Aktenzeichen AN 17 K 19.50920
Leitsatz
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. September 2019 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
3. Das Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht zuvor der Kostengläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Das Gericht konnte aufgrund des allseitigen Einverständnisses der Parteien des Rechtsstreits (Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 17.7.2020 sowie allgemeine Prozesserklärung der Beklagten an die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 27.6.2017) eine Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung treffen (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klagen sind als Anfechtungsklagen nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO zulässig und begründet. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls statthaft und auch sonst zulässig. Dagegen erweisen sich die unbedingt, kumulativ gestellten Verpflichtungsanträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise des subsidiären Schutzes bereits als unstatthaft und folglich unzulässig. Das Gericht ist zum „Durchentscheiden“ hinsichtlich der Asylanträge in materieller Hinsicht weder berechtigt noch verpflichtet. Folglich war die Klage teilweise abzuweisen.
Der angegriffene Bescheid vom 4. September 2019 ist in seiner Ziffer 1. rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Der Bescheid war insgesamt aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart gegen die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1. des Bescheids) und die Folgeentscheidungen in den Ziffer 3. und 4. des Bescheidtenors. Die erfolgreichen Anfechtungsklagen gegen die Unzulässigkeitsfeststellung führt in der Folge zur inhaltlichen Prüfung der Asylanträge durch die Beklagte, so dass es eines auf die Durchführung eines Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsantrags nicht zusätzlich bedurfte (vgl. BVerwG, U.v. 1.7.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625 Ls.1, Rn. 15; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 20 ff.).
Ein „Durchentscheiden“ des Gerichts über das Asylbegehren im Falle einer erfolgreichen Anfechtung der Unzulässigkeitsentscheidung ist nicht möglich; eine hierauf gerichtete Verpflichtungsklage ist unstatthaft. Das Asylverfahren gliedert sich in zwei Prüfungsabschnitte, nämlich das Zuständigkeits- bzw. Zulässigkeitsverfahren und gegebenenfalls in das eigentliche Asylverfahren. Diese Gliederung ist auch prozessual insoweit fortzuführen ist, als zunächst stets das Bundesamt eine Entscheidung über den entsprechenden Prüfungsabschnitt zu treffen hat und diese Entscheidung erst danach vom Verwaltungsgericht überprüft werden kann. Hebt das Verwaltungsgericht die Unzulässigkeitsentscheidung mit den hieraus folgenden Nebenentscheidungen auf, hat zunächst wieder das Bundesamt über den nächsten Prüfungsabschnitt, d.h. über das Asylbegehren (Asyl, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz) inhaltlich zu befinden und darf nicht übergangen werden. Dies dient gerade auch dem Schutz des Asylantragstellers, für den dieses Vorgehen eine „zweite Instanz“ gewährleistet. Dieses Vorgehen ist auch im Falle von Asylfolge- und Zweitantragsverfahren und Klageverfahren gegen Einstellungen durch das Bundesamt und im Falle von Unzulässigkeitsentscheidungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG anerkannt und folgt für die Drittstaaten-Fälle auch aus dem Rechtsgedanken des § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn.19, OVG Saarlouis, U.v. 25.10.2016 – 2 A 95/16 – juris Rn.23).
An dieser Kammerlinie der hier zur Entscheidung berufenen Kammer des Verwaltungsgerichts Ansbach hält auch der Einzelrichter fest und hat keine Veranlassung, eine andere Betrachtung vorzunehmen (vgl. bspw.: VG Ansbach, U.v. 27.8.2020 – 17 K 19.50011 – BeckRS 2020, 27502 Rn. 14 ff.; U.v. 7.9.2020 – AN 17 K 18.50545 – BeckRS 2020, 24951 Rn. 14 ff.). Daher war die Klage im Umfange der Verpflichtungsanträge auf Zuerkennung internationalen Schutzes bereits als unzulässig abzuweisen.
2. Die Anfechtungsklagen gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in der Ziffer 1. des Bescheids vom 4. September 2019 sind auch begründet. Das Bundesamt hat die Anträge der Kläger zu Unrecht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt und sie damit in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies trifft für die Kläger zu; ihnen wurde am 12. Januar 2018 durch Griechenland internationaler Schutz zuerkannt. Das steht fest aufgrund des Ergebnisses der Mitteilung der Dublin-Einheit der Hellenischen Republik vom 20. August 2019 im Zuge des von der Beklagten gestellten Informationsersuchens an Griechenland und in Zusammenschau mit den Angaben der Klägerin vor dem Bundesamt.
