Aktenzeichen W 10 S 19.50255
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 34 Abs. 1, § 34a Abs. 1
VO (EU) NR. 604/2013 Art. 18 Abs. 1
Leitsatz
1 Der Umstand, dass einem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, hat ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts der Art. 18 Abs. 1 lit. a bis d und Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO zur Folge, dass die Vorschriften der Art. 20 ff. Dublin III-VO nicht anwendbar sind und der anerkennende Mitgliedstaat nicht zur Wiederaufnahme des Schutzberechtigten verpflichtet ist. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. März 2019 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der von der Antragsgegnerin auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) angeordneten Abschiebung nach Italien.
1. Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein am … … 1988 geborener nigerianischer Staatsangehöriger, wurde am 29. Januar 2019 durch die Bundespolizei in einem fahrenden ICE im Bundesgebiet aufgegriffen und äußerte ein Asylbegehren. Die am selben Tag erfolgte Eurodac-Abfrage ergab, dass der Antragsteller bereits am 9. Mai 2014 in Catania, Italien, einen Asylantrag gestellt hat. Er legte einen bis zum 23. Februar 2028 gültigen italienischen Aufenthaltstitel (permesso di soggiorno) sowie eine italienische Krankenversicherungskarte vor.
Am 29. Januar 2019 beantragte der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asyl.
In dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am 7. Februar 2019 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er habe sein Herkunftsland Nigeria im Oktober 2013 erstmalig verlassen und sei über Niger und Libyen am 8. Mai 2014 nach Italien eingereist. Dort habe er sich fünf Jahre und drei Monate lang aufgehalten und auch internationalen Schutz beantragt. Am 28. Januar 2019 habe er Italien verlassen und sei über die Schweiz am 29. Januar 2019 in das Bundesgebiet eingereist.
In der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 28. Februar 2019 wurde der Antragsteller damit konfrontiert, dass er über einen für zehn Jahre gültigen italienischen Aufenthaltstitel verfüge, was dafür spreche, dass ihm in Italien ein Schutzstatus gewährt worden sei. Der Antragsteller erklärte dem gegenüber, ihm sei in Italien Asyl verweigert worden. Er habe einen negativen Bescheid erhalten. In Italien erhalte man nach der dreimonatigen Aufenthaltserlaubnis eine für zehn Jahre gültige Identitätskarte. Es spiele keine Rolle, ob dieser Ausweis für drei oder sechs Monate gültig sei, danach erhalte man eine Identitätskarte. Das sei aber kein offizielles Dokument, man könne damit nicht arbeiten und es bedeute nur, dass der Aufenthalt erlaubt sei. Auf Frage nach der ebenfalls vorgelegten Karte mit einer Steueridentifikationsnummer (Codice Fiscale, Bl. 21/22 der BA-Akte) erklärte der Antragsteller, er habe zuvor einen sechs Monate gültigen Ausweis gehabt. In diesem sei eine Codenummer für die Codice Fiscale eingetragen gewesen, ähnlich wie auf der deutschen Aufenthaltsgestattung. Die Codice Fiscale sei für viele Jahre gültig. Auf Frage, wie er innerhalb der viereinhalb Jahre in Italien für seinen Lebensunterhalt gesorgt habe, erklärte der Antragsteller, er habe kleinere Gelegenheitsarbeiten als Bauingenieur durchgeführt. In Italien sei er zwei Jahre im Camp gewesen. Danach habe er einige Zeit betteln müssen. Dann habe er angefangen, Gelegenheitsarbeiten auszuführen. Im Rahmen seiner Arbeiten auf dem Bau habe er auch einen Vertrag mit einem Mann gehabt, für den er Renovierungs- und Malerarbeiten habe durchführen sollen. Er habe mit der Arbeit am 1. September 2018 begonnen, jedoch dann Probleme zuhause bekommen. Seine Tochter sei gekidnappt worden und es sei ein Lösegeld von 1.000.000 Naira verlangt worden. Er sei telefonisch um das Lösegeld erpresst