Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an syrische Kurdin aus Aleppo

Aktenzeichen  W 2 K 18.30062

Datum:
9.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 9416
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 83b

 

Leitsatz

1 Begründete Furcht vor Verfolgung kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer “quantitativen” Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für den Eintritt eines bestimmten Ereignisses besteht. (Rn. 18) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Entgegen der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. BayVGH BeckRS 2016, 115156) ist aufgrund der aktuellen Erkenntnislage davon auszugehen, dass Sicherheitskräfte bei den Kontrollen von wiedereinreisenden Syrern sich nicht an die in Syrien geltenden Gesetze gebunden sehen. Weiterhin ist anzunehmen, dass der syrische Staat das Stellen eines Asylantrags in Verbindung mit einem Aufenthalt im westlichen Ausland generell als Ausdruck einer regimekritischen Gesinnung ansieht und zum Anknüpfungspunkt für Festnahmen und Folter nimmt.  (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Gefahrerhöhende Umstände ergeben sich für Asylbewerber durch die von den syrischen Einreisebehörden praktizierte Sippenhaft, beispielsweise im Hinblick auf den Militärdienstentzug eines ebenfalls geflüchteten, männlichen Familienangehörigen. (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Sowohl die kurdische Volkszugehörigkeit wie auch die Herkunft aus der Rebellenprovinz Aleppo stellen bei einer Wiedereinreise nach Syrien gefahrerhöhende Umstände dar. (Rn. 23 – 24) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid vom 2. Januar 2018 (Gz. 7288396 – 475) wird in Ziffer 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 16. Januar 2018 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Juni 2017 vor.
Da der Verpflichtungsantrag sich alleine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bezieht, ist auch die damit verbundene Anfechtung von Ziffer 2 des verfahrensgegenständlichen Bescheides dahingehend auszulegen, dass sie nur soweit reichen soll, wie Ziffer 2 einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht. Die Ablehnung des klägerischen Antrags auf Zuerkennung der Asylberechtigung ist mithin nicht Klagegegenstand.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz Asylgesetz (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl. I 2008, 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2017 (BGBl I 2017, 2780), ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidungsfindung maßgeblich.
Die Klage ist zu diesem Zeitpunkt sowohl zulässig, als auch begründet.
Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. Sie befindet sich nach Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen ihrer vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens.
Zwar ist die Klägerin – auch nach eigenem Vortrag – unverfolgt ausgereist. Jedoch droht ihr zur Überzeugung des Gerichts auch ohne Vorverfolgung bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn der Klägerin bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihr nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Klägerin nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach diesem Maßstab und der Erkenntnislage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ist es zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK).
Gerade im Hinblick auf die aktuelle Erkenntnislage geht das Gericht – offenbar anders als der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – nicht davon aus, dass sich die Sicherheitskräfte bei den Kontrollen von wiedereinreisenden Syrern an die in Syrien geltende Gesetzeslage gebunden gehen. So ist das Gericht weiterhin davon überzeugt, dass der syrische Staat auch gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags in Verbindung mit einem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland generell als Ausdruck einer regimekritischen Gesinnung sieht und zum Anknüpfungspunkt für Festnahme und Folter nimmt. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in seinen Urteilen vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16.30364, 21 B 16.30372) davon aus, dass im Fall einer Rückkehr nach Syrien die Wiedereinreisenden im Rahmen einer strengen Einreisekontrolle durch verschiedene Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden (BayVGH, a.a.O.). Die Sicherheitsbeamten würden dabei auch Einblick in die Computerdatenbanken nehmen, um zu prüfen, ob die Wiedereinreisenden von den Behörden gesucht würden. Es könne davon ausgegangen werden, dass die Sicherheitskräfte eine „carte blanche“ hätten, um zu tun, was immer sie tun wollen, wenn sie jemanden aus irgendeinem Grund verdächtigen würden (vgl. BayVGH, a.a.O., m.w.N.). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass die syrischen Sicherheitskräfte bei zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerbern selektiv vorgehen und erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung begründen. Erst dann hätten – so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – die für eine Verfolgungsgefahr sprechenden Gründe größeres Gewicht als die dagegen sprechenden Gründe.
