Verwaltungsrecht

Teilweise begründete Klage

Aktenzeichen  M 11 K 16.34280

Datum:
15.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 143700
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 26 Abs. 3, Abs. 4 S. 2, Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat – soweit über sie noch zu entscheiden war – Erfolg.
Über die Klage konnte ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Parteien damit einverstanden sind (§ 101 Absatz 2 VwGO).
1. Soweit die Klage sich ursprünglich auch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter, mithin gegen Nr. 1 und Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids gerichtet hat, ist hierüber nicht mehr zu entscheiden, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 27. September 2017 insoweit die Klagerücknahme erklärt hat. Diesbezüglich ist somit die Rechtshängigkeit entfallen, § 92 VwGO.
2. Die zulässige Klage ist begründet, da die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen; der angefochtene Bescheid ist in den Nummern 3 bis 6, welche dieser Verpflichtung entgegenstehen, aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat aus dem Gesichtspunkt des subsidiären Schutzes für Familienangehörige einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i.V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen ledigen subsidiär Schutzberechtigten bei Erfüllung der in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5 AsylG genannten Voraussetzungen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Das bedeutet, dass einem Elternteil eines minderjährigen ledigen stammberechtigten Kindes, hier M., dem der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ebenfalls der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird, wenn die weiteren Voraussetzungen von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5 AsylG erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Der Kläger hat die Vaterschaft des o.g. Kindes anerkannt. Somit ist er gemäß § 1592 Nr. 2 BGB Vater des Kindes. Die Entscheidung vom 19. April 2017, mit der dem Kind der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, ist unanfechtbar im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG.
Auch der Umstand, dass das Kind des Klägers im Bundesgebiet geboren ist, spricht nicht dagegen, dass die Familieneinheit schon im Herkunftsstaat bestanden hat im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Das VG Sigmaringen führt zu dem parallel zu beurteilenden Fall eines minderjährigen ledigen Geschwisters eines minderjährigen ledigen Stammberechtigten nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG aus (VG Sigmaringen, U. v. 19.05.2017 – A 3 K 3301/16 – juris Rn. 24 ff.):
„Nicht erforderlich ist hingegen, dass die geschwisterliche Lebensgemeinschaft bereits im Verfolgerstaat bestand (Bodenbender, in: GK-AsylVfG, 82. Juni 2008, § 26 AsylG Rn. 60: „Nach [§ 26] Abs. 2 S. 1 berechtigte Kinder sind nach der durch das Zuwanderungsgesetz erfolgten Neufassung des Gesetzes die ledigen und noch nicht volljährigen Kinder des Stammberechtigten, die sich im Zeitpunkt der Antragstellung in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, unabhängig davon, ob sie eingereist oder hier geboren sind.“; a. A. BeckOK AuslR/Günther, 13. Ed. 1.2.2017, AsylG § 26 Rn. 23d; Hailbronner, AuslR, 86. Aktualisierung Juni 2014, § 26 AsylG Rn. 53e).
Die nach der Gegenauffassung geforderte „familiäre, geschwisterliche Lebensgemeinschaft“, die schon im Verfolgerstaat bestanden haben müsse, stellt eine zu enge Gesetzesauslegung dar. Denn sie verkennt, dass die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-4 AsylG (hier Nr. 2) über § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG hier nur „entsprechend“ gelten. Weil aber bereits nach der seit 2007 geltenden Rechtslage (und wohl schon davor seit 1992) für das Familienasyl minderjähriger Kinder (abgeleitet von ihren Eltern als Stammberechtigten) nicht erforderlich war, dass die (zum Familienasyl berechtigten) Kinder zusammen mit dem Stammberechtigten eingereist sind, mithin bereits vor der Einreise geboren waren, kann es von vornherein nicht darauf ankommen, ob die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem um Familienasyl nachsuchenden minderjährigen Kind und dem Stammberechtigten bereits im Verfolgerstaat bestand. Folgerichtig fordert Art. 2 lit. j RL 20011/95/EG, auf den § 26 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylG rekurriert, nur, dass die „Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat“. Mit Familie kann nach dieser Diktion mithin auch lediglich die „Restfamilie“, d. h. (wie hier) insbesondere die Eltern des sodann in der Bundesrepublik Deutschland geborenen minderjährigen Kindes, welches nunmehr um Familienasyl nachsucht, gemeint sein. Eine andere Auslegung, wie sie die gegenteilige Auffassung unterstellt, stünde im Widerspruch zur bisherigen, unwidersprochenen Gesetzesauslegung und -anwendung sowie der gesetzgeberischen Intention (vgl. zur Gesetzesentwicklung Bodenbender, a. a. O. Rn. 68 f. sowie BT-Drs. 16/5065, S. 216 (zu Nummer 18 Buchstabe b)).