worden. Da er zu dieser Zeit nicht so viel Geld gehabt habe, habe er es sich bei Freunden geliehen. Insgesamt habe er dann 800.000 Naira zusammengehabt, die er den Entführern zugeschickt habe. Für den Arbeitsvertrag habe er kein Geld bekommen. Sein Arbeitgeber sei in den Urlaub gefahren und nicht mehr zurückgekommen. Er habe eigentlich nach dem Vertrag 2.700,00 EUR bekommen sollen, aber lediglich 500,00 EUR erhalten. Er sei dann von seinen Freunden immer wieder belästigt worden, da er ihnen das Geld nicht habe zurückzahlen können. Sie hätten ihm deshalb verschiedene Gegenstände weggenommen. Er habe seine Schulden nicht zurückzahlen können, weshalb er die Stadt verlassen habe. Er könne erst wieder nach Hause zurückgehen, wenn er das Geld zusammen habe. Auch wenn er zurück nach Italien müsste, müsste er wieder von Null anfangen. Der andere Mann habe ihm sein Haus weggenommen. Es sei immer wieder zu Streitigkeiten gekommen, weshalb er nicht mehr nach Hause zurückkehren könne.
Am 1. März 2019 ersuchte das Bundesamt die italienischen Behörden um Wiederaufnahme des Antragstellers nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO). Eine Antwort auf das Ersuchen erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 20. März 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Auf die Gründe des Bescheides wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2. Am 27. März 2019 erhob der Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg, über die noch nicht entschieden ist (Az.: W 10 K 19.50254).
Zugleich beantragte er im vorliegenden Verfahren,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung nahm der Antragsteller auf die Anhörung beim Bundesamt Bezug und wiederholte im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen. Sein Kind sei in Nigeria entführt worden. Er habe sich das Lösegeld von den bereits erwähnten Freunden geliehen. Das Kind sei dann freigekommen. Sein Kind und dessen Mutter hätten daraufhin Nigeria verlassen und ebenfalls versucht, nach Italien zu gelangen. Sie seien jedoch in Libyen aufgegriffen und inhaftiert worden. Da er derzeit keinen Kontakt mehr zu ihnen herstellen könne, gehe er davon aus, dass sie immer noch im Gefängnis seien. Wegen der Sorgen um seine Freundin und sein Kind könne er kaum noch schlafen und seine Gedanken kreisten nur noch darum. Er komme überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Deshalb sei ihm eine Rückkehr nach Italien nicht zumutbar.
3. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 20. März 2019 ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag ist zulässig.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist statthaft, soweit er sich gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids richtet (§ 88 VwGO). Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 1 VwGO u.a. in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anordnen. Eine Klage gegen die Abschiebungsanordnung entfaltet von Gesetzes wegen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag wurde auch innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 80 Rn. 152; Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 89). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird; ergibt eine Prüfung der Klage in der Hauptsache mit den im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zur Verfügung stehenden Mitteln hingegen, dass diese offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, so ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 90 ff.).
Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung zu Lasten der Antragsgegnerin aus, weil die Erfolgsaussichten der Klage nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung offen sind. Bei der sodann vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt daher das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Vollzugsinteresse.
