht in vollem Umfang nachprüfbar (Welte, InfAuslR 2015, 426; Cziersky-Reis in Hofmann, Kommentar zum Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 53 Rn. 30; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 11. Aufl. 2016, Vorb §§ 53 – 56 Rn. 13 und § 53 Rn. 5 ff.; a.A. Marx, ZAR 2015, 245/246). Eine – wie hier – nach altem Recht verfügte Ermessensausweisung wird nach Inkrafttreten der §§ 53 bis 55 AufenthG in ihrer Neufassung am 1. Januar 2016 nicht rechtsfehlerhaft, wenn sie den ab diesem Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Anforderungen entspricht, also gemäß der zentralen Ausweisungsnorm des § 53 Abs. 1 AufenthG (als Grundtatbestand; vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097 S. 49 f.) der weitere Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen, denn er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Damit gibt die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG exakt die Voraussetzungen wieder, die nach ständiger Rechtsprechung (z. B. EuGH, U. v. 8.12.2011 – Rs. C-371/08 Ziebell -, juris Rn. 80; BayVGH‚ U. v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen erfüllt sein mussten.
Die Beteiligten gehen übereinstimmend davon aus, dass dem Kläger im Zeitpunkt der Ausweisungsentscheidung ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zustand. Er kommt damit grundsätzlich in den Genuss der ihn gegenüber anderen Drittstaaten privilegierenden Vorschriften des Assoziationsratsbeschlusses, also auch des Verschlechterungsverbots (sog. Stillhalte-Klausel) nach Art. 13 ARB 1/80. Danach dürfen die Mitgliedstaaten keine neuen innerstaatlichen Maßnahmen einführen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen oder einen Familienangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen unterworfen wird als denjenigen, die bei Inkrafttreten der Bestimmung am 1. Dezember 1980 in dem Mitgliedstaat galten (vgl. BVerwG, U. v. 28.4.2015 – 1 C 21. 14 – InfAuslR 2015, 327).
Allerdings bestehen auch mit Blick auf diese Bestimmung keine Bedenken gegen die Anwendung der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Ausweisungsvorschriften auf den Kläger als assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen. Geht man davon aus, dass Art. 13 ARB 1/80 auch im Zusammenhang mit der Änderung nationaler Ausweisungsvorschriften Gültigkeit beansprucht, obwohl diese keinen unmittelbaren Bezug zur Regelung des Arbeitsmarktzugangs aufweisen (vgl. hierzu Hailbronner, AuslR, Stand: Januar 2016, D 5.2, Art. 13 Rn. 10 f.), geht mit der Einführung des zum 1. Januar 2016 anwendbaren Ausweisungsrechts keine grundsätzliche Verschlechterung der Rechtsposition eines unter dem Schutz von Art. 14 ARB 1/80 stehenden türkischen Staatsangehörigen einher. Denn er kann auch künftig ausschließlich aus spezialpräventiven Gründen und nur dann ausgewiesen werden, wenn sein Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt (vgl. § 53 Abs. 3 AufenthG); außerdem ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wie sich aus § 53 Abs. 3 letzter Halbsatz AufenthG und dem System von § 53 Abs. 2, §§ 54, 55 AufenthG ergibt. Dabei sind unter Abwägung der gegenläufigen Interessen alle Umstände und Besonderheiten des konkreten Einzelfalls einzustellen (Bauer in Bergmann/Dienelt, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 56 f.; bisher schon: BVerwG, U. v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – InfAuslR 2010, 3), so dass sich die materiellen Anforderungen, unter denen ein assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger ausgewiesen werden darf, nicht zu seinen Lasten geändert haben. Dass nach dem neuen Recht eine Ausweisung nach Betätigung des ausländerbehördlichen Ermessens nicht mehr in Betracht kommt, ist für einen betroffenen Ausländer nicht ungünstiger (Bauer in Bergmann/Dienelt, a. a. O., Rn. 59; a.A. Cziersky-Reis in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 53 AufenthG Rn. 42), denn es lässt sich schon nicht feststellen, dass es in der Vergangenheit tatsächlich Fälle gab, in denen die Ausländerbehörde von einer eigentlich möglichen Ausweisung aus Ermessensgründen Abstand genommen hat. Im Übrigen ermöglicht das neue Ausweisungsrecht eine volle gerichtliche Kontrolle der Ausweisungsentscheidung, so dass jedenfalls in der Gesamtschau eine Verschlechterung der Rechtspositionen eines durch Art. 13, 14 ARB 1/80 geschützten türkischen Staatsangehörigen nicht feststellbar ist (vgl. BayVGH, U. v. 8.3.2014 – 10 B 15.180 – juris Rn. 28).