Da im Fall der Klägerin signifikante, gefahrerhöhende Umstände im Sinne der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vorliegen, kommt es hier nicht darauf an, ob den aktuellen Erkenntnismitteln eine andere – weitergehende – Risikobewertung zu entnehmen ist.
Die gefahrerhöhenden Umstände ergeben sich im Fall der Klägerin durch die von den syrischen Einreisebehörden praktizierte Sippenhaft im Hinblick auf den Militärdienstentzug ihres ebenfalls geflüchteten, militärdienstpflichtigen Mannes. Ihr Ehemann M* … … …, geboren am … … 1972, ist zwar schon 45 Jahre alt. Allerdings ist davon auszugehen, dass der syrische Staat wegen des lang anhaltenden Kriegs einen erhöhten Rekrutierungsbedarf hat und so auch vor älteren Jahrgängen nicht Halt macht. Der Name des Ehemannes steht daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf den Fahndungslisten der syrischen Einreisebehörden. Dies bringt für die Klägerin eine signifikant gesteigerte Gefahr mit sich, bei einer unterstellte Wiedereinreise als deren nahe Angehörige erkannt, verhaftet und gefoltert zu werden. So weist auch die vierte aktualisierte Fassung der UNHCR-Erwägungen zum „Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ von November 2015 darauf hin, dass – bleibt eine Fahndung nach einem Regierungsgegner bzw. einer Person, die man für einen Regierungsgegner hält, erfolglos – die Sicherheitskräfte dazu übergehen, die Familienangehörigen einschließlich der Kinder der betreffenden Person festzunehmen oder zu misshandeln. Auch das Auswärtige Amt hält in seiner Auskunft vom 13. September 2017 an das Verwaltungsgericht Köln negative Konsequenzen für in Syrien verbliebene Familienmitglieder von Wehrdienstflüchtigen wegen der vom Regime praktizierten Sippenhaft nicht für ausgeschlossen.
Gefahrerhöhend kommt ihre Herkunft aus der – bis zur Rückeroberung durch das syrische Regime – als Rebellenhochburg geltenden Provinz Aleppo hinzu. Wie sich auch aus den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof herangezogenen Informationen der kanadischen Immigrations- und Flüchtlingsbehörde ergibt, hat allein die Herkunft aus einer bestimmten Region bei der Rückkehr eines Asylbewerbers im August 2015 zu einer Aussonderung durch die syrischen Regierungsbeamten am Flughafen Damaskus geführt, die in einer 20tägigen Haft mit Folterungen mündete (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR105361.E vom 19.1.2016, S.6).
Weitere gefahrerhöhenden Umstände ergeben sich im Fall der Klägerin aus ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit. So sind nach Angaben des deutschen Orient-Instituts Kurden in von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten aufgrund eines Generalverdachts negativen Maßnahmen ausgesetzt (vgl. dt. Orient-Institut, Stellungnahme an das OVG Schleswig Holstein vom November 2016). Denn nach den tagesaktuellen Berichten in den Medien eskaliert die Gewalt in den kurdischen Gebieten und die Tendenz der Kurden zur Separation nimmt zu. Daher ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer zunehmenden Verfolgung der Kurden durch den syrischen Staat auszugehen.
Selbst wenn man also die restriktiven Maßstäbe des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (a.a.O.) anlegt, besteht für die Klägerin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, im Fall einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus von staatlichen Stellen wegen einer (unterstellten) oppositionellen Gesinnung verfolgt zu werden.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht der Klägerin nicht zur Verfügung, da sie bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus keinen (möglicherweise) sicheren Landesteil sicher und legal erreichen kann, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG.
Die Klägerin erfüllt damit die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihrer Klage ist stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

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