Aktenzeichen 10 ZB 18.2467
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
Leitsatz
1.. Auch Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung sowie Diebstahls von jeweils nur einigen Monaten Freiheitsstrafe können im Einzelfall die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts rechtfertigen. (Rn. 6 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist nicht erst bei Straftaten erfüllt, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zweieinhalb Jahren geführt haben. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat die Straffälligkeit ihre Ursache in einer Suchtmittelabhängigkeit oder wurde sie dadurch gefördert, so kann ohne die erfolgreiche Absolvierung einer entsprechenden Therapie nicht vom Wegfall der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 25 K 18.3372 2018-10-10 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Juni 2018 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für (zuletzt) drei Jahre untersagt und ihm unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Polen angedroht wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine zur Zulassung der Berufung führenden Gründe gemäß § 124 Abs. 2 VwGO.
Der Kläger benennt keinen der in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Zulassungsgründe. Seine Darlegungen in der Begründung des Zulassungsantrags können allerdings dahin ausgelegt werden, dass er ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend machen will.
Er trägt vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, dass aus den von ihm begangenen Straftaten ein persönliches Verhalten zu erkennen sei, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung sei tatsächlich nicht gegeben. Er habe lediglich eine Straftat begangen, die einen solchen Schluss möglicherweise zulasse, nämlich die Körperverletzung, die bereits 2014 vorgefallen sei. Diese Straftat habe jedoch nicht die Öffentlichkeit berührt, da ihr Hintergrund ein Streit unter miteinander bekannten Personen um Arbeitslohn gewesen sei. Bei allen weiteren Straftaten habe es sich um kleinere Diebstähle gehandelt. Diese seien sicherlich für die jeweiligen Betroffenen unangenehm, bedeuteten jedoch keine schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Diese nicht die Allgemeinheit gefährdenden Straftaten seien mit dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht abzuwägen. Es sei zu seinen Gunsten zu unterstellen, dass er sein Alkoholproblem in den Griff bekomme; unabhängig davon sei aber auch ein Alkoholiker freizügigkeitsberechtigt.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt durch die Beklagte rechtmäßig ist.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU), wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris). Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU). Gemessen an diesen Vorgaben begründet das Vorbringen des Klägers keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung.
Der Kläger ist mit Urteil vom 24. Februar 2017 wegen gefährlicher Körperverletzung und Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten auf Bewährung sowie mit Urteil vom 12. Oktober 2017 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten (ohne Aussetzung zur Bewährung) und mit Urteil vom 16. März 2018 wegen Diebstahls in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten (ebenfalls ohne Aussetzung zur Bewährung) verurteilt worden. Die diesen Verurteilungen zu Grunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU). Der Kläger verharmlost und bagatellisiert in seiner Darstellung diese Straftaten. Bei dem Köperverletzungsdelikt handelte es sich nicht nur um eine Auseinandersetzung unter Bekannten um ausstehenden Arbeitslohn. Das Strafgericht stellte vielmehr hohe kriminelle Energie und mehrere massive Körperverletzungshandlungen fest; der Kläger hatte dem Opfer zunächst mehrfach ins Gesicht geschlagen und diesem danach noch gemeinsam mit einem Mittäter mehrfach gegen den Kopf und den Körper getreten. Bei den Diebstählen handelte es sich um das Entwenden von verschiedenen Kleidungsstücken, persönlichen Gegenständen und Getränken aus einem Wohnheimzimmer sowie um zwei Ladendiebstähle. Es geht hier also nicht lediglich um „Kleinkriminalität“, wie der Kläger meint, sondern um ein die Gesellschaft schädigendes Verhalten. Dies zeigt sich schon an der erheblichen Brutalität der begangenen Körperverletzung und auch an den unbeeindruckt durch eine laufende Bewährung oder durch bereits verbüßte Untersuchungs- bzw. Strafhaft in rascher Folge begangenen Diebstählen. Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist auch nicht, wie der Kläger meint, erst bei Straftaten erfüllt, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zweieinhalb Jahren geführt haben; eine derartige Grenze lässt sich der gesetzlichen Regelung nicht entnehmen. Damit werden vielmehr Ordnungswidrigkeiten und kleinere Straftaten, wie etwa Verkehrsdelikte, als Basis einer Verlustfeststellung ausgeschieden (vgl. Kurzidem in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.8.2019, § 6 FreizügG/EU Rn. 12; Hailbronner, AuslR, Stand April 2019, D 1 § 6 Rn. 32 ff.). Ein Grundinteresse der Gesellschaft liegt jedenfalls in dem Schutz der Bürger vor Gewalttaten und dem Schutz vor Diebstählen, vor allem im persönlichen Lebensbereich, aber auch im Fall von – teilweise erhebliche Schäden verursachenden – Ladendiebstählen.
Auch die Prognose des Verwaltungsgerichts, dass von ihm gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, kann der Kläger nicht erschüttern. Das Verwaltungsgericht hat seine Einschätzung, dass er nach Entlassung aus der Haft mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in kurzer Zeit erneut in erheblichem Umfang Straftaten begehen werde, zum einen auf die rasche Folge von Straftaten des Klägers, zum Teil in offener Bewährung und nur kurze Zeit nach Entlassung aus der Haft, gestützt. Weiter hat es insoweit sein ungelöstes Alkoholproblem angeführt, da er nach den Feststellungen in den Strafurteilen jeweils durch Alkoholisierung enthemmt gehandelt hatte. Der Kläger bringt insofern lediglich vor, man müsse zu seinen Gunsten unterstellen, dass er sein Alkoholproblem in den Griff bekomme. Hat jedoch, wie beim Kläger, die Straffälligkeit ihre Ursache in einer Suchtmittelabhängigkeit, oder wurde sie dadurch – etwa durch alkoholbedingte Enthemmung – gefördert, so kann ohne die erfolgreiche Absolvierung einer entsprechenden Therapie nicht vom Wegfall der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 8). Das Verwaltungsgericht weist zu Recht darauf hin, dass die erzwungene Abstinenz in der Haft die aufgrund des ungelösten Alkoholproblems bestehende Wiederholungsgefahr nicht beseitigt.
Auch die Ermessensentscheidung (vgl. Kurzidem in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.8.2019, § 6 FreizügG/EU Rn. 33) der Beklagten ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, auch unter Würdigung der in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange nicht zu beanstanden. Hierzu bringt der Kläger nichts vor. Sollte man seinen Hinweis, dass auch ein Alkoholiker freizügigkeitsberechtigt sei, so verstehen, dass er auf die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange Bezug nimmt, ist dem entgegenzuhalten, dass das Verwaltungsgericht das Alkoholproblem bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung nicht erwähnt hat. Es hat hierauf lediglich bei der Begründung der Gefahrenprognose hinsichtlich vom Kläger weiterhin drohender alkoholbedingter oder alkoholbeeinflusster Straftaten Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren war abzulehnen, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).