Gleichwohl sind die Unzulässigkeitsentscheidungen rechtswidrig. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG setzt Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL 2013/32/EU in nationales Recht um und ist daher richtlinien- und europarechtskonform auszulegen. Nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL dürfen die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat internationalen Schutz gewährt hat. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof der Vorschrift im Wege der Auslegung noch ein weiteres, negatives Tatbestandsmerkmal entnommen. Nach der Entscheidung vom 13. November 2019 ist es den Mitgliedstaaten nämlich nicht möglich von der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL Gebrauch zu machen und einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, aber die Lebensverhältnisse, die ihn dort als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist dabei auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hat also in richtlinienkonformer Auslegung zu berücksichtigen, ob dem im anderen Mitgliedsstaat Anerkannten nach einer Rücküberstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Dem steht auch nicht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht entgegen, welcher besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union, wie sie etwa in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und gerade bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL, in dem er zum Ausdruck kommt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedsstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedsstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
Derartige Funktionsstörungen müssen eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C -297/17 u.a. – juris Rn. 89). Nicht ausreichend für das Erreichen dieser Schwelle ist der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Qualifikations-RL 2011/95/EU entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36). Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90).
Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu gelangen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden ist, aufgrund derer sich die betreffende Person in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91).
Dafür genügt es nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internatio-nalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97). Ebenso wenig ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung ex-tremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96).
Bei dem so definierten Maßstab ist weiter zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige handelt oder eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität), die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 26). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Rahmen des Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist.
Für die demnach zu treffende Prognoseentscheidung, ob den Klägern eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloße Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung muss insoweit aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – BeckRS 2020, 5694 Rn. 28 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die für eine solche Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegensprechenden Tatsachen haben (OVG RhPf, a.a.O.; vgl. VGH BW, a.a.O., juris Rn. 187).
Diesen Maßstab zu Grunde gelegt, war die Ablehnung der Anträge der Kläger als unzulässig im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunktes der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig. Die Kläger gehören einer besonders vulnerablen, d.h. verletzlichen Gruppe von Personen im Sinne der Rechtsprechung des EuGH an, bei denen ohne eine besondere Zusicherung der griechischen Behörden zur Sicherstellung einer individuellen Mindestversorgung jedenfalls für eine angemessene Übergangszeit nach Rückführung von einer drohenden Gefahr der alsbaldigen Verelendung auszugehen ist. Auf die Situation der Klägerin zu 1. allein kommt es dabei nach Auffassung des Gerichts nicht maßgeblich an, sondern ist bei der Frage, ob die Kläger einer sog. vulnerablen Gruppe zugehören, in einer Gesamtbetrachtung die Kernfamilie in den Blick zu nehmen. Dazu gehört jedenfalls auch die minderjährigen Kinder der Klägerin zu 1., nämlich der Kläger zu 2. (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – NVwZ 2020, 158; BayVGH, B.v. 3.2.2020 – 13a ZB 19.33975, BeckRS 2020, 1238). Dieser Personenmehrheit als vulnerable Personengruppe – als Familie mit einem kleinen Kind im Alter von drei Jahren sowie einer weiteren Schwangerschaft der Klägerin zu 1. – droht aber nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Griechenland eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung. Es ist davon auszugehen, dass sie in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten werden und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht werden befriedigen können.
Das Gericht geht auf Basis der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel von folgender Lage für in Griechenland anerkannte international Schutzberechtigte, die nach ihrer Anerkennung Griechenland verlassen haben und nun wieder zurückgeführt werden sollen, aus:
Asylbewerber, die bereits von Griechenland als international Schutzberechtigte anerkannt worden sind, werden im Falle einer Abschiebung dorthin von den zuständigen Polizeidienststellen in Empfang genommen und mit Hilfe eines Dolmetschers umfassend über ihre Rechte aufgeklärt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3). Die betroffenen Personen erhalten insbesondere Informationen zur nächsten Ausländerbehörde, um dort ihren Aufenthaltstitel verlängern zu können. Anerkannt Schutzberechtigte haben sich sodann beim zuständigen Bürgerservice-Center zu melden. Spezielle staatliche Hilfsangebote für Rückkehrer werden vom griechischen Staat nicht zur Verfügung gestellt. Auch für Familien mit Kindern gilt das genannte Verfahren (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 8 f.).