1.2.2 Die Ausweisung des Klägers ist unter Berücksichtigung des dargelegten Maßstabs rechtmäßig, weil die vom Verwaltungsgericht angenommene Wiederholungsgefahr nach wie vor gegenwärtig besteht und nach der erforderlichen Interessenabwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls (§ 53 Abs. 1, 2 AufenthG) die Ausweisung für die Wahrung dieses Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
Der Senat sieht auch unter Anwendung des § 53 Abs. 1 AufenthG eine erhebliche Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger. Bei der insoweit zutreffenden Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. zuletzt: BayVGH, B. v. 16.3.2016 – 10 ZB 15. 2.1.2009 – juris). Gemessen hieran hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass der Kläger sich schwerster, planvoll durchgeführter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung schuldig gemacht hat und deshalb zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde; unter den gravierenden Tatfolgen haben die beiden Opfer bis heute zu leiden. Der Kläger, dessen Revision gegen das Strafurteil vor dem Bundesgerichtshof erfolglos geblieben ist, leugnet bis heute trotz eindeutiger gegenteiliger Beweislage seine Taten; zuletzt beteuerte er in der mündlichen Verhandlung vor dem Erstgericht am 11. März 2015 seine Unschuld. Vor dem Hintergrund dieses auf die den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten bezogenen Verhaltens kann schlechterdings nicht davon die Rede sein, dass der Kläger in der Haft eine persönliche Entwicklung in eine positive Richtung durchgemacht habe, nach der das Rückfallrisiko als „gering und klar unterdurchschnittlich einzustufen“ sei; ebensowenig kann der Gefahrenprognose entgegengehalten werden, der Kläger sei als „Erstverbüßer“ besonders beeindruckt und stelle daher keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr dar. Insbesondere die in der Strafhaft begangenen Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit lassen nicht den Schluss zu, der Kläger werde nach seiner Haftentlassung keine Straftaten mehr begehen; der Kläger ging im Jahr 2012 gegen einen Psychologen der Justizvollzugsanstalt tätlich vor und beleidigte ihn, was zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen durch Strafbefehl des Amtsgerichts Kempten vom 27. Mai 2013 wegen Beleidigung in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung geführt hat. Mit Urteil des Amtsgerichts Straubing vom 31. Juli 2014 wurde er des Weiteren zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt; Hintergrund war dabei eine Auseinandersetzung mit einem Justizvollzugsbeamten. Angesichts dieser Sachlage bedarf es keiner weiteren Begründung der Gefahrenprognose.
Soweit im Zulassungsantrag behauptet wird, es müsse ein Prognosegutachten zur konkreten Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger eingeholt werden, führt dieser Vortrag nicht zur Zulassung der Berufung. Bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers ist hinsichtlich der gebotenen Gefahrenprognose nicht alleine auf das Strafurteil und die diesem zugrundeliegende Straftat, sondern auf die Gesamtpersönlichkeit des Täters abzustellen. Dabei sind auch nachträgliche Entwicklungen einzubeziehen. Bei dieser Prognoseentscheidung bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die den Richtern allgemein zugänglich sind. Die inmitten stehende Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von den Gerichten regelmäßig ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (vgl. BayVGH, B. v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris Rn. 22 m. w. N.). Ein Sachverständigengutachten kann die eigene Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern hierfür allenfalls eine Hilfestellung bieten (BVerwG, B. v. 13.3.2009 – 1 B 20.08 – juris Rn. 5). Der Zuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 11). Ein solcher Ausnahmefall liegt beim Kläger nicht vor. Vielmehr war es dem Erstgericht möglich, eine durch das Zulassungsvorbringen nicht erschütterte Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr auch ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens zu treffen.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ist die Ausweisung weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Das Verwaltungsgericht hat sämtliche entscheidungsrelevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, die auch in diese Interessenabwägung einzustellen sind, und sie in nicht zu beanstandender Weise gewichtet.
Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinn von § 53 Abs. 1 AufenthG liegt beim Kläger als Folge der rechtskräftigen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) vor. Allerdings wiegt auch sein Bleibeinteresse im Sinn von § 53 Abs. 1 AufenthG wegen des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis im Zeitpunkt der Ausweisung und seines mehr als fünf Jahre andauernden rechtmäßigen Aufenthalts besonders schwer. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung kommt jedoch dem Ausweisungsinteresse überwiegendes Gewicht zu, das sich insbesondere aus der (bereits dargestellten) erheblichen Gefahr, die der Kläger durch die drohende Begehung weiterer Straftaten im Bundesgebiet darstellt, ergibt. Die Ausweisung entspricht daher auch der ab 1. Januar 2016 geltenden neuen Rechtslage.
Hieran ändern auch die Ausführungen des Klägers zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung nichts, die keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils rechtfertigen. Der bloße Verweis auf die Urteile des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die in Sachen Beldjoudi (U. v. 26.3.1992 – 55/1990/246/317 – InfAuslR 1994, 86), Moustaquim (U. v. 18.2.1991 – 31/1989/191/291 – InfAuslR 1991, 149), Amrollahi (U. v. 11.7.2002 – 56811/00 – Inf-AuslR 2004, 180) sowie auf den Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Sachen Lamguindaz (InfAusR 1995, 133) reicht nicht aus, um die Feststellungen des Erstgerichts zur Bindung des Klägers an die Bundesrepublik, zur Schwere seiner Straftat und zu seinen Beziehungen in die Türkei und die darauf beruhende Abwägungsentscheidung ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Insbesondere fehlt es an einer substantiierten Darlegung, inwieweit die vom Kläger angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR mit der Situation des Klägers vergleichbar sind. Im Fall Beldjoudi war der ausgewiesene Ausländer mit einer Staatsangehörigen des Aufnahmestaates verheiratet, der nicht zugemutet werden konnte, mit ihm ins Ausland zu ziehen. Auch im Fall Amrollahi hatte der Beschwerdeführer eine Staatsangehörige des Aufnahmestaates geheiratet und mit ihr gemeinsame Kinder. Der Kläger hat demgegenüber schon seit langem keine eigene Kernfamilie in der Bundesrepublik mehr. Die Entscheidung im Fall Moustaquim beruht darauf, dass der Beschwerdeführer die Straftaten als Jugendlicher begangen hatte; der Kläger hingegen war bei Begehung seiner Straftaten schon mehr als 40 Jahre alt. Im Fall Lamguindaz konnte der Beschwerdeführer die Sprache seines Heimatlandes kaum verstehen und nicht lesen und schreiben (vgl. zu den vorstehend angeführten Urteilen des EGMR: BayVGH, B. v. 26.1.2015 – 10 ZB 13.898 – juris). Der Kläger dagegen spricht fließend türkisch, nachdem er mehr als die ersten 30 Jahre seines Lebens in der Türkei zugebracht und demnach seine gesamte Sozialisation dort erfahren hat. Angesichts dieses Umstandes vermag der Senat die Behauptung, er habe keinerlei Perspektiven in der Türkei, nicht nachzuvollziehen. Im Übrigen kann auch nicht davon die Rede sein, dass dem Kläger „eine Trennung von seiner Familie“ zugemutet würde; schließlich ist er bereits seit dem Jahr 2004 von seiner damaligen Ehefrau geschieden, ohne dass er seither eine familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet – auch nicht mit seinem Sohn – geführt hätte.