Weder dem Gesetzeswortlaut des § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG, der Qualifikationsrichtlinie noch der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 AsylG kann entnommen werden, dass der Stammberechtigte bereits vor der Einreise (der Familie) geboren sein muss. Gefordert wird vielmehr lediglich die Minderjährigkeit und Ledigkeit des Stammberechtigten zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des um Familienasyl nachsuchenden anderen Familienmitglieds und, dass ein Zusammenhang zwischen der Asylantragstellung der Familienmitglieder und dem Aufenthalt des Stammberechtigten in der Bundesrepublik Deutschland besteht. So spricht auch Art. 2 lit. j) 3. Spiegelstrich – der ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG mit dieser Bestimmung umgesetzt werden sollte (vgl. BT-Drs. 218/13, S. 30) – lediglich davon, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, minderjährig sein muss und nicht verheiratet sein darf. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AsylG, wonach die Familie i. S. d. Art. 2 Buchstabe j der RL 2011/95/EG schon in dem Staat bestanden haben muss, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird. Bei unbefangener Wortlautinterpretation legt diese Formulierung zwar nahe, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsstaat politisch verfolgt sein musste. Zwingend ist dies – gerade unter (zulässiger) Heranziehung von Nachfluchttatbeständen und unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 2 lit. j) RL 2011/95/EG – jedoch nicht, dient der 2. Halbsatz ersichtlich nämlich lediglich dazu, den maßgeblichen „Herkunftsstaat“ zu beschreiben. Dass eine politische Verfolgung eines erst in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kindes möglich ist, hat das Bundesamt – wie hier – durch die Statusentscheidung, dem Stammberechtigten die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, positiv und bis dato unwiderrufen festgestellt.
Schließlich spricht die – wenn auch knappe – Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG eher dafür, das Familienasyl auch Familienangehörigen von (erst) in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Stammberechtigten zuzusprechen. Denn die Regelung des § 26 Abs. 3 S. 2 AsylG soll (ggü. § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG) der Gleichbehandlung von minderjährigen Geschwistern ggü. ihren Eltern dienen. Im Sinne einer entsprechenden Anwendung des § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-4 AsylG ist es daher geboten, die Anforderungen an das Familienasyl von Minderjährigen nach S. 2 nicht strenger zu fassen als an jenes ihrer Eltern nach S. 1. Wenn aber die Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 2 AsylG a. F. (bzw. jene zur identischen Vorgängerregelung des § 7a Abs. 3 AsylG 1990 (BGBl I-1354, 1381 v. 13.07.1990): BT-Drs. 11/3055, S. 5 (Ziff. 6.) und BT-Drs. 11/6960, S. 29, 30 (zu Art. 3 Nr. 3)) die Regelung u. a. darauf stützt, dass sie sozial gerechtfertigt sei, weil sie die Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten fördere und die § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG zugrunde liegende Begründung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EG (dort Erwägungsgrund 38) das Kindeswohl in den Vordergrund rückt, kommt dessen Förderung nicht nur in Betracht, wenn das Kind um Familienasyl nachsucht, sondern auch, wenn es – als Stammberechtigter – dieses für seine nahen Angehörigen gerade erst vermitteln soll. Denn in beiden Fällen dient die Zuerkennung des Familienasyls der Familieneinheit insgesamt und damit dem Kindeswohl des minderjährigen Kindes – gleich, ob es Stammberechtigter oder Familienangehöriger ist.“
Die vom VG Sigmaringen angeführten Erwägungen gelten entsprechend auch im vorliegenden Fall eines um subsidiären Schutz nachsuchenden Elternteils gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 AsylG. Bereits die in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG angeordnete entsprechende Anwendung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG zeigt, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Fälle der Eltern eines minderjährigen ledigen Stammberechtigten und eines ledigen minderjährigen Geschwisters eines ledigen minderjährigen Stammberechtigten soweit wie möglich parallel behandelt werden sollen. Schließlich spricht sowohl der gewählte Wortlaut „Familie“ anstatt „familiäre Beziehung“ oder „Elternschaft“ als auch insbesondere der Aspekt des Minderjährigenschutzes dafür, dass unerheblich ist, ob das als Stammberechtigter fungierende ledige minderjährige Kind erst in Deutschland geboren wurde (vgl. Schröder, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 26 AsylG, Rn. 28).
Weiterhin ist nicht ersichtlich, dass die Entscheidung hinsichtlich des Kindes zu widerrufen oder zurückzunehmen sein könnte (§ 26 Abs. 3 Nr. 4 AsylG) oder der Kläger nicht die Personensorge innehaben könnte (§ 26 Abs. 3 Nr. 5 AsylG).
Auch die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG liegen vor, da der Kläger jedenfalls vor Anerkennung seines Kindes eingereist ist.
Sonstige Gründe stehen nicht entgegen. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylG oder des § 26 Abs. 6 AsylG ist nichts ersichtlich. § 26 Abs. 4 Satz 2 AsylG steht nicht entgegen, weil diese Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut, der eine andere Auslegung nicht zulässt, die Geltung des § 26 Abs. 2 und 3 AsylG eben nur für Kinder, nicht aber – was hier einschlägig ist – für einen Elternteil eines Ausländers ausschließt, der abgeleitet von einem Stammberechtigten selbst nur nach § 26 Abs. 2 oder 3 AsylG anerkannt worden ist.
Nach all dem war der Klage stattzugeben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung auf § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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