Die staatlichen Integrationsmaßnahmen im Allgemeinen erscheinen defizitär. Es existiert kein funktionierendes Konzept für die Integration von Flüchtlingen (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 11).
Diesbezügliche Ansätze der Regierung wie die „Nationale Strategie zur Integration von Drittstaatsangehörigen“ sind nur teilweise umgesetzt (Pro Asyl, a.a.O.) oder haben wie im Falle der nationalen Integrationsstrategie aus Juli 2018 keine rechtlich bindende Wirkung (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7). Zwar berichten einige Erkenntnismittel etwa von 53 Integrationsräten auf lokaler Ebene, welche das Ziel verfolgten, Integrationsprobleme zu identifizieren und dem jeweiligen Gemeinderat Vorschläge für eine möglichst reibungsfreie Integration von Einwanderern zu unterbreiten (BAMF, Länderinformation: Griechenland, Stand Mai 2017, S. 5). Diese Beschreibung deutet jedoch auf ein eher politisches Gremium hin, welches sich um Änderungen bemüht, selbst aber keine Integrationsleistungen anbietet. Hinsichtlich staatlicher Kurse zu Sprache sowie Kultur und Geschichte des Landes ist das Bild uneinheitlich (für die Existenz kostenloser Kurse: Konrad Adenauer Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 11), wobei aktuellere und in-sofern vorzugswürdige Erkenntnismittel ein solches Angebot verneinen (Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 12). Zudem wird die hohe Abhängigkeit etwaiger Integrationsprogramme von einer Finanzierung durch die EU betont, da auf nationaler und kommunaler Ebene keine nennenswerten Ressourcen zur Verfügung stehen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 7).
In diese Lücke stoßen jedoch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, die auf verschie-densten Feldern Integrationshilfe leisten (OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 91 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 2), aber räumlich zum einen auf die Ballungsräume Athen und Thessaloniki konzentriert sind und zum anderen den weitestgehenden Ausfall staatlicher Strukturen nicht kompensieren.
Hingegen ist der Zugang zum staatlichen Schulsystem für Minderjährige gewährleistet (Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 11 f.).
Hinsichtlich des Zugangs zu einer Unterkunft gilt für anerkannte Schutzberechtigte ebenso der Grundsatz der Inländergleichbehandlung mit griechischen Staatsangehörigen. Da es in Griechenland kein staatliches Programm für Wohnungszuweisungen an Inländer gibt, entfällt dies auch für anerkannt Schutzberechtigte. Auch findet keine staatliche Beratung zur Wohnraumsuche statt. Sie sind zur Beschaffung von Wohnraum grundsätzlich auf den freien Markt verwiesen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 3; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, S. 30; Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 9). Das Anmieten von Wohnungen auf dem freien Markt ist durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte oder Studenten sowie gelegentlich durch Vorurteile gegenüber Flüchtlingen erschwert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, S. 30).
Zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigten werden nicht in den Flüchtlingslagern oder staatlichen Unterkünften untergebracht. Zwar leben dort auch anerkannt Schutzberechtigte, jedoch nur solche, die bereits als Asylsuchende dort untergebracht waren und über die Anerkennung hinaus dort verblieben sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, Stand 4.10.2019, S. 26; Raphaelswerk, Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand Dezember 2019, S. 9). Von einer Unterbringung kann nur ausgegangen werden, soweit eine explizite Zusage im Einzelfall zur Betreuung des Rückkehrers seitens der griechischen Behörden vorliegt (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 1 f.).
Auch haben die zurückkehrenden anerkannt Schutzberechtigten keinen Zugang zu einer Unterbringung im Rahmen des EUfinanzierten und durch das UNHCR betriebenen ESTIA-Programms (Emergency Support to Accomodation and Integration System). Über das ESTIA-Programm stehen – Stand Mai 2020 – 4.600 Appartements und insgesamt ca. 25.500 Unterbringungsplätze zur Verfügung (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Mai 2020). Dieses steht jedoch nur Asylsuchenden und begrenzt zwischenzeitlich auch für international Anerkannte zur Verfügung, die bereits dort gelebt haben (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 1 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 5; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2). Durch das neue Asylgesetz vom 1. November 2019 wurden die Bedingungen für die anerkannt Schutzberechtigten überdies verschärft, sie sollen nunmehr unmittelbar ab dem Zeitpunkt der Anerkennung die ESTIA-Unterkünfte verlassen, wobei es eine einmalige Übergangsfrist von zwei Monaten Anfang 2020 geben sollte (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2).
