Aktenzeichen 10 ZB 19.1744
RL 2004/38/EU Art. 16 Abs. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1
Leitsatz
Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt (hat), können nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat beruht (EuGH BeckRS 2014, 80038). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 27 K 17.2608 2019-07-18 VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 23. April 2017 weiter, mit dem diese den Verlust seines Rechts auf Freizügigkeit festgestellt, die Wirkungen der Verlustfeststellung auf fünf Jahre ab Ausreise befristet und seine Abschiebung nach Bulgarien angedroht hat.
Der Antrag ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ergeben.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU als rechtmäßig angesehen. Eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, liege vor. Gemessen an den Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts sei beim Kläger prognostisch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung erneuter Straftaten gegeben. Im besonderen Maße lasse das Verhalten des Klägers nach Erlass der Verlustfeststellung im Jahr 2017 die hohe Wiederholungsgefahr erkennen. Auch nachdem der Kläger Besserung gelobt habe, habe er fortlaufend Straftaten begangen. Er werde auch nach der Haftentlassung im September 2019 wieder Straftaten begehen, da er über kein integratives Umfeld verfüge. Die weiterhin bestehende Heroinabhängigkeit begünstige voraussichtlich die Begehung weiterer Straftaten, da der Kläger die Straftaten größtenteils im Zusammenhang und zur Finanzierung der Heroinabhängigkeit begangen habe. Die Einschränkung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU greife nicht, weil der Kläger kein Daueraufenthaltsrecht erworben habe. Die Kontinuität seines Aufenthalts seit 2014 sei mit Antritt diverser Haftstrafen unterbrochen worden. Die Beklagte habe ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt und die Verlustfeststellung sei auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht als unverhältnismäßig anzusehen.
Mit seinem Zulassungsantrag rügt der Kläger, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Aufenthalt des Klägers durch dessen Haftstrafen unterbrochen worden sei. Er halte sich bereits seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf, so dass für ihn der verstärkte Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gelte. Der EuGH habe klargestellt, dass die Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe, die grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EU unterbrechen, nur zusammen mit weiteren Anhaltspunkten, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Umstände darstellen, von den zuständigen nationalen Behörden bei der gebotenen umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden können. Vorliegend fehle es an einer solchen Beurteilung. Vom Kläger gehe keine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aus. Der Kläger habe keine der in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV aufgeführten Straftaten begangen. Er sei durch eine Vielzahl von Straftaten negativ aufgefallen. Jedoch hätte berücksichtigt werden müssen, dass er keine körperliche Gewalt gegen Dritte angewandt habe und er massiv heroinabhängig sei. Die Beklagte führe überwiegend generalpräventive Gründe für die Verlustfeststellung auf, die Maßnahme müsse sich jedoch auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls stützen. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sei unionsrechtlich eng auszulegen. Die gesundheitliche Situation des Klägers sei nicht ausreichend berücksichtigt worden. Er leide an Hepatitis C. Die gesundheitliche Versorgung in Bulgarien sei dürftig. Es könne nicht ohne weitere Prüfung davon ausgegangen werden, dass der Kläger die notwendige medizinische Versorgung erhalten werde. Mit diesem Vorbringen zieht der Kläger die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung jedoch nicht ernsthaft in Zweifel.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass zugunsten des Klägers die Einschränkung des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU mangels Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU nicht greift. Bei dieser Prüfung ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt (hat), nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden können, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat beruht, und die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung deutlich macht, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, so dass die Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts dem mit der Einführung dieses Aufenthaltsrechts verfolgten Ziels eindeutig zuwider laufen wurde (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2014 – Onuokwere, C-378/12 – juris Rn. 25 und 26; BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris Rn. 23; B.v. 30.9.2019 – 10 C 19.1919 – juris Rn. 8). Der Kläger reiste zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Jahr 2014 in das Bundesgebiet ein und befand sich von 24. Februar 2016 bis 18. August 2017 und danach wieder von 23. Dezember 2018 bis 22. Mai 2019 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Daneben verbüßte er mehrere Ersatzfreiheitsstrafen. Während dieser Zeiträume lag kein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU vor, so dass der 5-Jahreszeitraum für den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU nicht erfüllt ist. Es kommt somit nicht mehr darauf an, ob das Verwaltungsgericht eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zum Zwecke der Feststellung, ob die Haftstrafe zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat geführt habt, vorgenommen hat (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 70, 83; BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 20 zu § 6 Abs. 5 FreizügG/EU). Allerdings hat sich das Verwaltungsgericht entgegen dem Vorbringen des Klägers damit auseinandergesetzt und darauf verwiesen, dass er über keine sozialen oder sonstigen Integrationsstrukturen in der Bundesrepublik verfügt. Der Verweis auf § 6 Abs. 5 FreizügG/EU liegt neben der Sache, da sich der Kläger – unabhängig davon, dass er noch kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat – noch keine zehn Jahre im Bundesgebiet aufhält, so dass er sich nicht auf den erhöhten Anforderungen dieser Vorschrift für eine Verlustfeststellung berufen kann.
Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage daher in § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU. Danach kann die zuständige Behörde den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit feststellen. Bei einer strafrechtlichen Verurteilung muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung sind die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange zu berücksichtigen. Auf das Vorbringen des Klägers zu § 6 Abs. 5 FreizügG/EU und das Vorliegen besonders schwerwiegender Gründe oder zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit kommt es somit nicht an. Ebenso wenig ist Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV entscheidungserheblich.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die den zahlreichen Straftaten des Klägers zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Auch wenn es sich bei den vom Kläger überwiegend begangenen Straftaten „nur“ um Diebstähle handelt, ist eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU dem Grunde nach gerechtfertigt. Der Kläger hat durch die zahlreichen Ladendiebstähle fortwährend gegen die grundrechtlich geschützte Wertordnung (Art. 14 Abs. 1 GG) verstoßen, und in einer ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden Weise die öffentliche Ordnung gefährdet. Die Ladendiebstähle hat er gewerbsmäßig und damit in schwerwiegender Weise begangen, um sich eine laufende Einnahmequelle zur Finanzierung seiner Heroinsucht zu verschaffen bzw. seinen Lebensunterhalt zu sichern. Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist auch nicht, wie der Kläger meint, erst bei Gewalttaten oder anderen schweren Verbrechen berührt (BayVGH, B.v. 5.8.2019 – 10 ZB 18.1174 – juris Rn. 8). Zudem ist er u.a. auch wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden.
Diese tatbestandsmäßige Gefährdung besteht auch noch gegenwärtig fort. Entgegen dem Vorbringen im Zulassungsantrag ist die Verlustfeststellung nicht überwiegend auf generalpräventive Erwägungen gestützt. Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass aufgrund der zahlreichen vom Kläger begangenen Straftaten, der Fortsetzung seines deliktischen Verhaltens auch nach der Verbüßung einer längeren Strafhaft und der nicht therapierten Drogensucht auch für die Zukunft eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer Straftaten gegeben ist. Dem ist der Kläger im Zulassungsvorbringen nicht entgegen getreten. Die Tatsache, dass der Kläger heroinabhängig ist, lässt die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Denn gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12).
Soweit der Kläger vorbringt, das Verwaltungsgericht habe seine Hepatitiserkrankung nicht ausreichend berücksichtigt, trifft dies nicht zu. Bei der nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu treffenden Ermessensentscheidung ist auch der Gesundheitszustand des Betroffenen zu berücksichtigen. Der Vortrag zu einer angeblich bestehenden Hepatitiserkrankung erfolgte allerdings erst in der mündlichen Verhandlung und wurde nicht durch ein ärztliches Attest belegt, so dass die Erkrankung noch keinen Eingang in die von der Beklagten zu treffende Ermessensentscheidung finden konnte.
Die Behandelbarkeit der Erkrankung im Heimatland ist dagegen kein abwägungsrelevanter Belang im Rahmen der Verlustfeststellung, sondern erst im Rahmen der Abschiebung als Abschiebungshindernis zu prüfen. Im Übrigen hat der Kläger die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach die Behandlungskosten in Bulgarien für eine lebensrettende Versorgung durch die Bürgerversicherung übernommen werden, mit seinem Zulassungsvorbringen nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).