Unzutreffend ist auch das Zulassungsvorbringen, das Verwaltungsgericht habe das Gutachten des Landratsamts N. – Jugend und Familie – vom 8. September 2014 in seiner Entscheidung nicht ausreichend gewürdigt. Vielmehr gibt das angefochtene Urteil (UA, Rn. 31) die wesentlichen Aussagen der genannten Stellungnahme wieder, und folgert daraus in nachvollziehbarere Weise, dass der Sohn für seine Entwicklung nicht auf den Vater angewiesen sei, zumal sich die Beziehung auch künftig während der Haftzeit vor allem auf telefonische und postalische Kontakte sowie auf gelegentliche Besuche beschränken werde. Der Frage, ob der Sohn zum voraussichtlichen Zeitpunkt der Haftentlassung des Klägers noch minderjährig oder bereits volljährig sein wird, kommt nicht die ihr im Zulassungsvorbringen zugemessene Bedeutung zu, weil der derzeit bereits fast 15-jährige Sohn auch bei frühester möglicher Entlassung des Klägers zum 2/3-Zeitpunkt seine persönliche Entwicklung ohne maßgeblichen Beistand seines Vaters weitestgehend abgeschlossen haben würde. Selbst wenn dies nicht der Fall wäre, muss die Ausweisung des Klägers zum heutigen Zeitpunkt als „unerlässlich“ zur Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft im Hinblick auf die von ihm ausgehende Gefahr der neuerlichen Begehung schwerer und schwerster Straftaten nach Haftentlassung angesehen werden.
Schließlich führt auch der Vorwurf, das Erstgericht habe die Einvernahme der Mutter des Sohns des Klägers als Zeugin „rechtsfehlerhaft“ versäumt, nicht zur Annahme ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Ungeachtet des Umstandes, dass der Kläger die Stellung eines entsprechenden Beweisantrags in der mündlichen Verhandlung (§ 86 Abs. 2 VwGO) unterlassen hat, wird schon nicht vorgetragen, welche besonderen, bisher nicht bekannten Umstände die Mutter als Zeugin vorgetragen hätte, die für die Annahme des Bestehens einer für das Kindeswohl bedeutsamen Beziehung zwischen dem Kläger und seinem Sohn sprechen könnten. Allein der (angebliche) Wunsch von Mutter und Sohn, den Kläger künftig häufig in der Haft zu besuchen, reicht hierfür nicht aus.
Auch zeigt das Zulassungsvorbringen keine ernstlichen Zweifel hinsichtlich der Länge (10 Jahre) der im Ausweisungsbescheid festgesetzten und durch das angefochtene Urteil gebilligten Befristung der Wirkungen der Ausweisung und der (geplanten) Abschiebung auf. Der pauschale Verweis auf die bereits im Zusammenhang mit der Ausweisung gemachten Umstände, die zugunsten des Klägers sprechen, reicht hierfür nicht aus.
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ( § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend hinreichend dargelegt. Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist und darlegen, weshalb der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt.
Der Kläger hat zwar eine Rechtsfrage formuliert, indem er als klärungsbedürftig erachtet, ob die Einführung der Zulassungsberufung gegen die Stillhalte-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 verstößt. Allerdings ist diese Frage bereits durch den Senat entschieden (BayVGH, B. v. 26.1.2015 – 10 ZB 13.898 – juris Rn. 21 ff.; zuletzt: B. v. 19. Mai 2015 – 10 ZB 15.331 – juris). Auch hat der Kläger nicht dargelegt, dass diese Frage für den konkreten Rechtsstreit überhaupt entscheidungserheblich ist. Insbesondere zeigt er nicht auf, dass die Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu unterschiedlichen Beurteilungszeitpunkten in seinem konkreten Ausweisungsfall zu einem unterschiedlichen Ergebnis geführt hätte, er insbesondere durch die Entscheidung im Zulassungsverfahren schlechter gestellt wäre als in einem Berufungsverfahren. Der Kläger unterstellt mit seinem Zulassungsvorbringen lediglich, die Berücksichtigung der „noch zu erzielenden Ergebnisse…bezüglich der Persönlichkeit und der Gefährlichkeit“ führe in einem Berufungsverfahren dazu, dass zum dann maßgeblichen Zeitpunkt die Gefahrenprognose für ihn vorteilhafter ausfallen werde.
Schließlich hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Entscheidungen vom 13. Dezember 2012 und vom 14. Mai 2013 (U. v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – und U. v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – beide juris Rn. 34 bzw. 23) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U. v. 19.2.2009 – Rs. C-228/06, Soysal; U. v. 17.9.2009 – Rs. C-242/06, Sahin – beide juris Rn. 61 bzw. 67). bereits zu verfahrensrechtlichen Regelungen, die sowohl ARB-berechtigte türkische Staatsangehörige als auch Unionsbürger in gleicher Weise betreffen, entschieden, dass der Erlass oder Wegfall von solchen Regelungen nicht im Widerspruch zu den Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 ZP stehe.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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