Das Helios 2-Programm, ein von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Abstimmung mit dem griechischen Migrationsministerium entwickeltes und durch die EU finanziertes Integrationsprogramm, sieht zwar 5.000 Wohnungsplätze für anerkannte Schutzberechtigte vor. Die Wohnungsangebote werden dabei von Nichtregierungsorganisationen und Entwicklungsgesellschaften griechischer Kommunen als Kooperationspartner der IOM zur Verfügung gestellt und von den Schutzberechtigten, unter Zahlung einer Wohnungsbeihilfe an sie, angemietet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2 f.). Hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns des Helios 2-Programmes bestehen Unklarheiten (OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 105: 1.6.2019; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 3: frühestens ab September 2019). Das Programm kommt nach derzeitigem Erkenntnisstand aber nicht den anerkannten Flüchtlingen zugute, die nach Griechenland zurückkehren, sondern gilt für ab dem 1. Januar 2018, vorzugsweise ab dem 1. Januar 2019 Anerkannte nach einer Übergangsfrist von sechs Monaten im ESTIA-Programm (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2).
Eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften ist zwar grundsätzlich möglich, allerdings reichen die kommunalen Unterkünfte, etwa in Athen, kapazitätsmäßig nicht aus und sind chronisch überfüllt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, S. 30, Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3). Die Wartelisten sind entsprechend lang und teils stellen die Unterkünfte weitere Anforderungen an die Interessenten, wie etwa Griechisch- oder Englischkenntnisse und psychische Gesundheit (Pro Asyl, Returned recognized refugees face a dead-end in Greece – a case study, Stand 4.1.2019, S. 4). Eine Erhebung des Refugee Support Aegean (RSA) vom 16. Juli 2018 ergab, dass von zwölf seitens der Stadt Athen genannten Obdachlosenunterkünften, soweit sie überhaupt Familien aufnehmen, alle bis auf eine entweder belegt oder gar geschlossen waren. In dieser einen, der „EKKA“-Unterkunft mit einer Kapazität von 65 Personen, werden Familien wiederum nur ausnahmsweise und nur mit griechischen oder englischen Sprachkenntnissen und maximal für drei Monate aufgenommen (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 6 ff.).
Wohnungsbezogene Sozialleistungen, die das Anmieten einer eigenen Wohnung unterstützen könnten, gibt es seit dem 1. Januar 2019 mit dem neu eingeführten sozialen Wohngeld, dessen Höhe maximal 70,00 EUR für eine Einzelperson und maximal 210,00 EUR für einen Mehrpersonenhaushalt beträgt. Das soziale Wohngeld setzt allerdings einen legalen Voraufenthalt in Griechenland von mindestens fünf Jahren voraus (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 5; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 1 f.).
Angesichts dessen bleiben viele international Schutzberechtigte obdachlos oder wohnen in verlassenen oder besetzten Gebäuden, häufig ohne Strom und fließend Wasser (OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 108 f.; Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 5). Obdachlosigkeit war unter Flüchtlingen in Athen dennoch lange Zeit kein augenscheinliches Massenphänomen, was wohl auf landsmannschaftliche Strukturen und Vernetzung untereinander zurückzuführen war (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3). Dass sich die augenscheinliche Obdachlosigkeit von Flüchtlingen zwischenzeitlich auch in Athen geändert hat, dürfte eine der Folgen des Brandereignisses im Flüchtlingscamp Moria sein („Flüchtlinge in Athen: Ein Leben wie menschliches Treibgut“, RND-Artikel v. 20.10.2020, abrufbar unter www.rnd.de).
