Aktenzeichen V R 48/09
§ 355 AO
Art 10 Abs 1 EG
Art 13 Teil B Buchst f EWGRL 388/77
§ 155 AO
§ 227 AO
Art 3 Abs 1 GG
§ 172 AO
§§ 172ff AO
§§ 130ff AO
§ 118 AO
§ 110 AO
§ 125 Abs 1 AO
Verfahrensgang
vorgehend FG Münster, 13. August 2009, Az: 5 K 2784/07 U, Urteilnachgehend BVerfG, 29. Mai 2012, Az: 1 BvR 1395/11, Nichtannahmebeschluss
Tatbestand
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I. Streitig ist, ob dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) ein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre (1993 bis 1996) zusteht.
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Der Kläger betrieb in den Streitjahren eine Spielhalle und führte dort Umsätze durch den Betrieb von Glücksspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit aus.
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In den Umsatzsteuerbescheiden für die Streitjahre wurden diese Umsätze, den Steuererklärungen des Klägers folgend, vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) als umsatzsteuerpflichtig behandelt.
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Mit Urteil vom 17. Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C-453/02 und C-462/02, Linneweber und Akritidis (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94), dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) unmittelbare Wirkung zukomme, so dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten auf die Steuerfreiheit dieser Umsätze berufen könne. Bei Ergehen dieses Urteils lag für alle Streitjahre bereits Festsetzungsverjährung nach den Bestimmungen der Abgabenordnung (AO) vor. Die Einspruchsfrist für die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerjahresbescheide war bereits seit mehr als einem Jahr abgelaufen.
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Mit Schreiben unter dem 16. März 2005 legte der Kläger Einspruch gegen die für die Streitjahre ergangenen Umsatzsteuerfestsetzungen ein und machte die Steuerfreiheit für die Umsätze mit Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit geltend.
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Das FA verwarf die Einsprüche wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen erhobene Klage zum Finanzgericht (FG) hat das FG abgewiesen.
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Hiergegen richtet sich die Revision. Der Kläger rügt die Verletzung materiellen Bundesrechts sowie des Unionsrechts. Er regt an, dem EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens folgende Fragen vorzulegen:
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“1. Kann sich ein Steuerpflichtiger gegenüber dem Finanzamt erfolgreich darauf berufen, dass die Europarechtswidrigkeit einer steuergesetzlichen Norm des nationalen Rechts durch den EuGH festgestellt worden ist, wenn nach nationalem Recht die Vorschrift der Bestandskraft entgegenstünde?
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2. Gilt dies insbesondere dann, wenn die Umsetzung einer Richtlinie fehlerhaft geschehen ist, sodass dem Steuerpflichtigen nicht offenbart wurde, dass eine Abweichung des Gemeinschaftsrechts vom nationalen Recht vorlag und der Steuerpflichtige durch diese Unwissenheit nicht in der Lage war, seine Rechte innerhalb der nationalen Frist geltend zu machen?
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3. Ist es für die Zumutbarkeit eines Rechtsbehelfs im Sinne der Entscheidung des EuGH vom 24. März 2009 C-445/06, Danske Slagterier von Relevanz, ob es sich um einen Eingriff handelt, der sich für den Bürger als ungewöhnlich oder selten darstellt, oder ob es sich um einen Eingriff handelt, der bereits vor Inkrafttreten der betreffenden verletzten Richtlinie durchgeführt wurde und auch bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wird, sodass der Bürger keinen Anlass einer besonderen Prüfung erkennen kann, wie dies bei der Umsatzsteuerveranlagung der Fall ist und wirkt sich dies bejahendenfalls auf die Zumutbarkeit aus?
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4. Muss der Steuerpflichtige –entgegen der Aussage in der Sache Emmott vom 25. Juli 1991 C-208/90– die Richtlinien der EG kennen, auf denen nationale Gesetze beruhen, die für ihn anwendbar sind?
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5. Falls Frage 3 (gemeint: 4) zu bejahen ist, stellt sich Frage 4 (gemeint: 5): Macht es für den Beginn oder für die Länge der Rechtsmittelfrist einen Unterschied, dass das nationale Recht voraussetzt, dass der Bürger die nationalen Rechtsvorschriften zumindest kennen muss, er die Vorschriften der EG-Richtlinien aber nicht kennen muss und nicht kennt (Verstoß gegen den Grundsatz der Effektivität)? Ist der kurze Lauf der Rechtsmittelfrist deshalb im nationalen Recht angemessen, weil Kenntnis vorausgesetzt wird? Bedeutet dies dann, dass beim Verstoß gegen europarechtliche Richtlinien eine längere Frist oder mangels anwendbarer Regelungen des nationalen Rechts gar keine Frist läuft?
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6. Kann der Steuerpflichtige trotz entgegenstehender Bestandskraft nach nationalem Recht Rückzahlung der zu Unrecht vereinnahmten Steuer verlangen?
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7. Unter welchen Voraussetzungen kann der Steuerpflichtige eine entsprechende Rückzahlung verlangen?”
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Der Kläger beantragt,
das FG-Urteil sowie die Einspruchsentscheidung vom 1. Juni 2007 aufzuheben und die angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen 1993 bis 1996 in der Weise zu ändern, dass die Umsätze aus Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit steuerfrei belassen und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuern nicht berücksichtigt werden,
hilfsweise den Streitfall dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
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Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.