a) Die Antragsgegnerin stützt die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Absatz 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
b) Vorliegend ist jedoch offen, ob der Asylantrag des Antragstellers nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig ist, weil nicht feststeht, ob der Antragsteller bereits in Italien einen Schutzstatus erhalten hat. Der Umstand, dass einem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, hat ausweislich des ausdrücklichen Wortlauts der Art. 18 Abs. 1 Buchst. a bis d und Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO zur Folge, dass die Vorschriften der Art. 20 ff. Dublin III-VO nicht anwendbar sind und der anerkennende Mitgliedstaat nicht zur Wiederaufnahme des Schutzberechtigten verpflichtet ist (EuGH, B.v. 5.4.2017 – Daher Muse Ahmed, C-36/17 – juris; BVerwG, U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 26; Hailbronner, AuslR, B 2 § 29 AsylG Rn. 131 ff.; Bergmann/Dienelt, AsylG, 12. Auflage 2018, § 29 Rn. 25). Unter diesen Umständen könnte zwar die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Danach ist ein Asylantrag zulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 gewährt hat. Der internationale Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst im Einklang mit Art. 2 Buchst. a) der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz etc. (sog. Qualifikations- oder Anerkennungsrichtlinie, QRL) sowohl die Flüchtlingseigenschaft (Art. 2 Buchst. e) QRL) als auch den subsidiären Schutz (Art. 2 Buchst. g) QRL). § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG trägt dem Umstand Rechnung, dass die ausländische Zuerkennung des internationalen Schutzes Bindungswirkung entfaltet und das Bundesamt zur (erneuten) Zuerkennung eines entsprechenden Schutzstatus weder berechtigt noch verpflichtet ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.9.2015 – 1 B 51.15 – juris Rn. 4, 6; U.v. 17.6.2014 – 10 C 7.13 – juris Rn. 26, 29; BayVGH, U.v. 13.12.2016 – 20 B 15.30049 – juris Rn. 32). In einem solchen Falle darf allerdings keine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG ergehen. Vielmehr wäre unter solchen Umständen gemäß §§ 34 Abs. 1, 35, 36 Abs. 1 AsylG die Abschiebung in den Mitgliedstaat anzudrohen, in welchem der Antragsteller vor Verfolgung sicher ist, d.h. hier nach Italien (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.12.2018 – W 10 K 17.33394 – juris; B.v. 9.11.2018 – W 10 S 18.50498 – juris; B.v. 18.4.2018 – W 4 S 18.50123; SächsOVG, B.v. 31.5.2017 – 5 B 19/17.A – juris). Abschiebungsanordnung und -androhung stellen unterschiedliche Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung dar, die nicht teilidentisch sind. Insbesondere ist die Abschiebungsanordnung weder eine spezielle Form der Abschiebungsandrohung, noch ist letztere als Minus in einer Abschiebungsanordnung enthalten (vgl. Bergmann/Dienelt, AsylG, 12. Auflage 2018, § 35 Rn. 5; BVerwG, B.v. 23.10.2015 – 1 B 41.15 – juris Rn. 15 m.w.N.).
c) Hier liegen Umstände vor, welche dafür sprechen, dass dem Antragsteller bereits in Italien internationaler Schutz zuerkannt worden ist. Zwar hat er im Rahmen seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags angegeben, sein in Italien gestellter Asylantrag sei abgelehnt worden. Der Antragsteller konnte jedoch nicht plausibel erklären, weshalb er dennoch über einen italienischen Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeit von zehn Jahren sowie über eine Steuernummer verfügte. Der Vortrag des Antragstellers, dass man in Italien üblicher Weise nach dem Ablauf der für drei Jahre gültigen Aufenthaltserlaubnis einen Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeit von zehn Jahren erhalte, deutet vielmehr darauf hin, dass er über ein Aufenthaltsrecht verfügt, welches international Schutzberechtigten verliehen wird.
Um mit der für die richterliche Überzeugungsbildung im Hauptsacheverfahren erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit beurteilen zu können, ob dem Antragsteller bereits in Italien internationaler Schutz zuerkannt wurde und deshalb die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), bedarf es daher weiterer Sachverhaltsaufklärung (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 21.11.2017 – 1 C 39/16 – juris).
3. Auf dieser Grundlage überwiegt in Anbetracht der Folgen einer rechtswidrigen Vollziehung der Abschiebung nach Italien das Aussetzungsinteresse des Antragstellers derzeit das öffentliche Interesse an einem Vollzug des angefochtenen Bescheids.
Dem Antrag war daher stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.