Zugang zu Sozialleistungen besteht für anerkannt Schutzberechtigte, die nach Griechenland zurückkehren, unter den gleichen Voraussetzungen wie für Inländer. Das im Februar 2017 eingeführte System der Sozialhilfe basiert auf drei Säulen. Die erste Säule sieht ein Sozialgeld in Höhe von 200,00 EUR pro Einzelperson vor, welches sich um 100,00 EUR je weiterer erwachsener Person und um 50,00 EUR je weiterer minderjähriger Person im Haushalt erhöht. Alle Haushaltsmitglieder werden zusammen betrachtet, die maximale Leistung beträgt 900,00 EUR pro Haushalt. Die zweite Säule besteht aus Sachleistungen wie einer prioritären Unterbringung in der Kindertagesstätte, freien Schulmahlzeiten, Teilnahme an Programmen des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen, aber auch trockenen Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Reis, Kleidung und Hygieneartikeln. Alles steht jedoch unter dem Vorbehalt der vorhandenen staatlichen Haushaltsmittel. Die dritte Säule besteht in der Arbeitsvermittlung. Neben zahlreichen Dokumenten zur Registrierung für die genannten Leistungen – unter anderem ein Aufenthaltstitel, ein Nachweis des Aufenthalts (z.B. elektronisch registrierter Mietvertrag, Gas-/Wasser-/Stromrechnungen auf eigenen Namen oder der Nachweis, dass man von einem griechischen Residenten beherbergt wird), eine Bankverbindung, die Steuernummer, die Sozialversicherungsnummer, die Arbeitslosenkarte und eine Kopie der Steuererklärung für das Vorjahr – wird ein legaler Voraufenthalt in Griechenland von zwei Jahren vorausgesetzt. (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 4 ff.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, S. 28 f.: Mindestaufenthalt ein Jahr).
Das sogenannte Cash-Card System des UNHCR, welches über eine Scheckkarte Geldleistungen je nach Familiengröße zur Verfügung stellt, steht nur Asylbewerbern, nicht aber anerkannt Schutzberechtigten, die zurückkehren, offen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig vom 28.1.2020, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, 28 f.).
Der Zugang zum griechischen Arbeitsmarkt ist für international Schutzberechtigte grundsätzlich gleichermaßen wie für Inländer gegeben. Allerdings sind die Chancen auf Vermittlung eines Arbeitsplatzes gering, da die staatliche Arbeitsverwaltung schon für die griechischen Staatsangehörigen kaum Ressourcen für eine aktive Arbeitsvermittlung hat. Zudem haben sich die allgemeinen Arbeitsmarktbedingungen durch die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise, die noch einmal durch die Covid19-Pandemie eine Verschärfung erfahren hat, verschlechtert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, aktualisierter Stand 19.3.2020, S. 31; Europäische Kommission, EURES – Arbeitsmarktinformationen Griechenland, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/eures/main.jsp?catId=2589& countryId=GR& acro=lmi& lang=de®ionId=GR0& nuts2Code= & nuts3Code=& regionName=Nationale Ebene, Stand: 07/2020). Rechtmäßig ansässige Drittstaatsangehörige sind, wenn sie überhaupt Arbeit finden, meist im niedrigqualifizierten Bereich und in hochprekären Beschäftigungsverhältnissen oder gleich in der Schattenwirtschaft tätig (Konrad Adenauer Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 9). Dazu tritt regelmäßig die Sprachbarriere (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7). Eine spezielle Förderung zur Arbeitsmarktintegration anerkannt Schutzberechtigter findet derzeit nicht statt (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 10), vereinzelt haben Nichtregierungsorganisationen Initiativen zur Arbeitsvermittlung gestartet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7).
Der Zugang zu medizinischer Versorgung und dem Gesundheitssystem ist für anerkannt Schutzberechtigte gegeben, unterliegt allerdings denselben Beschränkungen durch Budgetierung und restriktive Medikamentenausgabe wie für griechische Staatsbürger (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 9; OVG SH, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 141 f.).
Auf Basis dieser Lage in Griechenland droht den Klägern bei Rückkehr nach Griechenland im Familienverbund nach Auffassung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh. Es ist davon auszugehen, dass die Familie in Griechenland unabhängig von ihrem Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und ihre Grundbedürfnisse „Bett, Brot und Seife“ nicht werden befriedigen können.
