Verwaltungsrecht

Systemische Schwachstellen im Asylverfahren Ungarns

Aktenzeichen  M 26 S 16.50664

Datum:
13.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 34a Abs. 1 S. 2

 

Leitsatz

Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann die Frage nach systemischen Schwachstellen im Asylverfahren Ungarns nicht mit ausreichender Sicherheit beantwortet werden, da dies in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich bewertet wird. Die Entscheidung über eine Abschiebung hat dacher im Wege einer allgemeinen Interessenabwägung zu erfolgen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 24. August 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Überstellung nach Ungarn im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller, ein Staatsangehöriger von Marokko, reiste am … Juli 2016 unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die polizeiliche Überprüfung ergab, dass der Antragsteller bereits am … Mai 2015 unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist, sein Asylantrag abgelehnt und er am … Februar 2016 im Wege einer sogenannten Dublin-Überstellung nach Ungarn abgeschoben worden war. An diesem Tag – es ergab sich ein entsprechender Eurodac-Treffer – hatte der Antragsteller in Ungarn (A.) einen Asylantrag gestellt. Ein an Ungarn gerichtetes Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom … August 2016 blieb unbeantwortet.
Mit Bescheid vom 24. August 2016, zugestellt am … August 2016, ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an (Nr. 1 des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf a… Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 2). Zur Begründung wurde ausgeführt, Ungarn sei für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren lägen nicht vor.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am … August 2016 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage und beantragte außerdem sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Er wandte sich gegen die Abschiebung nach Ungarn mit der Begründung, dass er dort niemanden habe. Er habe in Ungarn auch keinen Asylantrag stellen wollen. Fingerabdrücke seien ihm unter Staatsgewalt abgenommen und es sei ihm Haft angedroht worden. Er sei knapp über einen Monat eingesperrt worden, habe auf dem Boden schlafen müssen und kaum etwas zu essen bekommen. Er habe eine Frau in B… und wolle diese nicht wieder allein lassen. Der Antragsteller könne nicht nach Marokko zurück und bitte um Asyl in Deutschland, wo er ein gefestigtes Umfeld habe.
Mit Schriftsatz vom 1. September 2016 übermittelte das Bundesamt für die Antragsgegnerin die Behördenakte.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Hauptsacheverfahren sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist begründet. Der Antragsteller darf aufgrund offener Erfolgsaussichten der Hauptsache und seinem das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an der Rückführung überwiegenden Interesse auf aufschiebende Wirkung derzeit nicht nach Ungarn abgeschoben werden.
Im Rahmen eines Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Es hat bei der Entscheidung hierüber abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Im vorliegenden Fall sind die Erfolgsaussichten der vom Antragsteller erhobenen Klage als offen anzusehen. Denn es ist fraglich, ob der Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. August 2016 in Bezug auf die angeordnete Abschiebung nach Ungarn gemäß § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG rechtmäßig ist.
Es kann insoweit dahinstehen, wie sich auswirkt, dass der Antragsteller nach bereits erfolgter Dublin-Überstellung nach Ungarn erneut illegal nach Deutschland einreiste (vgl. hierzu BVerwG, EuGH-Vorlage v. 27.4.2016 – 1 C 22/15 – juris) und außerdem im Klage- bzw. Antragsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO um Asyl nachsuchte. Denn im Fall des Antragstellers ist jedenfalls unklar, ob sich nicht die Überstellung nach Ungarn wegen systemischer Schwachstellen des dortigen Asyl- und Aufnahmesystems als derzeit unmöglich erweist.
Gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO hat der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für den Fall, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GrCH – mit sich bringen, die Prüfung der in Kap. III vorgesehenen Kriterien fortzusetzen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst zum zuständigen Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kap. III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann.
Ein hinreichend schwerer Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Art. 4 GRCh bzw. des inhaltsgleichen Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK – (vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh) ist im asylrechtlichen Zusammenhang etwa gegeben bei einer systemischen Nichtbeachtung des sog. Refoulementverbots (vgl. Art. 33 Nr. 1 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951/Genfer Flüchtlingskonvention – GFK). Systemische Schwachstellen liegen damit insbesondere dann vor, wenn dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, wenn das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder wenn er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (OVG NW, U. v. 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 126; VG München, B. v. 18.1.2016 – M 24 S 15.50827 u. a. – juris Rn. 26; U. v. 11.9.2015 – M 23 K 15.50045 – juris Rn. 24).