Die Familie, bestehend aus einer schwangeren Erwachsenen mit einem dreijährigen Kind, das sich damit noch in einem betreuungsbedürftigen Alter befindet, ist besonders vulnerabel und es besteht aufgrund ihrer individuellen Situation unter Berücksichtigung der aktuellen Lage für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland die ernsthafte Gefahr der Verelendung. Den Klägern steht nämlich weder eine Unterkunft im Rahmen des ESTIA-Programms noch des Helios 2-Programms zur Verfügung. Auch ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine Anmietung einer ausreichenden Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt nicht möglich sein wird, einerseits wegen der dort bestehenden Hürden wie einer Bevorzugung von Familienmitgliedern oder Studenten als Mietern, zum anderen wegen des zumindest in den ersten fünf Jahren bestehenden Ausschlusses wohnungsbezogener Sozialleistungen und des Ausschlusses vom Sozialgeld in den ersten zwei Jahren sowie des für anerkannt Schutzberechtigte kaum zugänglichen Arbeitsmarktes. Insoweit wird es den Klägern aller Voraussicht nach an entsprechenden finanziellen Mitteln fehlen, um die Miete für eine bald dreiköpfige Familie bestreiten zu können. Eine Unterbringung in Obdachlosenunterkünften ist angesichts der Familiengröße bzw. des Familienzuschnitts und der limitierten Kapazitäten und der teils bestehenden Aufnahmebeschränkungen wie etwa Sprachkenntnissen eine nur vage und unwahrscheinliche Möglichkeit, die die tatsächliche Gefahr der drohenden Obdachlosigkeit nicht zu beseitigen vermag. Auf die vor allem informellen Möglichkeiten zur Unterkunft, wie leerstehende oder besetzte Gebäude, meist ohne Wasser und Strom, müssen sich die Kläger nicht verweisen lassen. Eine solche Unterkunft ist einer Familie mit Minderjährigen im Kleinst- und Kleinkindalter nicht zumutbar. Davon abgesehen ist fraglich, ob die Familie in den Genuss einer solchen Unterkunft käme, da ihnen aufgrund des zwischenzeitlichen Aufenthalts in Deutschland die informellen Kontakte zu Landsleuten in Griechenland fehlen dürften.
Angesichts des beschriebenen temporären Ausschlusses von Sozialleistungen in den ersten zwei bzw. für das Wohngeld fünf Jahren des (legalen) Aufenthalts in Griechenland und der äußerst problematischen Arbeitsmarktsituation für Anerkannte sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei der Familie der Kläger um eine zu versorgende bald dreiköpfige Familie handelt und die Klägerin aufgrund ihrer Schwangerschaft und der zu erbringenden Betreuungsleistungen für den Kläger zu 2. derzeit wohl nicht am Arbeitsleben teilnehmen kann, droht trotz rechtlicher Inländergleichbehandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung, da innerhalb einer Zeitspanne von zwei Jahren nach Rückkehr keine Änderung in Hinblick auf Obdach und Sozialleistungen absehbar ist. Das Gericht geht davon aus, dass die Familie der Kläger durch jedes soziale Netz fallen würde und sich auch nicht aus eigener Kraft und eigenem Engagement heraus ein menschenwürdiges Existenzminimum erwirtschaften kann. Angesichts der schlechten Situation des griechischen Arbeitsmarktes ist auch nicht zu erwarten, dass der Kindsvater des Klägers zu 2. – der Kläger im Verfahren AN 17 K 20.50228 – bei unterstellter gemeinsamer Rückkehr mit den Klägern nach Griechenland und bei unterstellter Arbeitsfähigkeit des Mannes derzeit in Griechenland eine Arbeit finden wird, die den Unterhalt der Gesamtfamilie decken wird. Dass darüber hinaus die Familie der Kläger über finanzielle Mittel verfügt, die es ihnen gleichwohl erlauben, ihre Mindestversorgung in Griechenland für eine angemessene Übergangszeit abzusichern, ist nicht ersichtlich und durch die Angaben im Prozesskostenhilfeverfahren auch widerlegt.
Die in Griechenland zu erwartenden Lebensumstände beruhen zwar nicht auf der Gleichgültigkeit (so die Formulierung des EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90) des griechischen Staates, aber auf dessen massiver Überforderung, die trotz Unterstützung durch den UNHCR und die EU weiterhin besteht. So kamen im Jahr 2019 74.600 Asylsuchende in Griechenland an und damit 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Dezember 2019), in den Monaten Januar bis Mai 2020 erreichten Griechenland rund 9.950 Flüchtlinge (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Mai 2020), was angesichts einer Bevölkerungszahl von etwa 11 Millionen und der bis dahin schon erfolgten Zuströme an Einwanderern gerade auch in den Vorjahren eine enorme Belastung darstellt. Zum Vergleich wurden in Deutschland im Jahr 2019 etwa 150.000 Asylsuchende und damit 11 Prozent weniger als im Jahr 2018 registriert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Das Bundesamt in Zahlen 2019, S. 7). In absoluten Zahlen sind dies zwar gut doppelt so viele wie in Griechenland, allerdings bei einer mehr als sieben Mal so großen Gesamtbevölkerung. Im europäischen Vergleich muss Griechenland gemessen an seiner Größe überproportionale Lasten bei der Aufnahme von Flüchtlingen schultern und ist mit diesem Ausmaß, insbesondere was die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung anbelangt, überfordert. Für die Betroffenen wirkt sich die Überforderung des griechischen Staates im Ergebnis genauso wie Gleichgültigkeit, worauf der Europäische Gerichtshof abgestellt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90), aus. Rechtlich maßgeblich ist letztlich allein, ob wegen der Defizite mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, was sich auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof ergibt, wo dieser an anderer Stelle den „allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet“, betont (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 37).
Der Annahme einer drohenden erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung steht auch nicht entgegen, dass die Kläger als anerkannte Schutzberechtigte freiwillig aus Griechenland ausgereist sind, damit – möglicherweise sogar bewusst – auf die ihnen zustehenden Sozialleistungen verzichtet und ihre eigene Notsituation im Falle einer Rückkehr erst herbeigeführt haben. Zwar stellt der Europäische Gerichtshof grundsätzlich auf eine Notsituation der schutzberechtigten Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen“ ab (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Eine so zu berücksichtigende Eigenverantwortung liegt aber hinsichtlich des Klägers zu 2. nicht vor. Die Entscheidung seiner Mutter kann nicht zu seinen Lasten wirken. Auch eine getrennte Betrachtung der Verursachungsanteile dahingehend, dass dieser Umstand zur Verneinung einer drohenden unmenschlichen Behandlung hinsichtlich der Klägerin, aber zu deren Bejahung hinsichtlich des Klägers führt, hat nach Ansicht des Gerichts nicht zu erfolgen. Insoweit ist mit Blick auf Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK eine einheitliche Beurteilung für den Kernfamilien-Verbund vorzunehmen.
Schließlich vermag auch das allgemeine Schreiben des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 bezüglich zurückkehrender anerkannter Flüchtlinge nach Griechenland (Bl. 113 f. d. BAMF-Akte) eine drohende unmenschliche Behandlung nicht auszuschließen. In diesem wird zugesichert, dass Griechenland die Qualifikations-RL 2011/95/EU rechtzeitig in griechisches Recht umgesetzt hat und basierend hierauf allen international Schutzberechtigten die Rechte aus der Richtlinie gewährt werden unter Beachtung der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine Zusicherung, die die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßenden unmenschlichen Behandlung ausschließen soll, muss nach der Rechtsprechung des EGMR hinreichend konkret und individualisiert, etwa durch detaillierte und zuverlässige Informationen über die materiellen Bedingungen in der Unterkunft mit Bezug zu den Klägern, ausgestaltet sein (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel, 29217/12 – NVwZ 2015, 127 Rn. 120 ff.). Das Bundesverfassungsgericht betont hinsichtlich der Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Notwendigkeit einer „hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage“ (BVerfG [2. Senat, 1. Kammer], B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15 f., wo auch auf die Tarakhel-Entscheidung des EGMR Bezug genommen wird). Gemessen an diesem Maßstab bleibt die Mitteilung Griechenlands vom 8. Januar 2018 zu abstrakt und damit nicht ausreichend.
Nach alldem ist die Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in Ziffer 1. des Bescheids vom 4. September 2019 rechtswidrig, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist damit aufzuheben.
3. Nachdem Ziffer 1. des Bescheids vom 4. September 2019 aufzuheben ist, können in deren Folge auch die Ziffern 2. bis 4. nicht aufrechterhalten werden.