Die aktuellen Erkenntnismittel enthalten erhebliche Indizien dafür, dass das ungarische Asylsystem derzeit wegen der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen der ungarischen Asylgesetzgebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sog. Dublin-Rückkehrern den Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt, das die materielle Prüfung ihres Asylantrages gewährleistet (VG München, B. v. 18.1.2016 – M 24 S 15.50827 u. a. – juris Rn. 28). Insbesondere besteht im Hinblick auf die Regelungen zum sicheren Drittstaat und die Einstufung Serbiens als sicherer Drittstaat die Gefahr, dass Asylbewerber ohne inhaltliche Prüfung ihres Antrags nach Serbien abgeschoben und damit gegen das Refoulement-Verbot verstoßen wird.
Das ungarische Parlament hat am 6. Juli 2015 weitreichende Verschärfungen des ungarischen Asylrechts und weitgehende Beschleunigungen des Asylverfahrens sowie Hindernisse im Zugang zum Asylverfahren beschlossen, die zum 1. August 2015 in Kraft getreten sind, sowie am 4. September 2015 weitere Maßnahmen beschlossen, die am 15. September 2015 in Kraft getreten sind (vgl. hierzu ausführlich und grundlegend VG München, B. v. 8.7.2016 – M 8 S 16.50302 – juris). Danach soll unter anderem das Asylverfahren annulliert werden, wenn Asylsuchende die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte länger als 48 Stunden verlassen; gleichzeitig dürfen Flüchtlinge bis zum Ende ihres Asylverfahrens inhaftiert werden. Durch die ungarische Regierung wurde im Verordnungswege eine Liste für sichere Drittstaaten beschlossen, darunter Serbien als Beitrittskandidat für die Europäische Union.
Ob systemische Mängel des ungarischen Asyl- und Aufnahmesystems vorliegen, wird in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung innerhalb Deutschlands, Bayerns und sogar von den für Verfahren nach der Dublin III-VO zuständigen Kammern des Bayerischen Verwaltungsgerichts München kontrovers und unterschiedlich bewertet (systemische Mängel verneinend z. B.: VG München, U. v. 31.8.2016 – M 7 K 15.50718 – juris; VG München, B. v. 5.8.2016 – M 1 S 16.50383 – juris; systemische Mängel bejahend z. B.: VGH BW, U. v. 5.7.2016 – A 11 S 974/16 – juris; VG München, B. v. 8.7.2016 – M 8 S 16.50302 – juris; VG München, B. v. 4.8.2016 – M 24 S 16.50492 – juris; jedenfalls bzgl. Familie mit minderjährigem Kind bejahend VG München, B. v. 19.7.2016 – M 12 S 16.50456 – juris).
Schon vor diesem Hintergrund kann im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die Frage nach systemischen Schwachstellen im Asyl- und Aufnahmeverfahren Ungarns nicht mit ausreichender Sicherheit beantwortet werden. Hinzu kommen jüngste Entwicklungen im politischen System Ungarns anlässlich des am 2. Oktober 2016 durchgeführten Referendums über die quotale EU-weite Verteilung von Flüchtlingen. Die generellen und politischen Folgen dieses Referendums sind derzeit, auch wenn es die unmittelbare derzeitige asylrechtliche Vollzugspraxis Ungarns nicht zu Gegenstand hatte, nicht abschätzbar. Laut eines – freilich kritisch und mit der notwendigen Differenzierung zu bewertenden – Amnesty-International-Berichts aus dem September 2016 („Stranded Hope – Hungary’s sustained attack on the rights of refugees and migrants“, EUR 27/4864/2016, abrufbar unter www.amnesty.de) ging Ungarn veranlasst durch seine rechtskonservative Regierung auch und gerade vor dem Hintergrund des Referendums bewusst systematisch und mit äußerster, nicht rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechender Härte gegen Flüchtlinge im Land vor. Auch Verstöße gegen das Non-Refoulement-Prinzip durch Rückführungen nach Serbien werden geschildert. Nachdem das Referendum am von der ungarischen Verfassung vorgeschriebenen Quorum (50 Prozent) scheiterte, kündigte die Regierung umgehend an, ihren Kurs fortzusetzen und ggf. die Verfassung zu ändern (vgl. dazu die Tagespresse und Onlinemedien, etwa www.sueddeutsche.de oder www.spiegel.de).
Nach alledem verbleibt es somit bei einer allgemeinen Interessenabwägung. Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt hier das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids. Denn würde der Sofortvollzug in Kraft bleiben und auf dieser Basis eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt, käme es trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache rein faktisch wohl zu einem nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten revidierbaren Zustand. Ein solches Vorgehen würde den Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) widersprechen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)

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