Die unter Ziffer 2. getroffene Feststellung der Beklagten, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist im Falle der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidungen auf die Anfechtungsklagen hin ebenfalls aufzuheben. Abschiebungsverbote sind bisher nur in Bezug auf Griechenland geprüft und insoweit zu Unrecht abgelehnt worden. Die Lage in Griechenland führt für die Kläger nach dem oben Dargelegten bereits zur Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidungen, was (widersprechende) Ablehnungen von Abschiebungsverboten ausschließt. Hinsichtlich des Herkunftslandes der Kläger erfolgte bislang keine Prüfung von Abschiebungsverboten und war dies aufgrund der Zweistufigkeit des Asylverfahrens auch nicht veranlasst. Insoweit hat das Bundesamt in der Folge erst noch zu entscheiden. In Bezug auf das Herkunftsland kann die Feststellung von Abschiebungsverboten damit nicht aufrechterhalten werden, sondern ist verfrüht (vgl. für andere Konstellationen BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21, BayVGH, B.v. 8.3.2019 – 10 B 18.50031 – juris Rn. 21).
Ebenso ist die in Ziffer 3. getroffene Abschiebungsandrohung gemäß §§ 35, 36 AsylG aufzuheben. Nach § 35 AsylG droht das Bundesamt in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher ist. Ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegt nach Aufhebung der Ziffer 1. nicht vor. Ein anderer auf gleicher Stufe stehender Unzulässigkeitsgrund ist ebenfalls nicht gegeben, so dass die Abschiebungsandrohung rechtswidrig und verfrüht erging und keinen Bestand haben kann.
Von der Aufhebung umfasst ist auch die Feststellung in Ziffer 3. letzter Satz des streitgegen-ständlichen Bescheids, dass die Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen. Diese Feststellung steht ersichtlich in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang mit der Abschiebungsandrohung nach Griechenland und kann ohne diese nicht mit dem beabsichtigten Regelungsgehalt isoliert stehen bleiben. Die Benennung des behaupteten Verfolgerstaats als denjenigen, in den nicht abgeschoben werden darf, erfolgte allein deshalb, weil bei einem unzulässigen Asylantrag im Hinblick auf den Herkunftsstaat nichts inhaltlich geprüft wird und es deshalb auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass dort eine Verfolgungsgefahr besteht (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 24. Edition Stand 1.11.2019, § 35 AsylG Rn. 11) und die Formulierung der Abschiebungsandrohung mit dem Satz 3 der Ziffer 3 („Die Antragsteller können auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist“) eine Abschiebung in den Herkunftsstaat von der Formulierung her nicht ausschließt, so dass zur Verhinderung vorsorglich der Satz 4 aufgenommen wurde.
Das Aufrechterhalten des Satzes 4 würde der Feststellung eine qualitativ völlig andere Bedeutung verleihen, nämlich die Aussage, dass für Syrien Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG inhaltlich geprüft und positiv erkannt wurden. Diese Feststellung wurde von der Beklagten so nicht getroffen und war nicht gewollt. Die Nichtabschiebung nach Syrien war nur für das Zuständigkeitsverfahren nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und nicht darüberhinausgehend ausgesprochen. Die isolierte Aufrechterhaltung des Satzes 4 ist damit ausgeschlossen. Auch die insoweit – isoliert betrachtet (was sich nach Ansicht des Gerichts aber verbietet) – begünstigende Regelung ist mit aufzuheben. Erst im Rahmen der inhaltlichen Prüfung der Gesamtasylbegehren kann und muss das Bundesamt über Abschiebungsverbote nach Syrien befinden und sich in diesem Zusammenhang wohl auch mit der Frage der Bindungswirkung der griechischen Anerkennungsentscheidung nach § 60 Abs. 2 Satz 2 Alt. 3 AufenthG auseinandersetzen.
Die in Ziffer 4. des angefochtenen Bescheids festgelegte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf zwei Monate ist mit dem Wegfall der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden und ebenfalls aufzuheben. Auch insoweit besteht ein untrennbarer Zusammenhang mit dem Zuständigkeitsverfahren nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und kann die Befristung nicht unabhängig davon aufrechterhalten werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG. Das Gericht hat die Streitgegenstände der Anfechtungsklage einerseits und der Verpflichtungsklage auf Zuerkennung internationalen Schutzes andererseits als gleichwertig erachtet, so dass sich eine hälftige Kostenteilung ergibt.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 Nr. 11 ZPO, 711 ZPO.